ZWEITER TEIL
 
Eines Tages kehrte der kleine Junge zurück. Ich stieg auf den Aussichtsturm und beobachtete die Landung seines Shuttles. Diesmal wusste ich, dass wir den ganzen Nachmittag im Puppenpalast zubringen würden, weil alle anderen Spielzeuge uninteressant geworden waren. Die Vorfreude löste ein warmes Kribbeln in meinem Bauch aus. Es war fast ein Jahr her, dass ich ihn in diese geheime Welt eingeweiht hatte, und bei den nachfolgenden Besuchen hatte sie unsere Vorstellung gefangengenommen wie nichts sonst.
Inzwischen wusste ich, wo der Junge lebte. Wie meine Familie war auch die seine beim Großen Brand reich geworden; damit bezeichneten die Erwachsenen den kurzen, heftigen Krieg, der im elften Jahr des neuen Jahrhunderts über die Goldene Stunde hereingebrochen war. Das war vor fast dreißig Jahren gewesen, doch da meine Kindheit mit Entwicklungshemmern über drei Jahrzehnte gestreckt worden war, konnte ich mich noch an einiges erinnern. Ich war zwar viel zu jung gewesen, um zu verstehen, worum es dabei ging, doch ich erinnerte mich an eine Zeit, da die Erwachsenen sich besonders leise und aufgeregt unterhielten und häufig mit Infowürfeln in der Hand über die Gänge schritten, die sie umfasst hielten wie die Schädel verstorbener Freunde, begierig darauf, sich ja keine Neuigkeit und kein Gerücht entgehen zu lassen.
Meine Familie hatte sich auf Biologie spezialisiert, zumal auf die Feinheiten des Klonens von Menschen. Das Klonen ist eine Technik wie beispielsweise die Herstellung von Papier; wenn man weiß, wie’s geht, ist es nicht schwer, doch wenn man bei null anfängt, ist es außergewöhnlich schwierig, und der Weg zum Erfolg ist gespickt mit Stolperfallen, die sich nur mit einem gewaltigen Arsenal von Listen und Tricks umgehen lassen, von denen viele den schamanistischen Ritualen der Volksmedizin gleichen. Die Kunst war tausend Jahre alt, doch es gab nur eine Hand voll Anwender, die sie wirklich verstanden, und dazu gehörte auch meine Familie. Vor dem Großen Brand, als die gegnerischen Parteien sich wiederbewaffneten, stellten wir Armeen von Soldaten und ganze Pilotenstaffeln her. Unsere Klone waren bekannt für ihre Loyalität, aber auch für ihre taktische Intelligenz und ihr unabhängiges Denken. Sie konnten als autonome Einheiten agieren und warteten am Rand des Schlachtfelds ab, bis sie gebraucht wurden, ohne dass eine Zentralautorität hätte einschreiten müssen. Nach dem Krieg gewährte man vielen Überlebenden volle Bürgerrechte.
Die Familie des kleinen Jungen hatte die Armeen und Flugstaffeln der Gegenseite ausgerüstet, jedoch mit Maschinen, nicht mit organischen Wesen. Manchmal wurden die Maschinen von Menschen gesteuert, doch in vielen Fällen verfügten sie über genügend Intelligenz, um sich selbst zu lenken. Es gab noch andere große Konzerne, die Kampfmaschinen herstellten, genauso wie es andere Klonspezialisten gab. Wir aber waren die besten unseres Fachs, und seine Familie verstand sich am besten auf die Herstellung von Kriegsmaschinen. Obwohl nach dem Krieg Tribunale stattfanden, Befragungen durchgeführt und Sanktionen verhängt wurden, kamen beide Familien relativ ungeschoren davon und blieben im Geschäft. Die Roboter, die neben dem kleinen Jungen die Rampe herunterrollten, hatte seine Familie selbst hergestellt. Deren Maschinen gab es jetzt überall, und sie nahmen eine noch marktbeherrschendere Stellung ein als vor dem Krieg.
Meine Familie, die sich mit der anderen Seite des ideologischen Schismas von Organischem und Metallischem verbündet hatte, hegte ein gesundes Misstrauen gegen Maschinen. Wie ich bereits erwähnt habe, gab es in dem Haus trotz seiner gewaltigen Ausdehnung nur wenige Maschinen. Die meisten Robots halfen beim fortwährenden Ausund Umbau. Nahezu alle anderen Arbeiten wurden von Menschenpersonal oder Kindermädchenklonen erledigt.
»Ich weiß jetzt, woher der Name Goldene Stunde kommt«, sagte ich auf dem Weg zum Spielzimmer mit dem wartenden Wunder des Puppenpalasts zu dem kleinen Jungen.
»Das weiß doch jeder.«
»Du aber nicht, wetten?« Sein Schweigen fasste ich als Aufforderung zum Fortfahren auf. »Sie heißt so wegen dem Licht. Nichts ist schneller als das Licht, auch nicht die Nachrichten, die wir versenden. Solange man auf einem Planeten lebt oder einem Mond, macht das nichts. Aber als wir in den Weltraum vorgedrungen sind, haben wir uns immer weiter voneinander entfernt. Man konnte keine normalen Unterhaltungen mehr führen – es dauerte einfach zu lange, bis die Antwort eintraf. Deshalb können wir beide uns nur dann unterhalten, wenn wir zusammen sind und uns im selben Haus aufhalten. Dein Zuhause befindet sich momentan auf der anderen Seite der Sonne – wenn ich dir Hallo sagen würde, müsste ich stundenlang warten, bis du mir antworten würdest. Irgendwann merkten die Menschen, wie lästig es war, so weit voneinander getrennt zu leben – sie fühlten sich einsam und abgeschnitten. Sie wollten im Weltraum leben, weil sie glaubten, sie könnten dort machen, was sie wollten, aber nicht so weit verteilt, dass eine Unterhaltung sich über Stunden hinzog. Deshalb kamen sie zur Goldenen Stunde, wo die meisten von uns leben. Der Infowürfel meint, das ist eine Ringfläche um die Sonne, vergleichbar einem Doughnut. Der Durchmesser beträgt eine Lichtstunde. Dazu gehören Planeten und ein paar Monde, aber auch zahllose Kleine Welten, genau wie diese. Lebt man in der Goldenen Stunde, braucht man auf eine Antwort höchstens zwei Stunden zu warten und meistens noch weniger. Der Würfel meint, es hätte zehn Generationen in Anspruch genommen, bis sich diese Lebensweise in der menschlichen Zivilisation durchgesetzt hat« – ich mochte komplizierte Wörter, besonders wenn der Würfel sie mich gelehrt hatte -, »aber jetzt, da wir sie angenommen haben, kann sie mehrere Tausend, vielleicht sogar Zehntausende Jahre währen. Ist das nicht aufregend? Wir könnten ewig Freunde bleiben!«
»Das glaube ich nicht«, sagte der Junge abweisend. »Mein Vater meint, sie wird nicht von Dauer sein.«
»Was wird nicht von Dauer sein?«
»Die Goldene Stunde natürlich. Er sagt, das ist eine vorübergehende Erscheinung. Er sagt, irgendwann wird es uns langweilig werden und wir fangen wieder Krieg an, oder wir finden heraus, wie man die Lichtgeschwindigkeit überwinden kann. Aber das ist dann sowieso egal.«
Ich fühlte mich ihm überlegen. »Wir gehen nicht weg von hier. Der Würfel meint, das wäre sinnlos. Außerhalb des Sonnensystems gibt es nichts, was wir nicht schon kennen würden, weshalb sollten wir dann dorthin fliegen? Wir haben Planeten und Monde, um darauf zu leben, und genug Kleine Welten für alle.« Ich bemühte mich um einen ernsthaften Tonfall, obwohl ich nur ein Argument nachplapperte, das man mir vorgekaut hatte, anstatt dass ich selbst darauf gekommen wäre. »Interstellare Reisen wären selbst dann sinnlos, wenn wir dazu in der Lage wären. Und das sind wir nicht.«
»Es hat schon mal geklappt«, erklärte der Junge. »Menschen sind nach Epsilon Indi geflogen und wieder zurück.«
»Das war eine reine Schaunummer – das hat nichts gebracht. Und die Menschen, die dorthin geflogen sind, wurden nach der Rückkehr wahnsinnig. Sie konnten sich nicht an die Veränderungen gewöhnen, die in der Zwischenzeit stattgefunden hatten.«
»Sie waren nicht schnell genug. Aber möglich ist es. Früher oder später werden wir sogar schneller fliegen können als das Licht. Vater meint, das ist bei der vielen Forschung nur eine Frage der Zeit.«
»Ich bezweifle das.«
»Lies etwas anderes im Würfel, Abigail. Tu mir den Gefallen.«
»Man kann nicht schneller sein als das Licht – das geht einfach nicht.«
»Weil du es sagst?«
»Weil das der Infowürfel sagt«, erwiderte ich eingeschnappt. »Und der Würfel hat immer Recht.«
»Wie mit dem Schwarzen Loch unter deinem Haus? Du hast doch nachgeschaut, oder?«
»Es gibt keinen Grund, sich davor zu fürchten.«
»Bla-bla-bla.«
Das Problem war, dass ich mir meiner Sache zwar sicher war, meinen Standpunkt aber nicht mit Argumenten untermauern konnte. Im Würfel hatte ich gelesen, die Lichtgeschwindigkeit stelle eine Grenze dar, die niemand überschreiten könne; selbst nach tausend Jahren Experimenten hatte es – trotz einiger trügerischer Hoffnungsschimmer – noch niemand geschafft, sie zu überwinden. Das vermittelte mir ein bedrückendes Gefühl von Eingesperrtsein – so wie die ständigen Ermahnungen, auf den langen, trübseligen Korridoren des Hauses nicht zu rennen und zu schlittern, sondern mit hoch erhobenem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Händen zu gehen. Es war eine Art Kränkung, so als stellte die unüberwindliche Lichtgeschwindigkeit einen Angriff auf meine persönliche Freiheit dar. Weshalb durfte ich mich nicht so schnell bewegen, wie ich wollte? Weshalb durfte ich nicht schlittern und rennen? Das mit der Lichtgeschwindigkeit konnte ich jedoch ebenso wenig erklären wie die Tatsache, dass zwei plus zwei nicht fünf ergeben. Das war einfach eine dieser Regeln – genau wie das Verbot, bestimmte Teile des Hauses nicht zu betreten -, die nicht in Frage gestellt werden durften.
Freilich spürte ich, dass dieses Argument bei dem Jungen nicht ziehen würde.
»Ich erklär dir, weshalb nichts schneller sein kann als das Licht«, sagte er und freute sich diebisch, dass er über das Thema besser Bescheid wusste als ich. »Nämlich wegen der Kausalität.«
Dieses Wort kannte ich nicht. Ich nahm mir vor, es später nachzusehen.
»Dann glaubst du es also auch«, sagte ich in der Hoffnung, er würde nicht weiter nachbohren.
»Vater glaubt es nicht. Er sagt, die Kausalität ist ein Stolperstein, den man mit der Zeit überwinden wird. Sie ist der Grund, weshalb das Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit schwierig ist, aber unmöglich ist es deshalb noch lange nicht. Eines Tages werden wir herausfinden, wie man sie umgehen kann – und dann lassen wir alles hinter uns. Die Goldene Stunde kann mir dann gestohlen bleiben – die wird für uns alle eh nicht ausreichen.«
Obwohl er nicht nett zu mir war und obwohl er mich neckte, war er doch mein wahrer Freund, der Einzige, mit dem ich wirklich spielte. Die geklonten Spielgefährten, die mir das Personal bisweilen schickte, waren mir zu fügsam, zu unterwürfig und hielten dem Vergleich mit einem richtigen Jungen nicht stand. Wenn ich gegen sie gewann, dann wusste ich, dass sie kapituliert hatten. Bei meinem Freund von der anderen Seite der Goldenen Stunde hatte ich nie dieses Gefühl – wenn ich ihn besiegte, dann deshalb, weil ich besser war als er.
Je näher wir dem Spielzimmer kamen, desto freundlicher und umgänglicher wurde er. Das kam daher, dass seine Gedanken zum Puppenpalast wanderten. Ohne meine Zustimmung konnte er ihn nicht betreten. Deshalb meinte er auch, ich sähe hübsch aus und ihm gefielen die schwarzen Bänder in meinem Haar.
Der Palast war in einem eigenen Raum untergebracht, der sich innerhalb des großen Spielzimmers befand. Techniker in grünen Overalls hatten ihn gebracht und installiert. Hin und wieder kamen sie nach ihm sehen und brachten dann einen Kasten voller funkelnder, labyrinthartiger Platten mit, die sie in die Schlitze in der Palastverkleidung schoben. Inzwischen wusste ich, dass ich nicht das einzige Mädchen auf der Welt war, das ein solches Spielzeug sein Eigen nannte, denn es war eins von mehreren Prototypen. Man hatte mir gesagt, der Puppenpalast habe noch Kinderkrankheiten, weshalb er auch – obwohl ich ihn bereits vor einem Jahr geschenkt bekommen hatte – noch nicht für die Massenproduktion zugelassen sei.
Der Palast füllte das Zimmer nahezu vollständig aus. Von außen sah man einen grünen Kubus, geschmückt mit Reliefs, die Burgen und Paläste, Ritter und Prinzessinnen, Ponys und Drachen und Seeschlangen darstellten. An der einen Seite war ein Eingang, der durch die dicke Wand in einen Raum führte. Als ich den Raum zum ersten Mal betreten hatte, war mir schwindlig geworden, und einen Moment lang bewegten sich meine Gedanken auf der halluzinatorischen Kreisbahn von Déjà-vus. Beim zweiten Mal ging es schon besser, und beim dritten Mal spürte ich gar nichts mehr, als ich durch den Eingang trat. Später erfuhr ich, dass die dicken Wände mit Gehirn-Scannern vollgestopft waren, die mit unsichtbaren Fingern meinen Schädel durchkämmten. Auch dem Jungen wurde beim ersten Mal schwummrig – dabei beobachtete ich ihn mit sadistischem Vergnügen -, doch mit jedem Besuch wurde auch er immer weniger in Mitleidenschaft gezogen. Das kam daher, dass der Palast sich unsere Gehirnstruktur merkte und seine Scan-Methoden entsprechend verfeinerte.
Der Raum war leer und zugleich voller Rätsel und Wunder. In der Mitte des von grünen Wänden umschlossenen Raums stand ein Palast – ein mittels Gehirnmanipulation erzeugtes Phantasiegespinst. Er stand auf einem unglaublich schroffen Berg, an dessen Hängen sich ein tückischer Serpentinenpfad emporschlängelte, der über Brücken führte, die tosende Schluchten überspannten, durch gewundene Tunnel hindurch und stellenweise über schwindelerregende Felsleisten hinweg, bis er schließlich über eine funkelnde Zugbrücke in den Palast mündete. Der Palast ragte beinahe bis in die Wolken auf, blassrosa und blassblau wie die Zuckerglasur einer Geburtstagstorte, versehen mit Türmen und Türmchen, Zinnen und Bergfrieden. Er war das märchenhafte vertikale Gegenstück meines eigenen Hauses, und vom ersten Moment an sehnte ich mich danach, zu erfahren, was darin vorging.
Der Palast machte das möglich. Eigentlich gab es gar kein Entrinnen. Hinter den Fenstern, auf den Gesimsen und Türmen bewegten sich winzige Gestalten. Alles wirkte vollkommen realistisch, leuchtete aber so intensiv wie Buntglas oder die kolorierten Zeichnungen in einem Buch, durch dessen Seiten das Licht hindurchscheint. Ich hatte schon animierte Figuren im Infowürfel gesehen, doch im Vergleich zum Palast wirkten sie eher verschwommen, flach und leblos. Die kleinen Menschlein im Palast waren lebendig; sie bewegten sich, als besäßen sie ein Eigenleben.
Bei meinem ersten Besuch hatte ich die Prinzessin bemerkt, die in einem blauen, mit gelben Sternen besetzten Kleid ganz allein für sich auf der höchsten Zinne saß und sich das lange goldene Haar kämmte. Später – und so traf ich sie auch heute an – machte sie sich mit Nadel und Faden an einer Stickerei zu schaffen, die sie auf dem Schoß hatte. Obwohl sie nicht größer war als ein Fingernagel und so weit weg, dass ich nicht einmal ihren Gesichtsausdruck hätte erkennen können, wenn es sich um eine Abbildung in einem Buch gehandelt hätte, sah ich selbst die feinsten Details ihres Gesichts klar und deutlich vor mir. Ihre Haltung drückte große Trauer und unaussprechliche Sehnsucht aus, und ich verstand nicht, wie man an einem solchen Ort leben konnte, ohne vor Glück zu strahlen. Der Palast spürte das anscheinend auch, denn auf einmal hatte ich mich in die Prinzessin verwandelt. Ich saß auf dem Balkon, trug ihr Kleid, arbeitete mit Nadel und Faden und schaute auf eine märchenhafte Landschaft hinaus. Nicht nur meine Wahrnehmungsperspektive hatte sich geändert, so dass sie nun der dieser kleinen, sitzenden Gestalt entsprach. Ich befand mich tatsächlich in ihrem Kopf und dachte ihre Gedanken. Wie in dem kurzen Moment vor dem Aufwachen, da wir einen ganzen Traum zusammenfabulieren, verfügte ich über sämtliche Erinnerungen, die sie im Laufe ihres Lebens gesammelt hatte, angefangen von ihrer Geburt in einem der höchsten, hellsten Räume des Palasts, an einem Frühlingstag, da die Wildgänse nach Norden flogen. Ich kannte die Geschichte ihres Königreichs, wusste Bescheid über die Gesellschaft, in die sie hineingeboren worden war, und den beschwerlichen Weg, den sie bis zur Thronbesteigung würde zurücklegen müssen. Ich wusste, dass ihr Vater, der König, bei einer Schlacht mit der Nachbarprovinz ums Leben gekommen war. Obwohl es mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen war, erspähte ich am Horizont, weit, weit weg, das Gegenstück dieses Palasts, das eingehüllt war in die flüchtigen Erscheinungsformen dunkler Magie.
Ich war zur Prinzessin geworden und in ihre Welt geschlüpft, doch zugleich war ich immer noch Abigail Gentian und betrachtete alles von außen. Ich verfügte über ihre Erinnerungen, doch meine eigenen waren immer noch gültig und mir nach wie vor gegenwärtig. Zwischen beiden Ebenen hin und her zu wechseln und mich nach Belieben in die Prinzessin oder Abigail zu verwandeln, war eine Frage der geistigen Konzentration. Der Palast half mir anscheinend, denn schon bald fiel mir der Vorgang nicht schwerer, als zu blinzeln.
An der Tür wurde geklopft, mit behandschuhter Hand an schwerem Eichenholz. Ich hatte in der Ecke an einer Stickerei gearbeitet, das geliebte Stickzeug lag auf meinem Schoß. Ich legte die Arbeit weg und schaute mich um. Ein Palastwächter trat ein, knallte die gespornten Absätze auf den Steinboden und salutierte. »Ich bitte um Verzeihung, Herrin, aber es ist eine Nachricht eingetroffen. Der Haushofmeister hat mich angewiesen, sie Euch unverzüglich zu überbringen.«
»Ist gut, Lanius«, sagte ich. »Gib mir die Nachricht. Ich werde sie auf dem Balkon lesen; es ist noch hell.«
Ich hatte mich zu der Antwort gedrängt gefühlt, so als hätte man mich mitten in der Vorstellung auf eine Theaterbühne geschubst, und ich wollte das Publikum nicht enttäuschen. Allerdings konnte ich nicht genau sagen, ob ich die Worte selbst gewählt hatte, oder ob sie mir vom Puppenpalast in den Mund gelegt worden waren. Ich hatte den Namen des Mannes gleich gewusst; ich spürte sogar undeutlich, dass wir im Palast zusammen ein Abenteuer bestanden hatten, über das wir freilich jetzt nicht sprechen wollten.
Ich nahm die handgeschriebene Nachricht entgegen, brach das Wachssiegel und faltete das Blatt Papier auseinander. Der Brief war von meinem Stiefbruder Graf Mordax, der in der Schwarzen Burg lebte. Meine Hände zitterten, als ich die niederschmetternden Neuigkeiten las. Ein Stoßtrupp des Grafen hatte meine Hofdame gefangen genommen; jetzt war sie im Verlies der Schreie eingesperrt. Als Gegenleistung für ihre Freilassung verlangte er von mir, den Aufenthaltsort meines Onkels, des königlichen Zauberers Calidris, preiszugeben, der, nachdem er der Zauberei abgeschworen hatte, als einfacher Hufschmied in einem abgelegenen Weiler des Königreichs lebte.
»Er will Calidris’ Zauberkräfte für seine üblen Zwecke nutzen«, erklärte ich. »Obwohl er nur die besten Absichten verfolgte, hätte Calidris mit seiner Magie das Königreich beinahe entzweigerissen. Aber ich werde meinen Onkel nicht verraten. Oder glaubst du, das bin ich der Hofdame schuldig?«
Während ich sprach, schloss ich das Nähetui. Bis auf eine hatte ich alle Nadeln für meine Stickerei gebraucht. Nur die kleinste, die Blutnadel, lag noch darin.
»Ich bitte um Nachsicht, Herrin, doch der Waffenmeister ersucht um die Erlaubnis, heute Nacht ins Gebiet des Grafen reiten zu dürfen. Es heißt, auf einer Lichtung im Wald der Schatten lagere ein Trupp von Prinz Araneus’ Männern. Mit der Unterstützung dieser Männer besteht gute Aussicht, die Schwarze Burg einzunehmen.«
»Prinz Araneus’ Männer wollen von unserem Zwist mit Mordax bestimmt nichts wissen. Der Prinz hat eigene Probleme.«
»Er erinnert sich an den Gefallen, den wir ihm bei der Schlacht der Sieben Sümpfe erwiesen haben. Und selbst wenn der Prinz das vergessen haben sollte, für seine Männer gilt das gewiss nicht.«
»Das riecht nach einer Falle, Lanius. Oder bin ich die Einzige, die so denkt?«
»Ihr tut gut daran, Vorsicht walten zu lassen. Aber wenn wir handeln wollen, muss es rasch geschehen. Der Waffenmeister hat gesagt, wir müssten den Wald der Schatten bis Sonnenuntergang erreichen, sonst würden seine Männer der Zauberin des Schlangentors erliegen.«
»Ich glaube, ich sollte mit Cirlus sprechen.«
»Er ist bei seinen Leuten und bereitet ihre Rüstungen vor. Soll ich ihn rufen, Herrin?«
»Nein, ich möchte ihn bei seinen Vorbereitungen nicht unnötig stören. Geleite mich zur Waffenkammer, Lanius. Lass Daubenton rufen. Auf dem Weg dorthin werden wir über Graf Mordax sprechen. Ich fürchte, keiner versteht meinen Stiefbruder besser als er.«
Obwohl ich mich in die Prinzessin verwandelt hatte und vollständig in ihrem Leben aufging, wusste ich noch immer, wer ich war. Es war, als befände ich mich in einem hyperrealistischen Traum, aus dem ich, wenn ich wollte, jederzeit erwachen konnte. Deswegen wurden die Aufregung und die Gefahr nicht von Ängsten begleitet. Ich wusste, alles war nur ein Spiel, und nichts, was innerhalb des grünen Kubus vor sich ging, konnte mir etwas anhaben.
Der kleine Junge hatte sich auf der Stelle dafür begeistert. Als ich ihm den Palast zeigte, hatte ich mich in der Rolle der Prinzessin bereits behaglich eingerichtet. Ich hätte auch in die Persönlichkeit jedes anderen Palastprotagonisten schlüpfen können, fühlte mich meiner flachshaarigen Schwester jedoch besonders verbunden.
»Ich bin die Prinzessin«, sagte ich und zeigte auf die Figuren. »Du kannst dir aussuchen, wer du sein willst, mit Ausnahme der Prinzessin.«
»Weshalb sollte ich Prinzessin sein wollen?«
»Ich meine ja nur.«
»Kann man die Persönlichkeit wechseln, nachdem das Spiel begonnen hat?«
Ich nickte. »Du musst dich nur stark konzentrieren und dich in den Kopf der betreffenden Figur hineinversetzen. Aber sie muss sich im selben Raum aufhalten wie du. Wenn du in einem Verlies steckst, kannst du dich nicht in einen Wächter verwandeln und ihn zwingen, die Tür zu öffnen.« Ich war bereits von einer Figur zur anderen gewechselt, um die Palastregeln auszuprobieren, doch dann war ich wieder zur Prinzessin zurückgekehrt. »Und du kannst nicht ständig wechseln – man muss so lange bei einer Person bleiben, bis das Spiel entscheidet, dass es genug ist.«
»Was ist mit der anderen Burg, die man in der Ferne sieht?«
»Das ist die Schwarze Burg. Dort lebt Graf Mordax. In der Welt des Puppenpalasts ist er mein Stiefbruder.«
»Ich will der Graf sein.«
»Das geht nicht. Du musst dir jemanden aus dem Wolkenpalast aussuchen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Du musst jemanden sehen, um ihn spielen zu können. Graf Mordax ist zu weit weg.«
Trotz mehrerer Versuche war es den Mannen des Waffenmeisters noch nicht gelungen, die Schwarze Burg zu erreichen. Am ersten Abend hatte sich herausgestellt, dass die Männer, die im Wald der Schatten lagerten, Soldaten des Grafen Mordax waren, die sich als Prinz Araneus’ Kämpfer verkleidet hatten. Sie hatten unsere Männer in einen Hinterhalt gelockt und viele von ihnen erschlagen. Waffenmeister Cirlus hatte sich nach der Niederlage seiner Streitmacht zurückgezogen. Er hatte noch zwei weitere Versuche unternommen, die Burg zu erstürmen und meine Hofdame zu befreien, war aber beide Male zurückgeschlagen worden und hatte schwere Verluste an Männern und Pferden hinnehmen müssen. Währenddessen durchkämmten die Leute des Grafen Mordax die Weiler und Dörfer und suchten nach dem versteckten Zauberer Calidris. Über kurz oder lang würde Calidris seine Magie einsetzen müssen, um nicht entdeckt zu werden.
»Es muss doch irgendwie möglich sein, dass ich Graf Mordax werde«, sagte der Junge.
»Das ist ein Bösewicht«, erwiderte ich erstaunt. »Weshalb willst du unbedingt der Graf sein?«
»Du hältst ihn für einen Bösewicht. Er selbst sieht das sicher anders.«
»Er hat meine Hofdame entführt. Er will sie erst dann freilassen, wenn er weiß, wo Calidris sich aufhält.«
Er erkundigte sich, was ich unternommen hätte, um die Hofdame zu befreien. Ich erzählte ihm von Calidris und unseren gescheiterten Versuchen, die Schwarze Burg zu erstürmen.
»Dann musst du die Sache anders angehen. Wenn ich Mordax wäre, könnte ich sie freilassen, nicht wahr?«
Ich versuchte ihm zu erklären, dass der Palast ihn verändern würde, dass er denken und fühlen würde wie Mordax, doch das war gar nicht so einfach. Jedenfalls wischte er meine Argumente mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit beiseite.
»Ich will immer noch er sein.«
»Das geht nicht – er kommt nicht in die Nähe des Wolkenpalasts, und er lässt uns nicht in die Nähe der Schwarzen Burg.«
»Wie wär’s, wenn wir einen Boten zu ihm schicken würden?«
»Er würde dich töten.«
»Ich gebe mich als Spion aus und behaupte, ich wüsste, wo der Zauberer sich aufhält. Dann wird er mich nicht töten, jedenfalls nicht, bevor er mit mir gesprochen hat. Dann kann ich zum Grafen werden.«
»Vielleicht wird er dich nicht persönlich empfangen.«
»Dann verwandele ich mich eben in den Mann, der mich verhört, und arbeite mich nach und nach bis zum Grafen durch.«
»Ich weiß nicht«, meinte ich skeptisch. Bislang hatte der Palast mir ganz allein gehört. Wenn ich damit spielte, beeinflusste ich allein den Gang der Ereignisse und verfügte über den beschränkten, aber schlauen Verstand der Maschine, die ihre endlosen Schemata abarbeitete. Wenn der kleine Junge ins Spiel eintrat und die Persönlichkeit des Grafen Mordax annahm, würde sich meine Vorstellungswelt verändern. Ein anderer menschlicher Verstand würde den Ausgang beeinflussen. Es war eine Sache, von einer Maschine besiegt zu werden, doch einem anderen Kind wollte ich mich nur ungern geschlagen geben.
Andererseits wollte ich meine geheime Welt auch mit ihm teilen.
»Wir können jetzt reingehen«, sagte ich, »aber im Palast dauert alles. Die Zeit wird vielleicht nicht reichen, um vor deiner Abreise zur Schwarzen Burg zu reiten.«
»Aber ich kann mich wenigstens umschauen«, erwiderte der kleine Junge. »Ich kann Pläne schmieden, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte ich. »Schmiede meinetwegen so viele Pläne, wie du willst. Aber das wird am Ende auch nichts ändern.«
»Warum nicht?«
»Weil ich trotzdem gewinnen werde.«