Fünfzehn
 
 
 
 
 
Am frühen Nachmittag des ersten Tages auf Neume wurden die anderen drei Splitterlinge, die wir an Bord hatten, aus der Stasis geholt. Als sie auf das große Landedeck hinaustraten, auf dem wir uns am Abend zuvor versammelt hatten, wirkten sie verwirrt und misstrauisch, als könnten sie an diese Wendung ihres Geschicks nicht recht glauben. Es war, als wären sie aus einem Traum erwacht und könnten das Gefühl nicht abschütteln, sie wären in einen neuen Traum eingetreten, aus dem sie jederzeit aufgeweckt werden konnten.
Als sie die anwesenden Splitterlinge, Gäste und einheimischen Politiker begrüßt hatten – es waren weniger Personen erschienen als am Abend zuvor, doch das würden Luzerne, Melilo und Valeria nie erfahren -, kamen sie zu Portula und mir herüber.
»Akonit hat uns erzählt, was passiert ist, Campion«, sprach Melilo mich an. »Was ihr für uns getan habt, dafür werden wir uns niemals revanchieren können.«
»Ihr hättet das Gleiche getan«, sagte ich.
»Das würde ich gern glauben, doch ich werde es niemals erfahren. Ihr aber habt es tatsächlich getan, im vollen Bewusstsein der Risiken. Ich danke euch, Campion und Portula. Ich bin stolz, ein Gentianer zu sein.«
»Es steht eine Rüge im Raum«, sagte ich und vergewisserte mich mit einem Blick über die Schulter, dass Betonie nicht in Hörweite war. »Wenn es zur Abstimmung über unsere Bestrafung kommt, sind Portula und ich auf die Stimmen all unserer Freunde angewiesen.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte die dunkelhäutige Valeria.
»Doch, leider ist es wahr«, sagte Portula. »Aber jetzt, wo ich weiß, dass wir wenigstens ein paar Verbündete haben, fühle ich mich schon wieder besser.«
»Ihr habt mehr Verbündete, als ihr glaubt«, sagte Luzerne. Dann musterte sie die anderen beiden scharf. »Was ist mit Grilse und den anderen Gefangenen passiert?«
»Sie sind hier«, antwortete ich. »Befinden sich noch in der Stasis. Mezereum wurde damit beauftragt, Informationen aus ihnen herauszuholen.«
»Dann wird sie das auch tun«, meinte Valeria.
»Aus deinem Mund klingt das so, als wäre das etwas Schlechtes.«
Melilo senkte die Stimme. »Als es darum ging, Grilse zu befragen, war Mezereum … ausgesprochen eifrig bei der Sache.«
»Ich an ihrer Stelle wäre auch eifrig gewesen«, sagte Portula.
»Aber nicht so sehr wie Mezereum. Wir hätten sie beinahe zurückhalten müssen. Wir wollten nicht, dass die Gefangenen sterben, bevor wir etwas Nützliches in Erfahrung gebracht haben. Und jetzt soll sie die Befragung leiten?«
»Man wird sie beaufsichtigen«, sagte ich.
»Dazu kann ich nur dringend raten«, meinte Luzerne. »Keinen von uns schert es, was aus Grilse wird – meinetwegen kann man ihn ruhig den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Aber erst dann, wenn der Scheißkerl geredet hat.«
 
Der Nachmittag verlief ereignisreich. Miere traf die nötigen Vorbereitungen, um meinen Strang anhand des Gedächtnisinhalts der überlebenden Splitterlinge zu rekonstruieren, was bedeutete, dass wir alle uns einem heiklen, zeitraubenden Gehirnscan unterziehen mussten. Das Problem dabei war nicht die Vorbereitung der Geräte, denn die erforderlichen Apparate ließen sich mühelos anhand der standardmäßigen Realisator-Daten herstellen, sondern den Ablauf so zu organisieren, dass der Vorgang innerhalb weniger Tage und nicht Wochen abgeschlossen wäre. Als Zeichen meines guten Willens und um zu demonstrieren, dass ich nichts zu verbergen hatte, erklärte ich mich bereit, mich als Erster dem Scan zu unterziehen.
»Wenn du willst, lass ich dich aus«, sagte Miere, als wir in dem ihr zugewiesenen Raum allein waren. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber es gibt bestimmt Widersprüche zwischen dem Strang und deinen zugrundeliegenden Erinnerungen. Ich habe noch nie verstanden, weshalb die Familie darauf beharrt, dass jeder von uns seinen eigenen Strang bekommt.«
»Aus Tradition«, sagte ich. »Und zum Schutz vor Sabotage. Wenn ich vorhätte, allen anderen Splitterlingen etwas Böses in den Kopf zu pflanzen, würde ich Gefahr laufen, mich selbst zu infizieren.«
»Wenn das deine Absicht wäre, könntest du entsprechende Vorkehrungen treffen.«
»Aber es wäre schwieriger und die Wahrscheinlichkeit, dass es schiefgeht, daher größer. Wie auch immer, ich glaube, es geht dabei eher um Symbolik als um praktische Erwägungen. Willst du mich nun scannen oder nicht?«
»Ja, falls du gerade nichts Besseres vorhast. Möchtest du nicht lieber dabei zuschauen, wie Mezereum sich ihren Nervenkitzel verschafft?«
»Höre ich da einen Anflug von Missbilligung heraus?«
Miere rümpfte die Nase, als nähme sie einen üblen Geruch wahr. »Lass es uns mal versuchen. Wenn das Signal-Rausch-Verhältnis zu klein ist, verwerfe ich deine Daten.«
»Klingt schmerzhaft.«
»Leg dich hin«, sagte sie mit übertriebener Strenge. Miere wusste, dass ich sie mochte, weshalb unsere Begegnungen stets von einer angenehmen Spannung gekennzeichnet waren. Ich glaube, sie mochte mich ebenfalls.
Ich legte mich auf die Liege und atmete aus, während sie mit der Arbeit begann. Sie nahm eine Art Farbtube und drückte sich deren Inhalt auf die linke Hand und den Arm bis zum Ellbogen, wobei sich ein dickes Netzmuster wachsartiger Linien bildete, das sich von der Armbeuge bis zu den Fingerspitzen zog. An der linken Hand trug sie mehrere Ringe, keinen an der rechten, doch sie achtete darauf, dass die Wachslinien nicht mit dem Schmuck in Berührung kamen. In Sekundenschnelle härtete der Maschinenaspik zu einem flexiblen Netzwerk aus. Miere hielt ihre Hand an meinen Schädel, als wärmte sie sich an einem heißen Stein. Sie bewegte die Hand langsam hin und her, die Finger ganz steif, wie bei einer Tänzerin. Hin und wieder blickte sie auf eine Anzeige an der Wand. Während die Tiefensensoren mein Gedächtnis durchforsteten und die Muster identifizierten, die als Teil eines Strangs gekennzeichnet waren, flackerten subliminale Erinnerungsfetzen auf, wie auf eine Leinwand projizierte Bilder. Es war, als betrete ich den Puppenpalast und spürte, wie das Spiel meinen Kopf durchsuchte.
»Bist du schon mit den Flugprotokollen weitergekommen?«
»Halt still. Wenn du dich nicht bewegst und den Mund hältst, geht es schneller.«
»Entschuldige.«
»Um deine Frage zu beantworten, ich habe mir die Protokolle noch nicht angeschaut. Damit fange ich an, wenn ich genug Stränge habe, die ich damit abgleichen kann. In den Protokollen wird sich vermutlich nichts finden, aber ein Versuch schadet nicht. Du bist mir nämlich etwas schuldig. Ich habe da draußen deine Haut gerettet.«
Ich brummte zustimmend.
»Dir wird schon etwas einfallen, wie du dich erkenntlich zeigen kannst. Vielleicht begehe ich ja eines Tages eine ähnliche Dummheit und lösche meine Stränge – wer weiß?« Mit der freien Hand streifte Miere sich eine blauweiße Haarsträhne zurück. »Du kannst einen wirklich rasend machen, Campion. Manchmal glaube ich, du verkörperst das Beste, wofür die Familie steht, dann wieder finde ich, man hätte dich schon vor vielen Umläufen verbannen sollen. Dein Problem ist, dass du nichts richtig ernst nimmst. Manchmal ist das gut – wir können schließlich nicht alle wie Schwingel oder Betonie sein -, aber dann wieder … na ja, ich will nicht darauf herumreiten; das wirst du in der nächsten Zeit noch oft genug zu hören bekommen. Zum Glück passt Portula auf, dass du nicht allzu weit vom Pfad der Tugend abweichst. Ihre Geduld kennt keine Grenzen. Ich an ihrer Stelle hätte dir bereits ein Denkmal gesetzt.«
Das hieß, sie hätte mich umgebracht.
Bald darauf war Miere fertig und forderte mich auf, mich zu erheben. »Hast du einen sauberen Scan bekommen?«
»Nicht schlechter als erwartet.« Sie pellte die wachsartigen Linien des erstarrten Maschinenaspiks vom Arm und von den Fingern ab und drückte sie zu einem Ball zusammen, der in die Tube zurückwanderte, aus der die Masse hervorgequollen war. »Nichts, womit ich schon arbeiten könnte, aber sobald ich die anderen Scans zusammengesetzt habe, wissen wir mehr. Unter uns gesagt – am Ende kommt es doch heraus -, du hast doch nicht etwa versucht, irgendetwas zu verbergen, oder? Ich meine, es gab doch keinen speziellen Grund, weshalb du deinen Strang gelöscht hast?«
»Falls ich etwas zu verbergen habe, dann weiß nicht einmal ich selbst davon.«
»Das könnte durchaus der Fall sein. Das Gedächtnis spielt einem so allerlei Streiche. Aber …« Miere stockte. »Letztendlich vertraue ich dir. Du hast deine Fehler, das kannst nicht einmal du abstreiten, aber ich glaube nicht, dass du etwas mit dem Angriff zu tun hattest. Du gleichst einem Jungen, der am Strand nach hübschen Muscheln sucht. Du hast etwas aufgelesen, was dir ins Auge gefallen ist, hast es mit nach Hause gebracht und stolz herumgezeigt, hattest aber nicht die geringste Ahnung, was es wirklich bedeutete.« Miere legte eine Kunstpause ein. »Jemand aber hat es bemerkt. Jemand hat begriffen, was du da nach Hause gebracht hast, und hat beschlossen, dass wir alle deswegen sterben sollten. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was in der Muschelschale war.«
»Ich bin froh, dass du überlebt hast, Miere.«
»Dann sind wir schon zwei«, sagte sie.
 
Die vier Kabinen standen auf einem Podest, das von einer Freifläche umgeben war. Man hatte Mezereum für die Befragungen einen eigenen Raum zur Verfügung gestellt. Hinter der Freifläche befand sich eine Art Tribüne für die interessierten Zuschauer; hinter den Sitzbänken ragten Wände mit schmalen Fensterschlitzen auf, durch die mattes Tageslicht hereinfiel. Es war mehr als genug Platz für alle Splitterlinge, unsere Gäste und eine kleine Abordnung von Einheimischen. Viele Augenzeugen waren bereits erschienen, als das Laufband mich absetzte. Zuvor hatte ich beobachtet, wie Portulas Shuttle in den Orbit gestartet war. Jetzt brannte ich darauf, zu erfahren, was die Gefangenen zu ihrer Beteiligung an dem Verbrechen zu sagen hatten.
Mezereums Timing und ihre Darstellerqualitäten waren unübertroffen. Bei ihrem Eintreten war die Atmosphäre bereits elektrisch aufgeladen, und das Zuschauergemurmel machte augenblicklich erwartungsvoller, angespannter Stille Platz.
Sie nahm vor dem Podium Aufstellung. Hinter ihrer schlanken, dunkel gekleideten Gestalt ragten bedrohlich die Stasiskammern auf. »Ich danke euch, Splitterlinge und Ihnen, verehrte Gäste, für euer und Ihr Erscheinen«, sagte sie und drehte sich auf den Absätzen zum Publikum um. »Heute werde ich die Gefangenen mithilfe von Synchromasch befragen.« Sie reckte den einen Arm. Der Ärmel fiel herab, und darunter kam ein klobiges weißes Chronometer zum Vorschein, das an ihrem blassen, schmalen Handgelenk befestigt und mit perlenförmigen Knöpfen und zahlreichen Rändelrädern ausgestattet war. »Da Sie vorab informiert wurden, gehe ich davon aus, dass die meisten ihr eigenes Masch oder ein entsprechendes Mittel mitgebracht haben, um den subjektiven Zeitablauf zu verlangsamen. Bitte wählen Sie einen Faktor von einhundert, aber warten Sie auf mein Zeichen.«
Sie wandte sich um, kletterte aufs Podest und trat vor die ganz rechts befindliche Kammer. Wie bei den anderen dreien stand die Tür offen. Der Gefangene saß innerhalb einer roten Schutzblase mit verlangsamtem Zeitablauf auf einer Art Thron. »Wir kennen nur den Namen des Mannes in der Kammer links außen. Grilses Kammer ist besser ausgestattet als die anderen drei – seine Aussichten, das Wiedereintauchen in den normalen Zeitablauf zu überleben, sind wesentlich besser. Für die übrigen drei schätze ich die Aussichten etwas schlechter ein – es ist nicht auszuschließen, dass von ihnen nur noch eine leere Hülle zurückbleibt. Deswegen will ich sie erst dann aus der Stasis holen, wenn ich so viel wie möglich ohne Ausübung von äußerem Zwang in Erfahrung gebracht habe. Das aber wissen sie noch nicht.« Mezereum öffnete das Steuerfeld der rechten Kammer, das eine ähnliche Unterteilung aufwies wie das, welches ich bei Grilses Kammer gesehen hatte, als Mezereum sie mir an Bord der Bummelant gezeigt hatte. Der Hebel war fast bis zum Anschlag nach rechts geschoben, was darauf schließen ließ, dass der Stasisfaktor bei einhunderttausend lag, was etwa einer Sekunde für einen Tag entsprach, der in der Außenwelt verstrich. In der Zeit, die verstrichen war, seit ich mit den anderen Splitterlingen zum Frühstück zusammengekommen war, hatte der Gefangene gerade einmal blinzeln können. Um eine Geste abzuschließen oder eine kurze Bemerkung zu machen, hätte er zwei bis drei Tage benötigt.
Mezereum schob den Hebel nach links, bis der Stasisfaktor nur noch einhundert betrug. Der Gefangene wirkte noch immer reglos, doch wenn man genau hinschaute, war das Heben und Senken der Brust gerade so eben wahrnehmbar. Er atmete; er lebte. Die Blase war jetzt nicht mehr scharlachrot, sondern eher rosa.
»Er sieht und hört nur mich«, sagte Mezereum und blickte sich über die Schulter zum Publikum um. »Zwischen Ihnen und mir befindet sich ein Schutzschirm. Später wird es Ihnen möglich sein, die Gefangenen ins Kreuzverhör zu nehmen, doch im Moment möchte ich mich mit ihnen erst einmal alleine befassen. Selbstverständlich wurde ich von einer Mehrheit zu dieser Befragung ermächtigt.« Sie tippte mit dem scharfen Fingernagel auf die Anzeige des Chronometers. »Ich werde mich jetzt einstellen. Wenn Sie die Befragung mitverfolgen möchten, tun Sie bitte das Gleiche. Ich schlage vor, Sie wählen einen Zeitrahmen von sechs Stunden, das dürfte für ein paar Minuten Unterhaltung genügen.«
Während die Droge ihre geistigen Prozesse verlangsamte, verfiel Mezereum in eine Pseudoparalyse und erstarrte. Im Grunde handelte es sich um eine Verlangsamung der Körperfunktionen und keinen Stillstand, dennoch wäre sie vom Podest gefallen, wenn ihre Kleidung sich nicht versteift und sie gestützt hätte. Ihre subjektive Zeitempfindung entsprach nun der des Gefangenen; auch ihr Herzschlag und ihre Atmung hatten sich entsprechend verlangsamt. Ihr Mund öffnete sich ganz allmählich, und es kam anscheinend auch ein Laut heraus.
Es war nicht möglich, unter dem Einfluss von Synchromasch zu sprechen; die Physiologie des menschlichen Kehlkopfs erlaubte es einfach nicht, Laute zu erzeugen, die mehrere Minuten in Anspruch nahmen. Ihre Kleidung verstand jedoch ihre Absichten und versorgte die im Raum verteilten Lautsprecher und den Gefangenen mit einer Simulation von Mezereums Stimme. Was wir hörten, klang so tief und klagend wie Walgesang, untermalt mit pulsierendem Unterschall.
Ich holte ein schwarzes Fläschchen aus der Tasche und träufelte mir zwei kalte Tropfen Synchromasch auf die Augäpfel. Die Droge wirkte augenblicklich aufs Nervensystem und verlangsamte den Blinzelreflex. Ich wählte auf dem Chronometer eine Sechsstundenfrist und verstellte die Drehscheibe, die der Droge mitteilen würde, wie langsam ich es angehen lassen wollte. Wie üblich wurde mir schwindelig, als die Wirkung des Synchromasch einsetzte. Dass mein Zeitablauf sich bereits verlangsamt hatte, erkannte ich an der rasenden Bewegung des Minutenzeigers, der so schnell rotierte wie eine Zentrifuge. Die meisten Zuschauer hatten sich bereits eingestellt; nur einige wenige waren noch im normalen Zeitablauf verhaftet, was man an ihren ruckartigen Bewegungen sah.
Mezereums Stimme hatte sich um mehrere Oktaven gehoben, so dass sie wieder ganz normal und verständlich klang: »… von der Familie Gentian, des Hauses der Blumen«, stellte sie sich gerade auf Trans vor. »Sie befinden sich jetzt in unserem Gewahrsam, auf einer Welt, deren Name und Position ich nicht preiszugeben gedenke. Wir wollen keine Gerechtigkeit, sondern kaltblütige Vergeltung.«
Der Gefangene schwieg. Allerdings wirkte er inzwischen ganz lebendig, denn er zerrte an den Fesselgurten und behielt Mezereums Bewegungen im Auge.
»Allerdings wären wir bereit, im Austausch gegen Informationen Zugeständnisse zu machen«, sagte sie und wandte das Gesicht kurz dem Publikum zu; die Kleidung schränkte ihre Beweglichkeit nicht ein. »Wir haben vier von Ihnen gefangen genommen, doch wir brauchen nur mit einem von Ihnen zu sprechen. Ihre Stasiskammern wurden beschädigt – deshalb stehen Ihre Aussichten, unbeschadet in die Normalzeit zurückzukehren, nicht sehr gut. Wenn Sie jedoch bereitwillig unsere Fragen beantworten, werde ich alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um Sie am Leben zu erhalten. Jedoch nur unter der Voraussetzung, dass Sie kooperieren. Nur wenn Sie uns ohne Ausflüchte und unmissverständlich antworten.« Mezereum stemmte eine Hand in die Hüfte. »Wie entscheiden Sie sich?«
Der Gefangene lächelte oder grinste höhnisch – das war schwer zu erkennen. »Ich habe gesehen, was wir Ihnen angetan haben, Gentianerin. Ich weiß, wie viele Menschen wir getötet haben.«
»Es gab Überlebende – mehr als Sie ahnen. Und auch Nachzügler.«
»Das behaupten Sie.«
»Wenn Sie die anderen Überlebenden sehen wollen, hole ich Sie aus der Stasis. Das würde Sie bestimmt überzeugen.«
»Das Risiko werden Sie nicht eingehen wollen. Wenn Sie mich rausholen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie am Ende mit leeren Händen dastehen.«
»Glauben Sie etwa, davor würde ich zurückschrecken? So unersetzlich sind Sie nicht.«
»Auch das ist nur wieder eine Behauptung.«
»Sie wissen, wie viele Personen im Schiff waren.«
»Aber ich weiß nicht, wie viele von uns überlebt haben. Sie können mir die anderen drei zeigen, aber woher soll ich wissen, dass es sich nicht um Projektionen handelt?«
»Wer hat Sie geschickt?«
»Wir selbst.«
»Falsche Antwort. Erzählen Sie mir von der Beteiligung der Marcellins an dieser Gräueltat.«
»Erzählen Sie mir davon.«
»Die Marcellins hatten den Auftrag, sämtliche H-Waffen zu vernichten. Hätten Sie das getan, würden wir jetzt nicht diese Unterhaltung führen. Gibt es eine Verschwörung innerhalb der Familie, oder hat Grilse auf eigene Faust gehandelt?«
»Wer ist Grilse?«
»Meine Geduld ist erschöpft«, sagte Mezereum. Sie hatte die Hand auf den Steuerhebel der Stasiskammer gelegt. »Ich kann den Hebel ganz nach links schieben und Sie rausholen. Möchten Sie, dass ich das tue?«
»Wenn es Sie glücklich macht.«
»Sagen Sie mir, was Campions Strang mit dem Angriff zu tun hatte. Welches Detail war der Auslöser?«
»Fragen Sie Campion. Oder haben wir den auch getötet?«
»Gehören Sie einer der anderen Familien an? Sind Sie ein Marcellin?«
»Sehe ich etwa aus wie ein Marcellin?«
»Ich würde Sie als Mellicta einstufen, wenn ich wetten müsste. Die Ähnlichkeit ist mir erst in dem Moment aufgefallen, als Sie den Mund aufgemacht haben, aber Sie haben diesen hochmütigen Zug, dieses Leck-mich-Funkeln in den Augen.« Mezereum musterte ihn aufmerksam, um sich auch nicht die kleinste Gefühlsregung entgehen zu lassen. Es war für sie frustrierend, dass sie nicht unmittelbar in seinen Kopf hineinschauen konnte. Doch die Stasis-Blase war für Scanner unzugänglich.
»Wenn Sie glauben, ich würde für das Haus der Nachtfalter arbeiten, dann wenden Sie sich doch an die.«
Mezereum nickte heftig. »Sie sind einer von denen. Ein Sternenbeweger.« Unvermittelt schob sie den Hebel in die Ausgangslage zurück, so dass der Splitterling zur Reglosigkeit erstarrte. Trotz des Synchromasch wirkte er wie versteinert, denn seine Bewegungsabläufe waren noch immer um den Faktor eintausend verlangsamt.
»Wenn er ein Mellicta ist, will ich es genau wissen«, sagte Mezereum. Das durch die Fensterschlitze hereinströmende Tageslicht änderte merklich den Einfallswinkel.
Akonit meldete sich aus dem Publikum zu Wort. »Im Speicher haben wir eine Liste von Mellicta-Splitterlingen. Dass sich ein Treffer ergibt, kann ich nicht garantieren – sie verändern ihr Erscheinungsbild ebenso wie wir -, doch einen Versuch wäre es wert.«
»Tu das bitte«, sagte Mezereum. »Und vergiss nicht, die Gefangenen auch mit den Splitterlingen abzugleichen, die auf der Strecke geblieben sind.«
Akonits Hand wanderte zu seinem Chronometer. Er wählte sich in die Normalzeit zurück und verwandelte sich in einen Schemen, der durch die Tür des Befragungsraums verschwand. Ein paar subjektive Sekunden später ruckte die Tür erneut auf und zu, und Akonit saß wieder an seinem Platz und fädelte sich in unseren Zeitablauf ein.
»Wir haben jetzt einen Namen«, sagte er. »Ein Mellicta namens Dorn. Vor zehn Umläufen ihrer Zeitrechnung ist er auf der Strecke geblieben.«
»Zur gleichen Zeit wie Grilse, plus/minus einen Umlauf«, meinte Mezereum. »Dann sind es schon zwei – beide Splitterlinge angeblich tot, aber letztendlich doch am Leben. Vielleicht sollten wir die anderen beiden mal in näheren Augenschein nehmen – vielleicht haben sie ja die gleiche Vorgeschichte.«
»Ich würde ihm gern eine Frage stellen«, sagte ich.
Mezereum wandte jäh den Kopf zu mir herum. Falls sie mir dankbar dafür war, dass ich sie gerettet hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Was gibt es, Campion?«
»Ich würde gern wissen, ob er schon vom Haus der Sonnen gehört hat.«
»Eine solche Familie gibt es nicht«, sagte Mezereum.
»Ich würde trotzdem gern sehen, wie er reagiert.«
»Warum? Was soll er deiner Meinung nach darauf antworten? Grilse hat ein solches Haus nie erwähnt.«
»Mir ist gerade die Idee gekommen, dass ein so genanntes Haus der Sonnen im Spiel sein könnte. Hesperus hat das mal erwähnt, aber sein Gedächtnis war so stark beschädigt, dass er nicht sagen konnte, woher die Bezeichnung stammt.«
»Weshalb sollte es ein solches Haus geben, wenn niemand je davon gehört hat?«, fragte Hederich. »Wir wissen, wer zu uns gehört – wer in der Körperschaft ist, wer ausgestoßen wurde. In unserer Geschichte ist kein Platz für eine verborgene Familie.«
»Vielleicht handelt es sich um eine Familie, die erst kürzlich aufgestiegen ist«, meinte Valeria. »Die es noch nicht in die Datenspeicher geschafft hat.«
»Wir könnten ebenso gut den Gefangenen fragen«, sagte Melilo und beugte sich vor. »Ich schließe mich Campions Ansicht an. Alles deutet auf eine Verbindung zur Vigilanz hin, und wir wissen, dass auch Hesperus sich dafür interessiert hat. Hätten wir mehrere Tausend Jahre Zeit, könnten wir jemanden zur Vigilanz schicken und dort Nachforschungen anstellen lassen. Aber so viel Zeit haben wir nicht, deshalb müssen wir uns mit den Möglichkeiten begnügen, die uns Neume bietet.«
Ich blickte auf mein Chronometer und den rasend schnell rotierenden Zeiger. Wir hielten uns bereits seit fast vier Minuten in Mezereums Zeitrahmen auf. In der realen Welt waren fast sechs Stunden verstrichen.
»Frag ihn«, sagte ich.
Mezereums Miene verfinsterte sich; sie mochte es nicht, wenn man ihr Vorschriften machte. Gleichwohl schob sie den Hebel wieder auf die Einhundert-Marke.
»Na, macht’s Spaß?«, fragte der Gefangene.
»Sie sind Dorn, ein Splitterling der Mellicta-Familie«, sagte Mezereum. »Sie sind angeblich auf der Strecke geblieben. Sie haben versucht, sich durch ein doppelt entartetes Binärsystem katapultieren zu lassen und haben die Gezeitenkräfte unterschätzt. So steht es zumindest im Speicher.«
»Wenn Sie es sagen.«
»Daran besteht kein Zweifel.« Mezereum warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Beantworten Sie mir folgende Frage, Dorn. Erzählen Sie mir vom Haus der Sonnen.«
»So etwas gibt es nicht.«
Doch wir alle hatten gemerkt, dass die Antwort allzu schnell erfolgt war.