Vierzehn
 
 
 
 
 
Wir blieben, umschwirrt von mit Getränken und Knabbereien beladenen schwebenden Tabletts, zusammen mit den anderen Splitterlingen, den Gästen und ymirischen Politikern auf dem Landedeck, bis es kühl wurde. Die meisten anderen Splitterlinge hielten sich schon seit Jahren auf Ymir auf, doch Campion und ich waren nur Tage subjektiver Zeit vom Reunionssystem entfernt. Daher schmerzte die seelische Wunde noch und ließ sich auch nicht mit munterem Geplauder und wohlfeilem Trost vergessen machen. In einem rastlosen Moment entfernte ich mich von der Menge und pflanzte meine Füße dicht an den ungeschützten Rand des Decks. Mein Blick reichte weit hinab bis zum schrägen Finger der Güte und noch weiter bis zu den funkelnden, sich unablässig verlagernden Dünen in der Tiefe.
»Wenn du die Ohren spitzt, kannst du sie singen hören«, sagte Campion leise, denn er war mir gefolgt.
»Ich höre nichts außer dem Partylärm.«
»Sie gehen allmählich rein. Bald werden nur noch ein paar Nachzügler wie du und ich hier draußen sein.«
»Hast du bei Betonie die Wogen geglättet?«
Campion grinste. »Glaub schon. Er meint, er wird darauf achten, dass der Elefant nur zu manipulierten Datenspeichern Zugang erhält, doch das machen sie schon die ganze Zeit. Sie werden noch ein paar Anpassungen vornehmen müssen, um den Versprecher mit dem Sternendamm auszubügeln, aber das sollte keine Schwierigkeit darstellen.«
»Sie sollten es ihm einfach sagen. Es ist nicht nett, ihn im Unklaren zu lassen.«
»Betrachte es mal von ihrem Standpunkt.«
»Er würde sich bestimmt nicht in die Luft sprengen.«
»Ich weiß nicht. So was soll schon vorgekommen sein.«
»In der galaktischen Geschichte findet sich für alles ein Präzedenzfall. Jedes denkbare Ereignis hat schon mindestens einmal stattgefunden. Das macht es aber noch lange nicht wahrscheinlich, dass es sich hier und jetzt wiederholen wird.«
»Na schön – dann sag du es ihm. Ich fliege vorher in den Orbit hoch und schaue mir das Feuerwerk von oben an.«
»Und mich willst du hier zurücklassen?«
Campion drückte mir die Hand. »Nicht wirklich.«
Nach einer Weile sagte ich: »Was hältst du von den beiden Robots?«
»Ich bin froh, dass sie da sind. Jetzt, da Kadenz und Kaskade involviert sind, bedeutet dies, dass nicht nur die Familie Gentian angegriffen wurde. Wenn das Maschinenvolk sich betroffen fühlt, können wir auf seine Unterstützung zählen. Und ich möchte es lieber auf meiner Seite denn als Gegner haben.«
»Ich habe eigentlich eher an ihre Haltung gegenüber Hesperus gedacht.«
»Wie meinst du das?«
»Glaubst du wirklich, sie wollen ihm helfen?«
»Das haben sie jedenfalls gesagt, oder nicht?«
Ich zog meinen Umhang fester zusammen, denn es war spürbar kalt geworden. »Ich weiß nicht. Woher wollen wir wissen, dass sie ihn nicht einfach demontieren werden, anstatt ihn wieder instandzusetzen?«
»Wenn die Instandsetzung keine realistische Möglichkeit ist, wäre die Demontage die einzige Alternative. Dann hätten wir wenigstens Zugang zu den Informationen, die er vor der Amnesie gespeichert hat.«
»Aber er ist unser Freund, Campion. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie er auseinandergenommen und recycelt wird.«
»Er ist eine Maschine. So verfährt man nun mal, wenn sie kaputt sind.«
»Das ist die kaltschnäuzigste Äußerung, die du je getan hast.«
»Es ist ja nicht so, dass es mir gleichgültig wäre«, fuhr Campion hastig fort, »aber wir müssen realistisch sein. Wer hat größere Aussichten, ihn wiederherzustellen – das Maschinenvolk, also die Zivilisation, der er angehört, oder eine nebulöse Wesenheit, die als Luftgeist bezeichnet wird und über die wir so gut wie nichts wissen?« Er schüttelte den Kopf. »Und außerdem – sind wir nicht ein bisschen voreilig? Sie haben ihn sich doch noch gar nicht angeschaut. Sollen wir nicht abwarten, was sie dazu zu sagen haben?«
»Kadenz und Kaskade sind nur zwei Robots. Vielleicht wissen sie ja, wie man ihn wiederherstellen könnte, verfügen so weit vom Monoceros-Ring entfernt aber nicht über die erforderlichen Möglichkeiten.«
»Dann sollten wir zulassen, dass sie ihn nach Hause bringen.«
»Campion, er hat uns eine Nachricht übermittelt. Er hat sich bezüglich Neume unmissverständlich ausgedrückt. Dass Kadenz und Kaskade hier sein würden, konnte er nicht wissen, aber er wusste über den Luftgeist Bescheid.«
»Hätte er von den beiden Robots gewusst, hätte er uns gebeten, ihn ihrer Obhut anzuvertrauen. Das sind Robots, genau wie Hesperus. Sie werden schon wissen, was für ihn das Beste ist. Er wollte, dass wir seine Notizen und die Zeichnung an sein Volk übergeben.«
»Das ist nicht das Gleiche, als wenn er gesagt hätte, wir sollen ihn in ihre Obhut geben.«
»Darüber können wir die ganze Nacht streiten, ohne zu einer Einigung zu kommen. Außerdem ist es sinnlos, über den Luftgeist zu spekulieren, solange wir nicht mit der Magistratin gesprochen haben. Wenn ich sie richtig verstanden habe, war sie nicht sonderlich begeistert von der Idee, uns unmittelbaren Zugang zum Geist zu gewähren.«
»Wir sind eine Familie«, sagte ich. »Beim ersten Mal fragen wir höflich um Erlaubnis. Aber was wir nicht bekommen, das nehmen wir uns. So haben wir es immer schon gehalten. Das erwartet man von uns.«
»Dass wir kleinere Kulturen herumkommandieren, meinst du wohl?«
»Uns gibt es schon so lange, da haben wir uns das Recht dazu verdient.« Ich stöhnte insgeheim, wie ich mir so zuhörte. Das waren genau die Sprüche, auf die ich mit Abscheu reagierte, wenn andere Splitterlinge sie von sich gaben, denn die Vorstellung, dass wir in dem Moment, da Diplomatie und Überredungskunst versagten, Gewalt anwendeten oder andere herumkommandierten, wie Campion es formuliert hatte, war mir im Grunde zuwider. Doch ich dachte dabei nur an Hesperus. Ich wollte mich von nichts und niemandem daran hindern lassen, ihn ins Leben zurückzuholen.
»Hör mal«, sagte Campion. »Es hat angefangen.«
»Was?«
»Die Musik. Das Lied der Dünen.«
Jetzt auf einmal hörte ich sie, obwohl das Geräusch schon seit Minuten stärker geworden sein musste, bis es irgendwann die Hörschwelle überschritten hatte. Wie Campion vorausgesagt hatte, waren die meisten Feiernden in den Turm gegangen. Zurückgeblieben waren nur etwa ein Dutzend Personen, von denen die meisten schwiegen. Das Geräusch war leise und fremdartig, ein klagendes, tiefes Summen, das wie eine Sirene ganz langsam anschwoll und wieder abfiel.
»Ist das der Wind?«, flüsterte ich andächtig.
»Nein. Es funktioniert dann am besten, wenn es beinahe windstill ist.«
»Du warst doch noch nie hier.«
»Aber ich war schon auf Dünenwelten. Du auch, aber wahrscheinlich nicht zum richtigen Zeitpunkt. Wie du siehst, gibt es viele Erfahrungen, die wir noch nicht gemacht haben. Deshalb leben wir weiter.«
»Aber wenn es nicht der Wind ist …«
»Es hat mit Lawinen zu tun«, sagte Campion im gleichen respektvollen Flüsterton. »Der Sand beginnt dicht unter der Außenfläche nach unten zu rutschen. Die genaue Bezeichnung für diesen Dünentyp lautet Barchan – nur Sicheldünen bieten die Voraussetzungen für den Gesang. Die nach unten gleitenden Sandkörner geraten mit der Außenschicht in Resonanz. Sie beginnt zu schwingen, wie ein riesiges Trommelfell. Die Schwingungen wirken auf die gleitenden Sandkörner zurück und synchronisieren deren Eigenschwingungen. Die Membran vibriert daraufhin noch heftiger und versetzt die Luftmoleküle in Schwingung. Dann ertönt eine Art Musik.« Nach einer Weile sagte er: »Wundervoll, nicht wahr?«
»Wunderschön und auch ein bisschen unheimlich.«
»Wie alle guten Dinge im Universum.« Nach kurzem Schweigen sagte er: »Ich habe gerade eben mit Miere gesprochen.«
»Du hast schon immer ein Auge auf sie geworfen.«
»Aber ich habe sie nicht angerührt. Sie hat eine Bemerkung gemacht, die mich nachdenklich gestimmt hat. Wir haben im Moment viel um die Ohren – Hesperus, die beiden anderen Robots, Grilse und die übrigen Gefangenen, der Angriff auf die Familie und die Gefahr einer Entdeckung. Selbst nach den Maßstäben der Familie sind das genug Sorgen für ein ganzes Leben. Trotzdem sind wir immer noch am Leben. Wir sind am Leben und haben noch Freunde und einen Ort, wo wir unterkommen können. Es ist ein wundervoller Abend, und die Dünen von Neume singen uns ihr Lied. Das sind nicht irgendwelche alten Dünen, weißt du. Das sind die Überreste der Megastrukturen der Versorger, die vom Himmel gefallen sind. Die funkelnden Überreste einer ausgestorbenen Zivilisation, die Relikte von Intelligenzen, die sich für Götter hielten, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick nach galaktischem Maßstab, geben uns ein Ständchen. Wie fühlst du dich dabei?«
»Als würde ich zu spät leben«, sagte ich.
 
Die Splitterlinge frühstückten gemeinsam auf einer Terrasse nahe der zwiebelförmigen Spitze des Gebäudes. Die Terrasse war teilweise offen, nur die eine Hälfte wurde von einem Kuppeldach überdeckt. Ymir erstreckte sich in alle Richtungen; unaufhörlich flitzten Flugapparate und geflügelte Einheimische zwischen den Türmen hin und her. Brücken und Hochpromenaden waren mit bunten Fahnen geschmückt. Die Luft war angenehm frisch, und ich fühlte mich nach dem ausgiebigen Schlaf erholt. Die Planetenrotation war an den Familien-Standardtag angepasst worden, und da wir uns nahe der Tagundnachtgleiche befanden, war es auf Ymir fast zwölf Stunden lang dunkel gewesen.
Campion und ich trafen gemeinsam am Frühstückstisch ein. Dieser war quadratisch, mit zwölf bis fünfzehn Sitzplätzen an jeder Seite. In der Mitte des Tisches rotierte eine Projektion der Galaxis. Zu essen und zu trinken gab es in Hülle und Fülle. Man hatte uns benachrichtigt, wann das Frühstück beginnen würde, doch die anderen waren offenbar schon vor einer ganzen Weile eingetroffen. Als wir dazukamen, waren nur noch zwei einander gegenüber liegende Sitzplätze frei. Verdutzt hielten wir inne, uns bei den Händen haltend.
»Ich mache euch Platz«, sagte Bartsia, die zufällig neben einem der freien Stühle saß. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, und raffte bereits ihr Kleid.
»Das ist nicht nötig«, sagte Medicago mit amüsiertem Unterton. »Campion und Portula haben bestimmt nichts dagegen, getrennt zu sitzen – ebenso wenig wie der Rest von uns. Oder irre ich mich?«
»Ist schon gut«, sagte ich zu Bartsia. »Du kannst sitzen bleiben. Trotzdem danke.«
Ich setzte mich neben sie, während Campion zwischen Bilse und Karde Platz nahm.
Betonie, der seitlich von uns saß, hob ein Glas Orangensaft an die Lippen. »Habt ihr gut geschlafen, Splitterlinge?«, fragte er zwischen den Schlucken. »War die Unterbringung nach eurem Geschmack?«
»Wir können nicht klagen«, erwiderte Campion.
Jeder von uns hatte mindestens ein ganzes Stockwerk des Turms für sich, unterteilt in mehrere Räume mit hohen Decken, Panoramafenstern und geschwungenen Wänden.
»Ich nehme an, du sprichst auch für Portula?«, sagte Betonie übertrieben freundlich.
»Campion kennt meinen Geschmack«, sagte ich. »Es ist sein gutes Recht, für mich zu sprechen. Übrigens – wir haben zusammen geschlafen. Ihr alle wisst es doch oder ahnt es zumindest, also was soll das Getue?«
»Jetzt, in der dunkelsten Stunde der Familie, solltet ihr wenigstens versuchen, der Tradition treu zu bleiben«, sagte Betonie.
»Als hättest du noch nie einen anderen Splitterling gevögelt«, sagte ich.
»Muss das beim Frühstück sein, Portula? Reiß dich bitte zusammen.«
»Du hast damit angefangen, Betonie, nicht ich.«
Akonit hob beschwichtigend die Hand. »Jetzt gebt doch mal Ruhe. Wir mögen nicht mit allen Details ihrer Beziehung einverstanden sein, aber die Familie hat ihnen sehr viel zu verdanken.«
Betonie machte ein enttäuschtes Gesicht, sagte aber nichts.
»Wenn ihr eine Rüge aussprechen wollt, wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt dafür«, sagte Campion. Unbekümmert nahm er eine Scheibe Brot und riss ein Stück davon ab. Dabei wirkte er so lässig, dass ich vor unangebrachtem Stolz erschauerte. »Allerdings glaube ich, dass ihr dazu zu vernünftig seid. Ja, wir haben gegen die Regeln verstoßen. Aber die Regeln bedeuten im Moment einen Fliegenschiss. Die Familie Gentian, so wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Vielleicht gelingt es uns, auf den Trümmern etwas Neues aufzubauen, aber wir sollten jedenfalls nicht so tun, als hätte das noch große Ähnlichkeit mit der Institution, die Abigail vor sechs Millionen Jahren erschaffen hat.«
»Die Institution unserer Familie verfügt nach wie vor über Legitimität«, sagte Galgant ohne erkennbaren Groll, »doch ich verstehe, was du sagen willst. Campion und Portula sind nicht die einzigen Splitterlinge, die mit dem Gedanken gespielt haben, sich während der Umläufe zusammenzutun. Sie sind bei den Regelverstößen weiter gegangen, als die meisten von uns, aber sie sind nicht allein.«
»An diesem Tisch sitzt niemand, auf den das zutrifft«, sagte Betonie.
Galgant kratzte an der Metalleinfassung seines künstlichen Auges. Es glich einem eisernen Abzeichen, das an seinem Gesicht haftete, mit einem kleinen roten Edelstein in der Mitte. »Mag sein. Aber vielleicht ist es an der Zeit, Vergangenes ruhen zu lassen. Was schadet es schon, wenn man unter Freunden ein bisschen herummacht?«
»Abigail hat das nicht gewollt«, sagte Betonie. »Hin und wieder ein harmloser Fick während der Tausend Nächte – das ist etwas anderes. Das gilt auch für eine gelegentliche Orgie. Aber wir bilden keine Paare. Wir verlieben uns nicht, bekommen keine Kinder und leben anschließend glücklich bis in alle Ewigkeit zusammen. Dafür hat Abigail uns nicht erschaffen.«
»Abigail hat auch an die Flexibilität geglaubt«, sagte Galgant. »Wenn sie heute mit am Tisch säße, könnte es durchaus sein, dass sie sich Portulas und Campions Sichtweise anschließen würde.«
»Das ist deine Privatmeinung«, sagte Betonie.
»Hätten wir uns nicht zusammengetan«, sagte ich, »wären wir beide nicht zu spät zur Reunion gekommen. Dann wären wir vermutlich bei dem Angriff zusammen mit den anderen umgekommen.«
»Da hat sie Recht«, meinte Galgant. »Vielleicht sollten wir unseren kleinen Disput jetzt besser beenden und uns wichtigeren Dingen zuwenden. Ohne Portula und Campions Einsatz wären wir fünf Splitterlinge weniger und hätten keine Gefangenen.« Er wischte sich Brotkrumen von den Lippen. »Wo wir gerade davon sprechen … haben wir uns eigentlich schon über das weitere Vorgehen geeinigt? Es sollte keine Schwierigkeiten bereiten, die drei Gentianer aus der Stasis zu holen, aber was die Gefangenen betrifft, müssen wir vorsichtiger sein. Dann wäre da noch die Frage, wie wir mit ihnen verfahren sollen, sobald sie wach sind.« Er musterte Mezereum, die Akonit gegenüber saß, als habe er kaum ein paar Worte mit ihr gewechselt.
»Mit Erlaubnis der Familie würde ich gern die Befragung leiten«, sagte Mezereum. »Natürlich unter strenger Beobachtung. Aber wir haben sie gefangen genommen und am Leben erhalten, bis Campion uns gerettet hat. Wie dem auch sei, jedenfalls habe ich das Gefühl, dass die Angelegenheit für mich noch nicht abgeschlossen ist.«
»Ich glaube, keiner von uns hat etwas dagegen, dass du die Befragung leitest«, sagte Betonie. »Unter Aufsicht der Familie, wie du selbst es vorgeschlagen hast. Hast du schon einen Plan?«
»Grilse möchte ich mir bis zum Schluss aufheben – ich glaube, von ihm werden wir am meisten erfahren, außerdem ist bei ihm die Wahrscheinlichkeit, dass er das Wiedereintauchen in die Normalzeit überleben wird, am höchsten. Falls ich ihn heil aus der Stasiskammer herausbekomme, votiere ich für außergewöhnliche Verhörmethoden.«
»Für das Tranchieren«, sagte Hederich angewidert.
»Das wäre eine Möglichkeit«, meinte Mezereum achselzuckend.
»Auf die wir seit vielen Umläufen nicht mehr zurückgegriffen haben«, sagte Hederich. »Das gilt bei vielen Schwellenzivilisationen als barbarischer Rückgriff auf das dunkle Zeitalter.«
»Aber nicht bei der Körperschaft, und das allein zählt. Wir würden gegen keine geltenden Gesetze verstoßen.« Etwas Wildes flammte in Mezereums Blick auf. »Wir wurden als Einzige angegriffen und an den Rand der Auslöschung gebracht, nicht irgendwelche anderen Familien oder Schwellenzivilisationen. Da sollen sie ruhig zu spüren bekommen, was Auslöschung bedeutet. Mal sehen, wie lange sie ihre Prinzipien durchhalten. Glaubt ihr wirklich, die Marcellins würden in vergleichbarer Lage auch nur einen Moment zögern, diese Technik gegen uns anzuwenden?«
»Grilse zu foltern ist keine Garantie dafür, dass wir die gesuchten Antworten bekommen«, wandte Hederich ein.
»Das ist keine Folter. Folter ist mit Schmerzen verbunden. Wir werden ihn überhaupt nicht verletzen.«
»Von den ethischen Fragen, die das aufwirft, mal abgesehen – verfügen wir überhaupt über die erforderlichen technischen Mittel?«, fragte Betonie und stützte das Kinn auf die flach aneinandergelegten Hände.
»Ein solcher Apparat lässt sich leicht konstruieren«, sagte Mezereum. »Bauanleitungen müssten in jedem Datenspeicher zu finden sein. Nach allem, was ich bisher von Ymir gesehen habe, wäre ein Nachbau sogar dann möglich, wenn wir uns mit den hiesigen Ressourcen begnügen müssten.« Sie streute sich etwas Zucker auf den Teller. Sie hatte die Frucht bereits in dünne Scheiben geschnitten, so als probe sie den Vorgang des Tranchierens.
»Wir sind uns also einig, dass Mezereum die Befragung leiten soll«, sagte Betonie und blickte Zustimmung heischend in die Runde. »Akonit – ich nehme an, du möchtest ebenfalls dabei sein. Wir werden die übrigen drei Splitterlinge so bald wie möglich aus der Stasis holen, damit auch sie Gelegenheit haben, an der Befragung teilzunehmen. Die anderen werden die notwendige Aufsicht führen. Aber wir sollten Mezereum keine unangemessenen Vorschriften machen. Die meisten von uns haben den Angriff entweder nicht miterlebt oder sind rechtzeitig entkommen. Mezereum und die übrigen Überlebenden haben sich jahrelang in dem Sonnensystem aufgehalten und nur mit knapper Not überlebt. Da sollen sie auch zeigen dürfen, wer hier das Sagen hat.«
Um die Unterhaltung vom Thema Folter und Befragung fortzulenken, sagte ich: »Hat einer von euch seit der Ankunft auf Neume irgendwelche Erkenntnisse zu den Gründen des Angriffs gewonnen?«
»Was sollte anderes dahinterstecken als alter Groll?«, fragte Betonie. »Wir sind nicht die stärkste Familie der Körperschaft und haben viel weniger Einfluss auf dominante Schwellenzivilisationen als manch andere Familie, deshalb können weder Neid noch unterschwellige politische Beweggründe das Motiv gewesen sein. Seit sechs Millionen Jahren kümmern wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten, tun gute Werke, wenn es sich ergibt, bauen hier und da einen Sternendamm, doch ansonsten halten wir uns vom kleinlichen Hickhack des Wandels fern. Wir haben uns nur selten die Hände mit galaktischer Politik schmutzig gemacht, denn wir beobachten lieber und legen Zeugnis ab, anstatt dass wir eingreifen. Die Feinde, die wir uns gemacht haben, sind vermutlich schon vor etlichen Umläufen ausgestorben.«
»Das sind eine Menge Gründe, die dagegen sprechen, dass jemand einen Groll gegen uns hegt«, sagte Campion.
»Dann täuschst du dich in der menschlichen Natur, mein lieber Freund«, sagte Betonie mitleidig. »Die Leute hassen uns einfach deshalb, weil es uns gibt: eine Kraft, die ihre Macht zum Guten einsetzt und sich ans Prinzip wohlwollender Nichteinmischung hält. Allein die Tatsache, dass wir uns nicht die Hände schmutzig gemacht haben und einen makellosen Ruf genießen, ist schon Grund genug, uns zu hassen.«
»Eine andere Familie?«, fragte ich.
Betonie nickte. »Das wäre denkbar, Portula. Eine Familie würde jedenfalls über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügen, um die Waffen zu bauen, die gegen uns eingesetzt wurden. Zumal die Marcellins …«
»Die Marcellins sind seit der Ära der Goldenen Stunde unsere Verbündeten«, wandte ich ein. »Wir haben unseren Sachverstand auf dem Gebiet des Klonens zur Verfügung gestellt, sie haben uns Raumschiffe geliefert. In der ganzen Zeit gab es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie uns feindlich gesinnt sein könnten.«
»Und wenn wir aus einem ganz anderen Grund angegriffen wurden?«, gab Campion zu bedenken.
»Hast du eine Theorie?«, fragte Betonie.
Campion blickte Akonit an. »Vielleicht solltest du es ihm sagen, wenn du es noch für wichtig hältst.«
Akonit hüstelte und trank einen Schluck Wasser. »Das einzig Konkrete, das wir von Grilse erfahren haben, bevor wir ihn in die Stasiskammer sperren mussten, war, dass der Angriff irgendwie mit Campion zu tun haben soll.«
Betonie blinzelte überrascht. »Mit Campion?«
»Das hat er gesagt.«
»Vielleicht hat er gelogen.«
Campion beugte sich vor. »Wir haben darüber nachgedacht. Da ich zur Zeit des Angriffs nicht am Reunionsort war, ist die einzig mögliche Erklärung, dass es sich um etwas handelt, das in dem Strang enthalten war, den ich vor einem Umlauf beigesteuert habe.«
»Niemand glaubt, dass Campion eine Mitschuld trägt«, sagte Mezereum. »Sollte doch jemand dieser Ansicht sein, kann er es mir im Anschluss an das Frühstück erklären. Doch es ist nicht auszuschließen, dass er den Angriff unabsichtlich ausgelöst hat. Falls sein Strang etwas enthalten haben sollte, das bei der darauf folgenden Reunion einen Angriff ausgelöst hat, müssen wir herausfinden, was es war.«
Betonie funkelte Campion an. »Und du hast keine Ahnung, was dieser … Auslöser gewesen sein könnte?«
Campion erläuterte seine Theorie, wonach sein Besuch bei der Vigilanz den Angriff nach sich gezogen haben könnte, und erklärte, dass sowohl Hesperus als auch Doktor Meninx sich beide für die galaktischen Archivare interessiert hätten. »Auf einmal scheinen sich alle für die Vigilanz zu interessieren«, schloss er. »Das Maschinenvolk schickt einen Gesandten los – doch ehe er dort ankommt, wird seine Erinnerung gelöscht. Irgendetwas hat Doktor Meninx’ Neugier geweckt. Und vielleicht hat etwas, das ich von der Vigilanz berichtet habe, den Angriff ausgelöst.«
»Du glaubst, du hättest eine Entdeckung von ungeheurer Bedeutung gemacht, aber erinnerst dich nicht, was das gewesen sein könnte?«
»Vielleicht hat jemand in meinem Strang etwas entdeckt, was ich übersehen habe«, meinte Campion, ohne sich von der amüsierten Skepsis der anderen Splitterlinge aus dem Konzept bringen zu lassen. »Wir müssen uns meinen Strang genau anschauen, wir alle zusammen. Etwas darin hat jemandem geschadet oder eine so große Bedrohung für ihn dargestellt, dass er sich veranlasst sah, uns alle auszulöschen.«
Galgant sagte: »Glaubst du, es handelt sich um jemanden, der an der Reunion teilgenommen hat? Um einen von uns?«
»Die H-Waffen sind an Bord eines Familienschiffs ins System gelangt«, sagte ich. »Eine andere Möglichkeit, unbehelligt in Schussweite zu kommen, gab es nicht. Akonit und Mezereum können das bestätigen.« Ich blickte Akonit an, der resignierend abwinkte. Mezereum nickte knapp.
»Jemand hat gewusst, wo die Reunion stattfinden würde«, fuhr Campion fort. »Das bedeutet, dass der Betreffende Zugang zu geheimen Informationen hatte. Schwingel war zudem überzeugt davon, dass jemand in das Familiennetzwerk eingedrungen ist. Wenn man zwischen den Zeilen liest, kann man den Eindruck gewinnen, er hat bereits vermutet, dass einer von uns in den Angriff verwickelt war. Wenn er jetzt hier bei uns am Tisch säße, würde ich ihm ein paar unangenehme Fragen stellen.«
Miere streifte sich eine blauweiße Haarsträhne aus den dunklen, verträumten Augen und ergriff zum ersten Mal das Wort. Ich sah sie mit meinen eigenen Augen, jedoch überlagert mit Campions Erinnerungen. »Die meisten von uns sind vor dem Angriff im Reunionssystem eingetroffen. Die Strang-Erzählungen hatten jedoch noch nicht begonnen – wir wollten noch auf die Nachzügler warten, bevor die Tausend Nächte beginnen sollten, was bedeutet, dass die Stränge zusammen mit den Splitterlingen gestorben sind. Wir werden nie erfahren, was sie bei ihrem letzten Umlauf erlebt haben.«
Wir schauten sie erwartungsvoll an und fragten uns, worauf sie wohl hinauswollte.
»Aber wir kennen ihre Absichten«, sagte Miere. Ihre Stimme ließ an dunkle Schokolade denken. »Bevor wir nach der letzten Reunion losflogen, haben wir alle unsere Flugpläne gespeichert. Keiner von uns war verpflichtet, sich sklavisch daran zu halten – falls interessante Daten hereinkämen, wollten wir unsere Pläne ändern. Aber wir wissen, was die meisten von uns vorhatten.«
»Ich verstehe nicht …«, setzte Betonie an.
»Wenn die Flugpläne noch irgendwo gespeichert sind«, fuhr Miere fort, »können wir nachschauen, ob jemand die Absicht hatte, Campions Strang weiterzuverfolgen.«
»Ich würde mich daran erinnern, wenn jemand vorgehabt hätte, die Vigilanz anzufliegen«, sagte Campion.
»Es muss nicht so offensichtlich gewesen sein«, entgegnete Miere. »Die Vigilanz sammelt und analysiert jedoch Informationen aus der ganzen Galaxis, aus vielen Sonnensystemen. Vielleicht hast du ja etwas berichtet, das jemand anderen veranlasst hat, weitere Nachforschungen anzustellen, ohne die Vigilanz direkt anzusteuern.«
»Einen Versuch ist es wert«, meinte Akonit.
»Also gut«, sagte Betonie widerwillig. »Miere – würdest du das übernehmen?«
»Gern. Solange ich über die üblichen Zugangsrechte verfüge, kann ich das ebenso gut machen wie jeder andere. Natürlich benötige ich eine genaue Kopie von Campions Strang.« Sie wandte ihm ihr strahlendes Gesicht zu. »Wäre das für dich ein Problem?«
»Möglicherweise«, sagte Campion leise.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Betonie. »Vor einem Umlauf hatten wir alle freien Zugang zu deinem Strang. Weshalb sollte das jetzt ein Problem darstellen?«
»Weil er nicht mehr existiert. Ich habe ihn gelöscht.«
Akonit war fassungslos. »Aber an Bord deines Schiffes hast du gesagt …«
»Ich habe mich geirrt. Ich dachte, im Datenspeicher gäbe es ein funktionierendes Back-up. Das war nicht der Fall. Ich hab’s vermasselt.«
»Weshalb sollte jemand seinen eigenen Strang löschen?«, fragte Rainfarn verblüfft.
»Es war ein Fehler.«
»Ein Versehen. So was kommt vor«, meinte Hederich.
»Nein, so ein Fehler war es nicht«, sagte Campion. »Eher eine Fehleinschätzung. Ich wollte ihn loswerden, weil ich es leid war, die ganze Vergangenheit mit mir herumzuschleppen. Ich kam mir vor wie ein Mann, der eine endlose Kette von Säcken hinter sich herschleift, alle vollgestopft mit genug Erfahrung für ein ganzes Leben.« Als er die Reaktionen in den Gesichtern einiger Splitterlinge sah, errötete er. »Das waren meine persönlichen Erinnerungen – ich habe damit getan, was ich für richtig hielt. Das ist ein Menschenrecht, das vor den Familienregeln unbedingten Vorrang hat.«
»Ach, Campion«, flüsterte ich; so gern ich ihm den Rücken stärken wollte, war mir doch bewusst, dass er etwas nahezu Unverzeihliches getan hatte.
»Ich dachte, es wäre nicht so wichtig«, fuhr er fort. »Ich wusste ja, dass der Strangapparat eine Kopie zurückbehalten würde, die bei der nächsten Reunion immer noch im Speicher wäre.«
»Der Strangapparat wurde von H-Waffen zerstört«, sagte Betonie.
»Das konnte ich nicht wissen.«
»Aber du hast uns in eine Lage gebracht, in der dies die einzige existierende saubere Kopie gewesen wäre.«
»Im Nachhinein ist man immer klüger«, meinte Campion.
»Du musstest schon vorher mit einer Rüge rechnen. Jetzt hast du das Maß voll gemacht.«
»Gestern waren wir alle noch bester Dinge, Betonie – was hat sich in der Zwischenzeit verändert?«
»Wir waren dir wie allen Überlebenden ein herzliches Willkommen schuldig. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass du dich über die Familientradition hinweggesetzt hast, unangemessene Risiken eingegangen bist und deinem Strang gegenüber eine himmelschreiende Missachtung an den Tag gelegt hast. Diese Erinnerungen haben nicht dir gehört, Campion – sie wurden dir lediglich im Namen der Familie Gentian anvertraut.«
»Nun, was immer ihr mit mir vorhabt, ihr könnt euch meines Einverständnisses sicher sein. Aber dürfte ich dennoch vorschlagen, dass meine Bestrafung – worin sie auch bestehen mag – so lange warten sollte, bis wir herausgefunden haben, wer uns auslöschen will?«
»Ehe wir Campion das Fell über die Ohren ziehen«, sagte Miere, »sollten wir eines bedenken. Wir haben alle seinen Strang empfangen. Das bedeutet, dass es noch etwa fünfzig Kopien davon gibt, die alle mnemotechnisch indiziert wurden.«
»Aber die sind im Laufe der Zeit korrumpiert und unter frischeren Erinnerungen begraben worden«, sagte Mezereum, was sich so anhörte, als wollte sie lieber ernsthaft argumentieren, als das Messer in der Wunde herumzudrehen.
Miere nickte. »Ich weiß, aber das lässt sich nicht ändern. Ich will damit nicht sagen, wir könnten eine saubere Kopie daraus zusammensetzen, aber ich bin sicher, wir würden nahe herankommen, wenn wir unsere Erinnerungen zusammenlegen. Wenn jeder bereit ist, sich einer Gedächtniswiederherstellung zu unterziehen, kann ich die einzelnen Versionen von Campions Strang auswerten und miteinander abgleichen, bis die Lücken gestopft und die Fehler behoben sind.«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Akonit.
»Damit bürdest du dir eine große Verantwortung auf, Miere«, sagte Betonie.
»Damit komme ich schon zurecht.«
Betonie tippte sich mit einem Stück Brot an den Kopf, wie ein Richter, der im Begriff ist, ein Urteil zu sprechen. »So soll es denn sein. Mezereum wird die Befragung der Gefangenen leiten. Miere wird Campions Strang wiederherstellen, soweit das überhaupt möglich ist. Rainfarn – ich glaube, du bist heute für die Patrouille eingeteilt. Ich finde, damit haben wir für ein Frühstück genug Beschlüsse gefasst.«
»Darf ich etwas fragen?«, meldete ich mich zu Wort.
Betonie lächelte mich an. »Nur zu, Portula.«
»Werden wir nun gerügt oder nicht? Ich würde das gern öffentlich klären, hier und jetzt.«
»Ihr seid gerade erst angekommen. Eure Rüge ist eine komplizierte Angelegenheit, bei der zahlreiche Faktoren mitspielen. Das sollte man nicht übers Knie brechen.«
»Was mich betrifft, gibt es nur einen einzigen Faktor. Wir sind ein Paar. Dass wir uns verspätet haben, hat damit nichts zu tun – das hätte jedem passieren können. Wir haben fünf Überlebende mitgebracht, die ansonsten als vermisst gegolten hätten, außerdem die Gefangenen und Hesperus.«
»Das müssen wir gegen Campions nachlässigen Umgang mit seinem Strang aufwiegen.«
»Dann rügt mich, aber lasst Portula aus dem Spiel«, sagte Campion.
»Indem ihr ein Paar geworden und gemeinsam eingetroffen seid und eure Gefühle zur Schau gestellt habt, habt ihr eure Bereitschaft demonstriert, als Paar gerügt zu werden. So soll es sein.«
»Es ist schon mehrfach vorgekommen, dass Splitterlinge ihre Stränge gelöscht haben«, sagte ich. »Keiner wurde deswegen gerügt. Weshalb macht ihr bei Campion und mir dann eine Ausnahme?«
Betonie wirkte angespannt. »Bitte beruhige dich. Wenn es eine Rüge gibt, wird sie mild ausfallen, und man wird euer früheres Betragen mit berücksichtigen. Verbannung steht nicht zur Diskussion – nichts, was ihr getan habt, würde einen solchen Schritt auch nur im Geringsten rechtfertigen. Aber Disziplin ist wichtig, Portula. Jetzt mehr denn je.«
Mit dem Gefühl, als habe man mich heftig geohrfeigt, ließ ich mich auf den Stuhl sinken. Meine Hände zitterten, deshalb versteckte ich sie auf dem Schoß. Am schlimmsten dabei war, dass ich Betonie insgeheim zustimmen musste. Disziplin war wichtig, zumal in unserer gefährlichen Lage. Splitterlinge konnten meistens tun, was sie wollten. Aber was wäre gewesen, wenn einer von uns an Bord unseres Schiffes geflitzt, zum Reunionssystem zurückgeflogen wäre und die Angreifer zu unserem Versteck gelockt hätte? Ich hätte keine Skrupel gehabt, einen solchen Splitterling zu verfolgen und zu exekutieren, selbst dann, wenn es sich um einen Gentianer gehandelt hätte. Ich hätte die Gamma-Kanone sogar eigenhändig abgefeuert, wenn ich geglaubt hätte, die Existenz der Familie stünde auf dem Spiel.
»Dürfte ich eine Frage stellen?«, sagte ich, als die Farbe in meine Wangen zurückgekehrt war.
»Bitte sehr«, sagte Betonie.
»Bevor wir Neume erreichten, hat Hesperus mir und Campion eine Nachricht übermittelt. Daraus ging hervor, dass er zum Luftgeist nach Neume gebracht werden wollte.«
»Hat er das ausdrücklich gesagt?«
»So ausdrücklich, wie er es in Anbetracht der Umstände vermochte.« Ich hatte einen trockenen Hals; ich spürte, dass ich keine zweite Chance bekommen würde, wenn es mir jetzt nicht gelang, mein Anliegen überzeugend vorzubringen. »Ich habe bereits mit der Magistratin gesprochen, doch das war kein günstiger Zeitpunkt, um sie zu überzeugen. Deshalb möchte ich, dass ihr meinem Wunsch, mit dem Geist in Kontakt zu treten, Nachdruck verleiht.«
»Hast du schon mit Kadenz und Kaskade darüber gesprochen?«
»In Gegenwart der Magistratin wollte ich den Erdgeist nicht noch einmal erwähnen.«
»Sie werden ihre eigenen Vorstellungen über das weitere Vorgehen haben«, sagte Betonie. »Da Hesperus einer der Ihren ist, wäre es am einfachsten, wenn wir ihn in ihre Obhut übergeben würden. Dann könnten wir die Angelegenheit als erledigt betrachten.«
»Das wäre in der Tat am einfachsten, aber nicht unbedingt das Richtige«, wandte Akonit ein. »Wenn Hesperus Portula gegenüber einen Wunsch geäußert hat, sollten wir ihm auch entsprechen.«
»Ich bin auch dieser Ansicht«, meinte Bilse.
»Aber wir können es uns auch nicht erlauben, das Maschinenvolk gegen uns aufzubringen«, sagte Ginster, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Wenn sie Hesperus untersuchen wollen, haben wir dann das Recht, sie daran zu hindern?«
»Damit geraten wir in eine diplomatische Zwickmühle«, meinte Sainfoin nachdenklich. »Aber unsere Familie räumt der Gastfreundschaft seit jeher einen überragenden Stellenwert ein. Wenn Hesperus diese Bitte an Portula gerichtet hat, müssen wir ihr nachkommen. Das muss nicht zwingend heißen, dass wir das Maschinenvolk verärgern. Kadenz und Kaskade haben bislang großes Verständnis gezeigt, und ich nehme an, daran wird sich auch dann nichts ändern, wenn wir ihnen unseren Standpunkt erläutern.«
»Du kennst sie besser als jeder andere von uns«, sagte Betonie zu Sainfoin, dem weiblichen Splitterling, der die beiden Robots zum Reunionsplaneten gebracht hatte.
»Mit denen kann man reden«, meinte sie. »Sie haben Verständnis für unseren Standpunkt. Das heißt freilich nicht, dass wir keine Rücksicht auf ihre Vorschläge zu nehmen bräuchten.«
»Du hast meine volle Rückendeckung, Portula«, sagte Akonit.
»Meine auch«, versicherte Mezereum. »Und das gilt auch für Valeria, Luzerne und Melilo. Wenn sie erfahren, was Hesperus für uns getan hat, werden sie dich bedingungslos unterstützen.«
»Ich danke euch«, sagte ich.
»Auf mich kannst du ebenfalls zählen«, sagte Bilse.
Ehe das zustimmende Gemurmel zu einem Sturm anschwellen konnte, nickte Betonie knapp. »Also gut – Portula wird von der Familie ermächtigt, die Verwaltung von Neume um Zugang zum Luftgeist zu ersuchen. Doch ehe du die Angelegenheit weiterverfolgst – hast du auch nur die geringste Ahnung, worauf du dich da einlässt?«
 
Campion kam später am Vormittag in mein Zimmer, als ich gerade auf eine Antwort zu meinem Ersuchen um eine Audienz bei der Magistratin wartete. Ich stand auf dem kleinen Balkon mit der niedrigen Mauer, der seitlich aus dem Zimmer vorsprang und durch ein materiedurchlässiges Fenster zugänglich war, sammelte meine Gedanken und bemühte mich, mein Anliegen in die Form überzeugender, logischer Argumente zu bringen. Betonies rhetorische Frage hatte mich beunruhigt und den Anflug des Zweifels an die Stelle neutronendichter Gewissheit gesetzt. Ich hatte mir den Datenspeicher vorgenommen und in Erfahrung gebracht, dass das Missfallen des Geistes schon ganze Zivilisationen zu Fall gebracht hatte. Doch wir mussten dem Geist auch dankbar sein, weil er uns allen gestattete, auf Neume zu leben. Da es an größeren Organismen mangelte, war es der Geist, der dafür sorgte, dass die Atmosphäre im Zustand dynamischer Instabilität verharrte, dass das Kohlendioxid aus der Luft absorbiert und durch Sauerstoff ersetzt wurde. Aus Eigeninteresse machte eine Maschinenintelligenz so was nicht.
Also duldete sie uns und förderte vielleicht sogar unsere Anwesenheit. Das hieß jedoch nicht, dass sie Nachsicht gegen mich üben würde, wenn sie mich als Ärgernis einstufen sollte. Ich betrachtete die strahlend blauen Himmelssplitter, die zwischen den goldenen Türmen Ymirs sichtbar waren, und fragte mich, ob ich wirklich den Mut aufbringen würde, zu tun, was getan werden musste.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Ich drehte mich um und erblickte Campion, der gerade auf den Balkon heraustrat. In der Hand hielt er ein Stück in Papier eingeschlagenes Schokoladenbrot.
»Danke.«
»Ich hatte nicht mehr Appetit als du, aber ich hab mir gedacht, du würdest im Laufe des Vormittags schon noch Hunger bekommen.«
Ich nahm das Schokoladenbrot und biss eine Ecke ab. »Wie immer hast du Recht gehabt. Ich habe zwar Schmetterlinge im Bauch, bin aber trotzdem hungrig. Wie haben wir uns geschlagen, was meinst du?«
»Furchtbar. Aber ich glaube, anderen wäre es an unserer Stelle auch nicht besser ergangen.«
»Über Betonie habe ich mich gewundert.«
»Ich nicht. Er ist ein Intrigant, der die Gelegenheit gekommen sieht, seinen Einfluss in der Familie zu vergrößern. Als Schwingel und die anderen Alphamännchen noch da waren, war das aussichtslos, doch jetzt hat er beinahe freie Bahn.«
»Vergiss die Alphaweibchen nicht.«
»Ist dir aufgefallen, dass er sich aufgespielt hat, als hätte man ihn bereits zum Kaiser ernannt? Und da besitzt er die Frechheit, mir vorzuwerfen, ich würde die Familientradition missachten! Wir sind eine egalitäre Gemeinschaft, ohne Führer.«
»In Zeiten der Krise hat die Familie das Recht, ein entscheidungsberechtigtes Quorum einzusetzen.«
»Ja – aber bisher ist es fast immer auch ohne gegangen. Betonie war mit Sicherheit in vorderster Front, als die Idee aufkam, ein neues Entscheidungsquorum zu bilden. Es würde mich nicht wundern, wenn er den Vorschlag selbst vorgebracht hätte. Wozu brauchen wir überhaupt ein Quorum? Entscheidungen kann auch die Allgemeinheit treffen – jetzt besser denn je.«
»Die anderen werden ihn schon in Schach halten. Wir haben immer noch Freunde. Hast du bemerkt, wie einhellig die Reaktion ausgefallen ist, als ich um die Erlaubnis gebeten habe, die Magistratin besuchen zu dürfen? Die Hälfte der Anwesenden stand hinter mir.«
»Hm.«
»Was soll das bedeuten?«
»Eigentlich gar nichts. Ich frage mich nur, ob die Reaktion tatsächlich so einhellig ausgefallen ist, wie du meinst.«
»Wie soll ich das sonst verstehen?«
»Es könnte sein, dass einige hoffen, du könntest eine Bauchlandung machen, wenn man dir den Zugang zum Geist verweigert. Es würde mich auch nicht wundern, wenn der eine oder andere hoffen würde, dass du dich zum Narren machst, wenn du Zugang erhältst.«
»Aber niemand wünscht mir den Tod.«
»Nein«, sagte Campion. »So schlimm sind sie nicht. Einige mögen uns nicht, aber sie sind trotzdem unsere Verwandten. Ich würde keinem anderen gentianischen Splitterling den Tod wünschen, und ich glaube, die anderen sehen das nicht anders.«
»Hoffen wir’s. Aber ich mache mir trotzdem noch immer Sorgen wegen der Rüge. Das ist, als würde ein Damoklesschwert über mir hängen.«
»Wenn das mit Hesperus gut ausgeht, sind wir unsere Probleme los.«
»Alle?«
»Na schön«, sagte Campion, »ein paar. Aber dann wird er sich für uns einsetzen. Wer zweifelt schon an der Aussage eines Maschinenwesens?«
»Mit anderen Worten, ein Grund mehr, um beim Luftgeist aufs Ganze zu gehen.«
»Ja, und außerdem ist Hesperus unser Freund, und es wäre schön, wenn wir ihn zurückbekommen würden.«
»Ich habe mich in der Zwischenzeit informiert. Betonie hat nicht übertrieben – es könnte durchaus sein, dass es gefährlich für uns wird.«
»Gefährlich ist es, seit man uns ausgebrütet hat.«
»Das stimmt.« Ich verspeiste das letzte Stück Schokoladenbrot und faltete aus dem Papier eine Origami-Taube. »Danke, dass du an mich gedacht hast. Ganz gleich, was hier geschieht und wie es uns nach Neume ergehen wird, ich bin froh, dass wir zusammen sind.«
»Ohne dich gehe ich nirgendwo hin.«
»Wenigstens ist jetzt öffentlich, dass wir ein Paar sind. Die Heimlichtuerei hat ein Ende.«
Campion schaute ernst drein. »So oder so werden sie uns dafür büßen lassen. Das ist dir hoffentlich klar.«
Ich hatte die Taube fertiggestellt. Sie bekam mandelfarbene Augen und buntes Gefieder und begann, mit den Flügeln zu schlagen. Ich warf sie in die Luft und beobachtete, wie sie wegflog, um sich recyceln zu lassen. Wir hielten uns bei den Händen, dann umarmten wir uns. »Sollen sie nur machen. Ich bin bereit.«
Plötzlich läutete es im Zimmer.
 
Jindabynes Büro befand sich in der Spitze ihres Turms, in einer Kuppel, die Ausblick nach allen Seiten bot. Zwischen den Fenstern zierten Flügel wie Zeremonialsäbel die Wände. Ihre Glasfacetten waren rubinrot, grün und blau getönt und mit ymirischen Schriftzeichen versehen. Außerdem gab es Fotografien und ein paar fremdartige, rätselhafte neumische Kunstwerke, die an Baupläne höllisch komplizierter Gartenlabyrinthe erinnerten. Durch drei der konvexen Fenster sah man ein Stadtpanorama goldener Türme, doch durch das vierte, nach Westen gehende Fenster blickte man auf die silberne Wüste hinaus, wo die unaufhörlich sich verlagernden Dünen sich in serpentinenartigen Wellen bis zum Horizont erstreckten. Es war ein wolkenloser, windstiller Tag, und am Rande meines Gesichtsfelds sah ich einen einzelnen weißen Turm.
»Das ist eine sehr ungewöhnliche Bitte«, sagte Jindabyne, als wir vor ihrem Schreibtisch Platz genommen hatten. »Ich hoffe, Sie haben Verständnis für unsere Skepsis. Die Familie Gentian hat nie großes Interesse an dieser Welt gezeigt, und jetzt möchten Sie auf einmal Zugang zu unseren größten Geheimnissen haben.« Auf dem Schreibtisch stand ein komplizierter Apparat, der Ähnlichkeit mit einer Wasserpfeife hatte – ein bunt bemalter, zischender und blubbernder Kessel mit Schläuchen und Ventilen. Hin und wieder sog die zartbepelzte Magistratin am Mundstück eines segmentierten Schlauchs. Campion und mir hatte man zwei Tassen dünnen Tee mit Ingwergeschmack hingestellt – das Porzellan klirrte leise in unseren Händen. »Ihr Interesse schmeichelt uns«, fuhr Jindabyne fort, »doch ich komme mir vor wie eine Frau, die unseriöse Komplimente bekommt, weil sie etwas besitzt, das andere begehren. Was weiß Ihr Datenspeicher über den Geist zu berichten?«
»Er wird auch als Frakto-Koagulation bezeichnet«, sagte ich. »Es handelt sich um ein aus zahlreichen Elementen zusammengesetztes Luftwesen; früher war es einmal ein menschliches Wesen, ein Mann, der möglicherweise Valmik geheißen und in der Goldenen Stunde gelebt hat.«
»Dann scheint es so, als würden Sie Ihre Zeit verschwenden.«
Campion ergriff das Wort. »Wir haben dem Speicher entnommen, dass der Luftgeist hin und wieder Tote zum Leben erweckt hat, sowohl biologische als auch Maschinenwesen.«
»Außerdem hat er viele Wesen getötet, die noch gar nicht tot waren.«
»Der Speicher sagt aber auch, dass vielen dieser Vorfälle Provokationen vorausgegangen sind«, entgegnete Campion. »Die Betreffenden haben ein Verhalten an den Tag gelegt, von dem bekannt war, dass es den Geist verärgern würde.«
»Noch niemand hat sich dem Geist in der Absicht genähert, ihn zu reizen, Splitterling. Alle hielten sich für schlauer als ihre Vorgänger.«
»Wir nicht«, sagte ich. »Wir sind uns der Risiken voll bewusst und wissen, dass wir eine Begegnung möglicherweise nicht lebend überstehen werden. Aber wir müssen es trotzdem versuchen. Das sind wir unserem Freund schuldig.«
Jindabyne saugte an ihrer Pfeife. Im Kessel blubberte es heftig. »Das Maschinenwesen. Wäre es nicht besser, es Kadenz und Kaskade anzuvertrauen?«
»Wir werden sie natürlich zu Rate ziehen«, sagte ich, »aber Hesperus muss gewusst haben, dass der Geist ihm die besten Überlebenschancen bietet und nicht die anderen Maschinenwesen.«
Jindabyne kratzte sich am honigfarbenen Wangenpelz. Solange das Licht nicht in einem bestimmten Winkel darauf fiel, hätte man ihn für ganz normale Haut halten können. »Sie bringen mich in eine verzwickte Lage.«
»Wir bitten Sie lediglich um die gleichen Zugangsrechte, wie sie in der Vergangenheit zahllosen anderen Reisenden gewährt wurden«, sagte ich.
»Das waren andere Zeiten. Der Geist war berechenbarer. In letzter Zeit – ich spreche von Jahrhunderten, nicht von Jahren – ist er launischer geworden. Es haben sich einige unangenehme Zwischenfälle ereignet. Der Wissenschaftsrat hat die Verantwortlichen davon überzeugt, dass es zu keinen weiteren Gelegenheitsbegegnungen mehr kommen sollte. Bislang hat der Geist sein Missfallen lediglich gegenüber Einzelpersonen oder kleinen Gruppen zum Ausdruck gebracht, doch was geschieht, wenn er sich gegen die Gesamtheit der Bewohner von Neume wenden sollte? Man sagt, er habe die Plastikkultur und später die Versorger gestürzt.«
»Wenn ihm Ihre Gesellschaft lästig wäre, hätte er sich Ihrer bereits entledigt«, wandte Campion ein.
»Das sagt sich so leicht. Sie sind hier Gäste – Sie können jederzeit weiterfliegen. Sie sind nicht auf die Atemluft angewiesen, die der Geist uns zur Verfügung stellt.«
»Das verstehen wir durchaus«, sagte ich einfühlsam. »Wir treten mit einer ungewöhnlichen Bitte an Sie heran, und es steht Ihnen vollkommen frei, sie uns abzuschlagen. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir nichts unternehmen werden, ohne uns mit dem Wissenschaftsrat abzusprechen. Sollte es Hinweise geben, dass wir das Missfallen des Geistes erregen, stellen wir unsere Aktivitäten unverzüglich ein.«
»Sie wissen, dass ich Ihnen Ihr Ersuchen nicht abschlagen kann«, sagte Jindabyne.
»Selbstverständlich können Sie das tun«, erwiderte ich.
»Tatsächlich? Während die Familie Gentian alle meine Bewegungen im Auge behält? Im Orbit um Neume befinden sich vielleicht weniger als fünfzig Raumschiffe, aber wir alle wissen, was sie anrichten könnten, falls wir uns weigern sollten zu kooperieren. Sie könnten diese Türme in Staub verwandeln, bis nichts mehr übrigbleibt als die Relikte der Hohen Güte.«
»So verhält es sich nicht«, sagte Campion. »Es ist nicht unsere Absicht, Sie unter Druck zu setzen.«
»Vielleicht glauben Sie das tatsächlich. Für Sie mag das zutreffen, aber wir haben es hier mit einer Familie zu tun, die der Körperschaft angehört. Und die Familien setzen immer ihren Willen durch. Ohne Ausnahme.«
»Aber wir haben Sie freundlich gebeten«, sagte ich flehentlich.
»In dem Wissen, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als Ihrem Ersuchen nachzukommen.«
»Für die Gentianer gilt das nicht«, sagte Campion. »Das ist nicht unsere Art.«
»Wäre die Angelegenheit für Sie erledigt, wenn ich mich weigern würde?«
Campion und ich wechselten besorgte Blicke. »Ja«, sagte ich. »Darauf können Sie sich verlassen. Sie haben hier das Sagen. Nicht wir.«
»Splitterling Betonie ist ein energischer Mann. Was glauben Sie, wie er meine Weigerung aufnehmen würde? Nicht gut, fürchte ich. Sie mögen Ihre Prinzipien haben, Splitterlinge, aber wenn Sie kollektiv handeln, sind Sie Monster. Diese Erfahrung habe ich mit anderen Familien gemacht.«
»Wir sind keine Monster«, sagte ich. »Wenn Sie uns nicht glauben, dann lehnen Sie unser Ersuchen ab. Es wird keine unangenehmen Folgen für Sie haben, das versichere ich Ihnen.«
»Und was ist in tausend Jahren? In zehntausend? Für Sie ist das nur ein Klacks.«
»Jetzt ist alles anders geworden«, sagte Campion. »Selbst wenn wir uns in der Vergangenheit so verhalten haben sollten, jetzt ist nichts mehr wie früher.«
Jindabyne legte das Mundstück auf der klauenförmigen Ablage eines Malachitständers ab. »Gehen Sie jetzt«, sagte sie und nahm ein Blatt Papier zur Hand. »Ich werde Sie im Laufe des Tages von meiner Entscheidung in Kenntnis setzen.«
 
Kadenz und Kaskade besuchten mich auf dem Balkon des Turms, in dem unsere Räumlichkeiten lagen. Es war Mittag. Campion ruhte in einem Liegesessel, hielt einen Apfel in der Hand und sprach so wenig wie möglich.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte ich und nickte den beiden makellosen Wesen grüßend zu.
Kadenz, der silberne Robot mit den weiblichen Formen, nickte. »Das versteht sich doch von selbst, Portula. Kaskade und ich brennen darauf, Hesperus zu untersuchen und ihm zu helfen. Es mag Sie vielleicht wundern, dass wir Mitgefühl mit unseren Mitmaschinen haben, aber so sind wir halt. Die Vorstellung, dass Hesperus möglicherweise leidet, bedrückt uns.«
»Sind Sie sterblich?«, fragte ich.
»Natürlich sind wir das«, antwortete Kaskade. »Wir sind nicht unzerstörbar. Fernab unserer Heimat und den unterstützenden Systemen unserer Zivilisation sind wir kaum weniger verwundbar als menschliche Wesen.« Er tippte sich mit seinem weißen Zeigefinger an die Brust. »Mit der geeigneten Waffe könnten Sie mich auf der Stelle töten.«
»Aber Ihre Erfahrungen sind irgendwo im Monoceros-Ring gespeichert.«
»Wir sind mehrere Zehntausend Lichtjahre vom Ring entfernt. Seit meinem Aufbruch ist viel geschehen, und nur ein geringer Teil davon wurde nach Hause übermittelt. Sollte ich jetzt sterben, würde es mehrere Zehntausend Jahre dauern, bis die Nachricht von meinem Tod den Ring erreicht. Erst dann würde vielleicht eine Kopie von mir mit dem zuletzt gespeicherten Datensatz aktiviert werden. Doch ich würde dieses Maschinenwesen nicht als mit mir identisch betrachten, sondern lediglich als Wesenheit, die einige Gemeinsamkeiten mit mir aufweist.« Er neigte seinen wunderschönen Kopf. »Als Splitterling werden Sie das gewiss verstehen. Sie alle besitzen sehr ähnliche Erinnerungen, doch das heißt nicht, dass Ihnen der Tod nichts ausmachen würde.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Doch wie sieht es mit Hesperus aus? Könnte er sterben?«
»Zweifellos. Aber solange wir ihn nicht untersucht haben, können wir über seine Verletzungen nur Mutmaßungen anstellen. Sicher ist nur, dass seine Chancen, wiederhergestellt zu werden, am größten sind, wenn er zum Ring zurückkehrt.«
»Deshalb brauchen wir ein Schiff«, sagte Kadenz.
»Sie haben keines?«
»Sainfoin hat uns hierher gebracht. Wir verfügen über kein eigenes Raumfahrzeug.«
Campion kaute geräuschvoll an seinem Apfel; dieses uralte Geräusch mischte sich in meine Gedanken. Er beobachtete sehr aufmerksam, gab sich aber den Anschein bemühter Teilnahmslosigkeit.
»Irgendwann müssen Sie ein Raumschiff gehabt haben«, sagte ich.
»Früher mal«, antwortete Kadenz beiläufig. »Es wurde zerstört, lange bevor wir die Dorcus-Reunion erreichten. Seitdem sind wir auf die Großzügigkeit der Menschen angewiesen.« Der Robot schwenkte die Hand, als wischte er ein Problem beiseite. »Das ist belanglos. Raumschiffe sind unbelebte Maschinen, die über keinen größeren Verstand verfügen als ein Kieselstein. Sie besitzen für uns keinen eigenen Wert.«
»Es wäre schön, wenn Sie sich Hesperus anschauen würden«, sagte ich. »Sie könnten mir dabei helfen, ihn in einem Stück auf den Boden von Neume zu schaffen. Ich habe Bedenken, ihn in seinem gegenwärtigen Zustand zu transportieren.«
»Es gibt keinen Grund, weshalb er hierher kommen sollte«, sagte Kaskade. »Es reicht, wenn wir ihn an Bord des Schiffes untersuchen.«
»Sie sind nicht auf die Ressourcen von Ymir angewiesen?«, fragte ich.
Kadenz erzeugte ein glucksendes Geräusch, das ich als die Maschinenentsprechung eines spöttischen Schnaubens auffasste. »Die Einwohner von Neume meinen es gut, aber wenn wir Hesperus mit ihren Maschinen reparieren wollten, wäre das so, als würden wir bei Ihnen mit ein paar Feuersteinsplittern eine Gehirnoperation durchführen wollen.«
»Wenn man nur Feuerstein zur Verfügung hat, muss man sich damit begnügen.«
Kaskades elfenbeinfarbene Gesichtsmaske verlagerte sich zu einem schwachen Lächeln. »Aber wir können es besser machen. Wir sind flexible Maschinen. Unsere gegenwärtige humanoide Gestalt haben wir aus Nützlichkeitserwägungen heraus angenommen. Es wäre ganz einfach für uns, die erforderlichen Schnittstellen herzustellen, die wir benötigen, um Hesperus zu helfen. Zunächst aber müssen wir an Bord des Raumschiffs gelangen.«
»Das lässt sich machen. Aber ich würde ihn trotzdem gern hierher bringen.«
»Dazu besteht kein Grund«, wiederholte Kadenz.
»Das sehe ich anders. Die Sache ist kompliziert, aber Hesperus hat uns um einen Gefallen gebeten.« Ich holte tief Luft. »Sie halten sich bereits seit geraumer Zeit auf Neume auf – da wissen Sie vermutlich über den Luftgeist Bescheid.«
»Ja«, sagte Kadenz wachsam.
»Sind Sie in der Zwischenzeit mit ihm in Kontakt getreten?«
Sie – ich konnte nicht anders, als die Maschine als Frau zu betrachten – schüttelte gebieterisch ihren schlanken Kopf. »Nein. Dazu bestand kein Anlass. Der Geist ist keine Maschinenintelligenz und deshalb für uns von untergeordnetem Interesse.«
»Gilt diese Einstellung auch für Menschen?«
»Ganz im Gegenteil. Organische Intelligenzen sind für uns äußerst faszinierend. Diese glibberige graue Masse, die ein Bewusstsein hervorbringt – wie sollte man nicht davon fasziniert sein?«
»Der Geist«, sagte Kaskade, »stellt ein Übergangsstadium zwischen menschlichem und Maschinenbewusstsein dar. Sein Ursprung liegt im Dunkeln, seine Beschaffenheit ist instabil. Er weist zu viele Variablen auf, als dass er ein geeignetes Studienobjekt abgäbe.«
Und außerdem, dachte ich, fürchtet vielleicht auch ihr euch ein wenig vor ihm. Wenn er Menschen Angst machte, dann mochte das auch für Maschinenwesen gelten. Campion, der an der anderen Balkonseite saß, fing meinen Blick auf und zwinkerte mir zu.
»Nun, ich interessiere mich für ihn«, sagte ich. »Hesperus kannte unser Ziel. Wir glauben, dass es sein Wunsch war, mit dem Geist in Kontakt zu treten.«
»Was versprechen Sie sich davon?«, fragte Kadenz.
»Es gibt Belege dafür, dass der Geist in der Vergangenheit verletzte Pilger geheilt und beschädigte Maschinen instandgesetzt hat«, sagte ich. »Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Geist auch für Hesperus etwas tun kann.«
»Oder er nimmt ihn vollständig auseinander.«
»Dann würde ein Teil von ihm in das Gedächtnis des Geistes eingehen. Darauf wollte er es offenbar ankommen lassen.«
»Das wäre ein höchst unorthodoxes Vorgehen«, sagte Kadenz.
»Dass wir hier sind, ist unorthodox. Dass wir ein verletztes Maschinenwesen zu Gast haben, ist unorthodox.«
»Trotzdem.«
Es entstand ein Schweigen. Die Maschinen standen reglos da, doch die Lichter an ihrer Kopfseite flackerten und tanzten wie verrückte Glühwürmchen. Ich hatte den Eindruck, dass in meiner Gegenwart eine umfangreiche, unergründliche Unterhaltung geführt wurde, noch dazu in einer Geschwindigkeit, die sich meinem Begriffsvermögen entzog. Das sekundenlange Schweigen entsprach im beschleunigten Zeitrahmen eines Maschinenbewusstseins jahrelanger angeregter Debatte.
Sie sind klüger als wir, dachte ich. Klüger, stärker und schneller, und schon bald wird es heißen, entweder wir oder sie.
»Wir werden uns auf Ihr Raumschiff begeben und Hesperus untersuchen«, sagte Kadenz.
Kaskade setzte hinzu: »Wir werden versuchen, uns mit ihm zu verständigen. Wenn das misslingt, haben wir nichts dagegen, wenn Sie ihn zur Planetenoberfläche bringen und dem Geist präsentieren.«
Ich fühlte mich gleichzeitig benommen und beschwingt. Ich durfte sie nicht daran hindern, wenigstens den Versuch zu unternehmen, sich mit Hesperus zu verständigen. Vielleicht würde Hesperus auf diese Weise seinen Wünschen klarer Ausdruck verleihen können.
»Ich danke Ihnen«, sagte ich, als ich mich wieder gefasst hatte. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.«
»Hatten Sie erwartet, dass wir Sie behindern würden?«, fragte Kaskade mit dem Anflug eines Lächelns.
»Ich wäre nicht verärgert gewesen, wenn Sie meinen Vorschlag abgelehnt hätten. Er ist unser Gast, aber er ist auch einer der Ihren. Wenn Sie einen besonderen Anspruch auf ihn geltend gemacht hätten … dann hätte ich mich nicht gesträubt.«
»Aber Sie wären betrübt gewesen«, sagte Kadenz.
»Ja. Ich hätte das Gefühl gehabt, ihn im Stich gelassen zu haben.«
»Das wollten wir verhindern. Sie haben sich bis jetzt um ihn gekümmert, und dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.« Kaskade wandte das Gesicht seiner silbernen Begleiterin zu, dann sah er wieder mich an. »Wann dürfen wir Ihr Schiff besuchen, Portula?«
»Sobald mir das Einverständnis meiner Familie vorliegt, dass ich mit dem Shuttle in den Orbit fliegen darf. Das sollte kein Problem sein, doch es dürfte ein paar Stunden dauern.«
Kadenz neigte den Kopf. »Dann werden wir auf Ihre weiteren Anweisungen warten.«