Eins
Ich hob das Glas,
von der Szenerie bereits trunken, bevor auch nur ein Tropfen meine
Lippen berührt hatte.
»Auf die zukünftige
Sicherheit Ihrer Zivilisation und Ihres Sonnensystems, Herr
Nebuly.«
»Auf Ihre
Zivilisation«, sagte Portula, die mir gegenüber saß.
»Danke«, sagte Herr
Nebuly.
Wir saßen am Strand
und genossen den warmen Abend mit einem Glas Wein. Die Nacht auf
der Zentaurenwelt war anders als auf anderen Planeten. Da die Welt
um einen Stern mit starker UV-Strahlung kreiste, hatten Transformer
die Atmosphäre mit einer Schutzhülle umgeben – einem transparenten
Schutzschirm, den die Zentauren im Unterschied zu dem Schutzpanzer,
der nötig geworden wäre, wenn das Haus der Nachtfalter sein
Sonnensystem verlegt hätte, duldeten. Tagsüber filterte der
Schutzschirm lediglich die Strahlung und milderte das grelle blaue
Leuchten. Nachts aber verstärkte er das Licht selbst der
schwächsten Sterne und Gaswolken so weit, dass die Farbrezeptoren
des menschlichen Auges darauf ansprachen. Die Milchstraße war ein
leuchtendes, knöchernes Rückgrat, das sich von Horizont zu Horizont
spannte. Die Überreste einer nahen Supernova waren als rubinroter
Fleck zu sehen, der an den ausfasernden Rändern in Schwarz
überging. Der Pulsar in seinem Zentrum war ein blitzendes
Leuchtfeuer. Eine Gruppe blauer Sterne, die nur ein paar hundert
Lichtjahre entfernt war, funkelte wie ein Haufen Edelsteine. Die
Zwergsterne im Umkreis von einigen wenigen Lichtjahren leuchteten
in warmen Bernstein- und Goldtönen und versprachen Leben und
Zuflucht und die zehn Milliarden Jahre währende Stabilität eines
langsam ablaufenden Fusionszyklus. Selbst die Absenz konnte man
sehen, jenen daumengroßen Fleck sternen- und galaxienfreier
Dunkelheit in der Richtung, wo früher einmal Andromeda gelegen
hatte.
Der Himmel war
wunderschön, so farbenprächtig wie eine Vision unter Drogen, doch
ich wollte nicht an die Absenz denken. Sie erinnerte mich an das
Versprechen, das ich Doktor Meninx gegeben und nicht eingelöst
hatte und dessen Erfüllung jetzt an einem hauchdünnen Faden
hing.
Die Zentauren waren
meine letzte Hoffnung.
»Und Sie sind sich
wirklich sicher, dass uns der Sternendamm in Zukunft keinen Anlass
zur Sorge geben wird, Splitterling Campion?«, fragte der
Vierbeiner, der bei unserem Tisch stand.
»In dieser Hinsicht
können Sie ganz beruhigt sein, Herr Nebuly. Ihre Zivilisation ist
wieder sicher.«
»Nicht dass sie
jemals in ernster Gefahr gewesen wäre«,
sagte Portula und schwenkte den Wein in ihrem Glas. »Das wollen wir
doch mal klarstellen.«
Ich lächelte. »Ein
Leck im Sternendamm darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen,
doch inzwischen ist der Schaden behoben. Wir haben den Damm gebaut;
wenn etwas schiefgeht, setzen wir ihn instand. So halten es die
Angehörigen der Familie Gentian.«
»Sie können
sicherlich nachvollziehen, weshalb wir uns Sorgen gemacht haben.
Als man uns die übrigen Überlebensstrategien vorgestellt hat, wurde
ausdrücklich betont, die Reparatur des Sternendamms stelle das
kleinste Risiko dar.«
»Und so war es
auch«, sagte ich.
Vor anderthalb
Millionen Jahren war in wenigen Lichtjahren Entfernung von der
Heimatwelt der Zentauren ein supermassiver Stern instabil geworden.
Die Wiedergeburtshelfer hatten versucht, mit Wurmlöchern Materie
aus dem Sterninnern abzusaugen, doch der hohen Dichte und den
gewaltigen Temperaturen hatten die Geräte, welche die Wurmlöcher
offen hielten, nicht standgehalten. Der Eingriff der Transformer
konnte die Biosphäre der Zentauren nicht schützen. Somit gab es,
abgesehen von einer kompletten Räumung des Systems, nur noch zwei
Alternativen. Die Mellicta-Familie, das Haus der Nachtfalter, war
spezialisiert auf die Verlegung von Sternen. Sie schlugen vor,
entweder den instabilen Stern oder das ganze System zu verlegen,
und erboten sich, dies kostenlos zu bewerkstelligen, wenn die
Zentauren ihnen als Gegenleistung exklusive Handelsrechte für die
nächsten zwei Millionen Jahre einräumten. Beide Vorhaben waren
nicht ohne Risiko. Bei der Verlegung eines Sterns ging es darum,
ihn aus dem galaktischen Gefüge zu entfernen, bevor er kritisch
wurde, doch es war schon vorgekommen, dass ein solcher Stern
vorzeitig explodiert war. Das Sonnensystem der Zentauren ließ sich
problemlos verlegen, doch man hätte den Planeten einkapseln müssen,
um ihn für die Dauer der Reise vor der Strahlung und den
Materietrümmern des interstellaren Raums zu schützen. Das hielten
die Zentauren für unannehmbar, denn sie fürchteten sich vor dem
Eingeschlossensein.
Um diese Zeit herum
hatte die Familie Gentian, das Haus der Blumen, Bekanntschaft mit
den Zentauren gemacht. Da wir danach trachteten, unser Ansehen bei
der Körperschaft zu mehren, schlugen wir ihnen vor, ihr
Sonnensystem an Ort und Stelle zu belassen und sie gleichzeitig vor
dem kränkelnden Stern zu schützen. Man könne um den Superriesen
einen Sternendamm errichten. Wenn der Stern explodiere, würde die
Energie vom Damm absorbiert und auf ewig in einem Schutzschirm aus
idealen Spiegeln eingeschlossen werden.
Die Zentauren waren
von Natur aus äußerst skeptisch. Die Familie Gentian aber konnte
auf einige Erfahrung mit derlei Vorhaben verweisen. Wenn sie sich
unter den übrigen Angehörigen der Körperschaft durch besondere
Kompetenzen hervortat, dann auf dem Gebiet der Sternendämme. Wir
stellten sie schon seit Dutzenden Umläufen her – seit Millionen von
Jahren.
Zum Zeitpunkt der
Verhandlungen mit den Zentauren war noch kein von der Familie
Gentian errichteter Sternendamm jemals
zusammengebrochen.
Das war freilich nur
zu einem geringen Teil unser eigenes Verdienst. Wir bauten die
Dämme, aber das bedeutete lediglich, dass wir die Fertigteile
zusammenfügten, welche die Früheren uns hinterlassen hatten. Sie
hatten die eigentliche Arbeit geleistet. Sie hatten Millionen von
Ringwelten geschmiedet, große und kleine, und sie wie Reifen um die
Sterne geworfen. Dann hatten sie sie aufgegeben und waren
ausgestorben.
Etwa eine Milliarde
Jahre später begannen wir sie einzusammeln. Wir durchkämmen den
Weltraum nach den Signaturen verwaister, sternenloser Ringwelten.
Wir fixieren Schubstationen an ihrer dunklen Seite und bugsieren
sie mit einem kläglichen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit durch
die Galaxis. Dabei muss man sehr behutsam vorgehen, sonst brechen
sie in zahllose funkelnde Fragmente auseinander. Ringwelten sind
unglaublich stabil, aber nicht unzerstörbar. Ihre hervorstechende
Eigenschaft ist ihr Glanz. Im ganzen bekannten Universum gibt es
nichts Glänzenderes. Die verspiegelte Innenfläche reflektiert
alles, sogar Neutrinos, die ansonsten mühelos fünfzig Lichtjahre
dicke Bleiplatten durchfliegen können.
Um einen Stern
einzudämmen, ihn vollständig zu umhüllen, ist eine Konstruktion
nach Art einer Dyson-Sphäre erforderlich. Menschen vermögen einen
Stern mit einem Schwarm künstlicher Himmelskörper einzuhüllen,
einer Dyson-Wolke, aber eine Sphäre können wir nicht errichten. Wir
nähern ihr uns an, indem wir einen Stern mit Tausenden Ringwelten
umgeben, alle von vergleichbarer Größe, aber mit unterschiedlichen
Durchmessern. Wir formen einen Diskus und neigen ihn so lange, bis
jede Ringwelt einen bestimmten Winkel zum Stern einnimmt. Während
die Ringwelten allmählich ihre endgültige Position einnehmen,
bricht das Sternenlicht durch die sich verengenden Lücken. Die
flammende, tödliche Laterne verdunkelt sich immer
mehr.
Dann auf einmal gibt
es keinen Stern mehr, nur noch eine dunkle Sphäre. In der Schale
toben die reflektierten Energien des sterbenden Sterns und
schwirren so lange zwischen den idealen Spiegeln umher, bis die
Photonen mit einer Intensität, die keinen Schaden mehr anrichten
kann, nach und nach in den Weltraum entweichen.
Dieser Vorgang
erstreckt sich über einen unermesslich großen Zeitraum. Sollte der
Sternendamm zusammenbrechen, bevor die aufgestaute Energie sich
zerstreut hat, wären die Folgen ebenso katastrophal wie die der
Explosion, vor der der Damm eigentlich schützen
sollte.
Als ich sagte, wir
hätten die lokale Zivilisation gerettet, habe ich übertrieben, doch
das soll nicht heißen, dass es mit dem Sternendamm keine Probleme
gegeben hätte. Eine der Schubstationen – so nannte man die Geräte,
welche die Ringwelten in Position hielten – drohte auszufallen. Im
Damm hatte sich eine augenförmige Lücke geöffnet, durch die das
Licht hindurchströmte.
Ich wurde mit der
Instandsetzung beauftragt. Eine neue Schubstation folgte meinem
Schiff Bummelant seit der letzten
Reunion wie ein Schoßhündchen. Im Frachtraum befanden sich die
miteinander verbundenen Messingkugeln, die als Einmalöffner
bezeichnet wurden, ein Gerät, das auf den speziellen Sternendamm
zugeschnitten war und eine begrenzte Neujustierung der darin
verborgenen Mechanismen ermöglichte. Vor dem Besuch bei den
Zentauren hatte ich den Öffner eingesetzt – nach Auslösung des
Gravitonen-Impulses war er zu funkelndem Staub zerfallen – und die
neue Schubstation installiert. Im Verlauf mehrerer Tage hatte sich
das Auge geschlossen und der Damm war wieder
versiegelt.
Unsere Arbeit war
getan. Portula war der Ansicht, es wäre angebracht gewesen,
abzureisen, ohne die Zentauren zu besuchen und damit an ihre
Dankbarkeit zu appellieren.
Damit hatte sie
zweifellos Recht gehabt.
»Sie haben eine gute
Wahl getroffen, als Sie sich für den Sternendamm entschieden
haben«, sagte Portula, die sich vermutlich bewusst war, dass sie
mit einem fernen Nachkommen jener Wesen sprach, mit denen unsere
Familie als Erstes Handel getrieben hatte. »Aber Sie hatten auch
Recht damit, Ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck zu verleihen, dass
es überhaupt erst zu dem Defekt gekommen ist.«
Herr Nebuly scharrte
mit dem Huf. »Es ist ja nichts passiert.«
»Nichtsdestoweniger
möchte ich mich im Namen der Familie entschuldigen und Ihnen
versichern, dass sich dergleichen nicht mehr wiederholen wird.«
Portula machte kein Geheimnis daraus, dass auch sie ein
Splitterling der Familie Gentian war. Wenngleich die Familie es
missbilligte, wenn wir uns während der Umläufe miteinander
einließen, so waren unsere Gastgeber doch aus gutem Grund für ihre
Diskretion bekannt. »Wenn die Familie Gentian«, fuhr sie fort,
»noch etwas für Ihre Zivilisation tun kann, werde ich das Thema
gerne bei unserer nächsten Reunion ansprechen. Sie waren sehr
liebenswürdige Gastgeber – so viel Freundlichkeit hatten wir gar
nicht verdient. Die Arrangements, die Sie für unseren Gast Dr.
Meninx getroffen haben …«
»Wo wir gerade vom
Teufel sprechen«, sagte ich und nahm ein antikes Fernglas vom
Tisch.
»Ist er das?«,
fragte Herr Nebuly.
»Wie er leibt und
lebt.«
»Er reist in einem
höchst merkwürdigen Apparat. Welche Funktion haben diese
kreisförmigen, sich drehenden Dinger an der Seite?«
»Das sind Räder«,
antwortete Portula.
»Das ist seine
Bademaschine«, sagte ich.
Die Bademaschine war
ein verrosteter schwarzer Rhomboid, der auf vier voneinander
unabhängige Fahrgestelle montiert war. Er war aus dem Frachtraum
meines Schiffes aufgetaucht, die Laderampe heruntergerollt und
schwerfällig und qualmend zwischen den flachen, weit verteilten
Gebäuden der verschlafenen Küstenstadt hindurch zu der alten
Ufermauer aus rissigem Beton gefahren. Über eine abschüssige
Helling war er auf den Strand und ins Meer gerollt, bis das Wasser
über die Räder reichte. An der Vorderseite des Dachs hatte sich
eine Tür aufgefaltet, so dass das Meerwasser ins Innere schwappen
konnte.
Das tintige Meer war
mitternachtsblau und schimmerte von Mikroorganismen. Die Wellen
schäumten rosafarben und kirschrot, wenn sie über den gelbweißen
Sand spülten. In der Hoffnung, einen Blick auf den badenden Doktor
Meninx zu erhaschen, richtete ich das Fernglas auf das Heck der
Bademaschine. Leider sah ich nur eine muschelbesetzte Gestalt von
der Maschine fortgleiten. Ehe ich mehr als nur rudimentäre Details
hatte wahrnehmen können, war sie auch schon untergetaucht. Die Tür
schloss sich, und die Bademaschine rollte zurück an den
Strand.
»Dürfte ich fragen,
wie Sie die Bekanntschaft dieses ungewöhnlichen Exemplars gemacht
haben, Splitterling? Es ist lange her, dass wir jemanden wie Doktor
Meninx zu Gesicht bekommen haben – mindestens siebenhunderttausend
Jahre.«
»Das ist nicht mein
Verdienst. Er wurde mir aufgedrängt.«
»Aus Ihrem Mund
klingt das wie eine Strafe.«
»Das war es auch.
Meine Familie war der Ansicht, man sollte mir Gelegenheit geben, zu
beweisen, dass ich Verantwortung übernehmen könnte. Deshalb hat man
mir einen schwierigen Gast mitgegeben.«
»Das war Campions
Pech, Herr Nebuly«, sagte Portula. »Gromwell – ein weiterer
Splitterling – tauchte bei unserer letzten Reunion in Begleitung
von Doktor Meninx auf. Gromwell suchte nur nach einer passenden
Gelegenheit, ihn jemand anderem unterzuschieben. Um diese Zeit
herum verfolgte Campion ein Vorhaben, das ihn auch zur Vigilanz
führte.«
»Sie wissen Bescheid
über die Vigilanz«, sagte ich.
Herr Nebuly blickte
zum Himmel auf, in die ungefähre Richtung der Absenz. Er trug einen
eng sitzenden Nadelstreifenanzug, der bis zu der Stelle reichte, wo
sein menschlicher Oberkörper nahtlos in das gestriegelte
Walnussbraun seines Pferdeleibes überging. »Es kommt einem so
einiges zu Ohren, Splitterling. Was nicht heißen soll, dass wir
jemals direkten Kontakt mit ihnen gehabt hätten.«
Portula trank einen
Schluck Wein. »Wie sich herausstellte, war die Vigilanz Doktor
Meninx’ Reiseziel. Abgesehen davon, dass er ein überzeugter Leugner
ist, hält er sich für einen Gelehrten der fernen
Geschichte.«
»Und so kam es, dass
Campion sich nun mit dem Doktor herumschlagen muss«, sagte Herr
Nebuly.
»Abgesehen davon,
dass ich den Sternendamm überwachen soll, wurde mir aufgetragen,
Doktor Meninx zur Vigilanz zu bringen und mich dafür einzusetzen,
dass er einen privilegierten Gelehrtenstatus erhält – das heißt,
unbeschränkten Zugang zu den Geheimarchiven und so weiter. Leugner
werden dort nicht sehr geschätzt, und besonders unbeliebt sind bei
ihnen Aquatiker, doch man ging davon aus, dass es mir gelingen
werde, sie zu überreden.«
Herr Nebuly
schwenkte den Oberkörper herum und blickte wieder aufs Meer hinaus.
Seine Miene nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. »Mir drängt sich
die Schlussfolgerung auf, dass Sie in dieser Beziehung nicht ganz
erfolgreich waren. Hab ich Recht, Splitterling?«
»Nein, es läuft
alles nach Plan«, sagte ich. »Dies ist die letzte Gelegenheit für
den Doktor, vor Erreichen der Vigilanz ein Bad zu nehmen, und die
wollte er sich nicht entgehen lassen. Übrigens möchte auch ich
Ihnen dafür danken, dass Sie die erforderlichen Vorkehrungen
getroffen haben.«
Der Zentaur deutete
mit wegwerfender Handbewegung auf die schimmernde Barriere am
Horizont, hinter der Portulas in der Luft schwebendes Raumschiff –
viel zu groß für das Landefeld – wie ein matter Silbermond am
Himmel stand. »Aber ich bitte Sie. Im Meer gibt es zwar keine
großen Raubtiere, doch es hat uns keine große Mühe bereitet, zur
Beruhigung Ihres Gastes die Bucht abzusperren. Ich hoffe, wir haben
den Salzgehalt so weit angepasst, dass er seinem Geschmack
entspricht.«
Die Unterhaltung
stockte. Herr Nebuly war nicht zum bloßen Zeitvertreib an unseren
Tisch gekommen. Er wollte mir mitteilen, wie hoch er den Wert der
Handelsgüter einschätzte, die ich zum Verkauf anbot. Von seinem
Angebot hing viel ab, wenngleich ich mich nach Kräften bemühte, ihn
davon nichts merken zu lassen.
»Es war sehr
freundlich von Ihnen, dass Sie uns einen Blick in Ihren
Datenspeicher haben werfen lassen«, sagte Herr Nebuly.
Ich nickte
ermutigend, während Portula ein angespanntes, diplomatisches
Lächeln aufgesetzt hatte. »Ich hoffe, Sie haben etwas gefunden, das
für Sie von Interesse ist.«
»Ich habe viel
Interessantes entdeckt. Sie sind weit herumgereist, haben
Informationen mit anderen Sternenfahrern ausgetauscht und großes,
teilweise unschätzbares Wissen erworben. Es war mir eine große
Ehre, Ihre Daten durchsehen zu dürfen.«
»Und haben Sie etwas
gefunden, das Sie vielleicht erwerben möchten?«
Herr Nebuly
verlagerte auf seinen eisenbeschlagenen Hufen die Haltung. »Ich
habe mehrere Dinge gefunden, Splitterling, doch ich muss gestehen,
dass vieles von dem, was Sie anzubieten haben, für mich, abgesehen
von seiner Seltenheit, keinen unmittelbaren Wert besitzt. Wären Sie
vor zwanzig Kilojahren eingetroffen, hätte es anders ausgesehen.
Doch es ist gerade mal elf Jahre her, dass wir von einem
Splitterling der Familie Gentian Besuch erhielten, und vor zwei
Jahren war ein Marcellin in unserem Sonnensystem.«
»Die Marcellins sind
wirklich überall«, sagte Portula mit zusammengekniffenen
Lippen.
»Die Datensätze, die
Sie interessieren …«
»Ich habe hier eine
Liste«, sagte der Zentaur und zog einen taschentuchgroßen
Gegenstand aus einer Tasche seines Geschäftsanzugs hervor. Er
klappte ihn auf und vergrößerte ihn auf Tischgröße. Dann ließ er
ihn in der Luft schweben, wo er dem leichten Wind trotzte. Es
handelte sich um Zeichenkolonnen in der Schriftvariante der
Uni-Sprache.
Die Familie Gentian
kannte die Zentauren bereits seit über acht Umläufen. In diesem
System lebte die dreizehnte Erscheinungsform von Menschen, die aus
den postzivilisatorischen Ruinen der vorausgegangenen Kultur
hervorgegangen war. Ihnen gehörte dieses System mitsamt einer
Handvoll transformierter Welten, doch über den Kometenring waren
sie nie hinausgekommen. Ihre Hauptwelt war ein Planet, der von
einem Riesenozean bedeckt wurde. Er hatte eine dichte, blaue
Atmosphäre aus photo-dissoziiertem Sauerstoff. Die Transformer
hatten die Atmosphäre verdünnt und ihre Aggressivität gemindert,
schwebende Landmassen auf das weltumspannende Meer herabgesenkt und
verschiedene robuste Lebensformen im sterilen Wasser ausgesetzt.
Die Gravitation war unverändert geblieben, und das war der Grund
für die vierfüßige Gestalt der Zentauren, die einen sicheren Stand
gewährleistete. Sie erinnerten sich noch vage an ihre Herkunft, was
man nicht von allen postemergenten Zivilisationen sagen konnte. Der
statistischen Vorhersage des Universalen Aktuars zufolge standen
die Aussichten für sie gut, mindestens weitere ein bis zwei
Millionen Jahre zu überleben, vorausgesetzt, dass sich ihr Ehrgeiz
in Grenzen hielt. Auf lange Sicht war die beste Strategie für einen
langen Fortbestand einer Zivilisation, einfach in seinem
Heimatsystem hocken zu bleiben oder dem Beispiel der großen
Familien zu folgen, die vom planetarischen Leben vollkommen
unabhängig geworden waren. Expansionismus funktionierte eine Zeit
lang, war aber letztlich zum Scheitern verurteilt. Obwohl sie auf
sechs Millionen Jahre ernüchternde Geschichte zurückblicken
konnten, ließen sich manche Schwellenvölker trotzdem nicht davon
abhalten, es wenigstens zu versuchen.
Wir bezeichneten das
als Wandel: die endlose, knirschende Abfolge der Reiche. Die
Zentauren hatten gut daran getan, nicht auf den Zug
aufzuspringen.
»Wie Sie sehen«,
sagte Herr Nebuly, »sind unsere Angebote nicht
unvernünftig.«
»Nein, Ihre
Bedingungen sind wirklich großzügig«, sagte ich. »Ich hatte
allerdings gehofft, Sie würden ein Angebot für die größeren Objekte
des Datenspeichers unterbreiten.«
»Ich wünschte, das
wäre möglich. Allerdings würde es wenig Sinn machen, wenn wir auf
Daten bieten würden, die wir bereits besitzen.«
»Glauben Sie nicht,
wir könnten uns irgendwo in der Mitte treffen?«
»Auch unsere
Großzügigkeit hat Grenzen, Splitterling. Wir haben den Eindruck,
die Bedingungen sind fair. Es ist bedauerlich, dass Ihr Speicher
nicht mehr Dinge enthält, die für uns von Wert sind, doch das
sollte Sie nicht davon abhalten, uns wieder zu besuchen, wenn Sie
Neuerwerbungen anzubieten haben.« Der Zentaur stockte. Drei seiner
Hufe hatten vollen Bodenkontakt, der hintere linke Huf war
abgeknickt. »Soll ich Sie einen Moment allein lassen, damit Sie
über unser Angebot beraten können?«
»Wenn es Ihnen
nichts ausmacht.«
»Ich werde in Kürze
zurück sein. Möchten Sie noch etwas Wein?«
»Nein, danke«, sagte
ich und hob die Hand.
Herr Nebuly wandte
sich um und trabte über den geschwungenen Weg davon, der an der
Strandbefestigung entlangführte. In der Ferne standen zwei weitere
Zentauren in roten Uniformen, in der Hand Stäbe mit den Wimpeln
irgendwelcher ziviler Vereinigungen.
Herr Nebuly gesellte
sich zu seinen Landsleuten und schaute geduldig zu uns
herüber.
»Wir sind erledigt«,
sagte ich, und es war mir egal, ob wir eventuell abgehört
wurden.
Portula trank ihren
Wein aus. »Es hätte schlimmer kommen können. Er möchte dir ein
Angebot unterbreiten.«
»Das ändert nichts.«
Im Orbit um die Heimatwelt der Zentauren kreisten verschiedene
Gebrauchtraumschiffe, die meisten davon standen zum Verkauf. Wenn
Nebuly die Daten in meinem Speicher gefallen hätten, hätte er mir
anbieten können, eines dieser Raumfahrzeuge zu erwerben. Mit einem
schnelleren Raumschiff hätte ich das Versprechen, das ich Doktor
Meninx gegeben hatte, einhalten und mit nur geringfügiger
Verspätung zur Reunion eintreffen können. »Ich sollte vielleicht
noch eine Weile standhaft bleiben und abwarten, ob er es sich doch
noch anders überlegt.«
»Da müsste er schon
eine Menge Zugeständnisse machen. Selbst wenn er sein Angebot
verdoppeln würde, könntest du nicht mal ein Viertelraumschiff
erwerben. Ich glaube, wir sollten Herrn Nebulys Geld annehmen. Die
Bummelant kannst du damit nicht
ersetzen, aber du kannst einen Teil der Systeme
erneuern.«
»Davon wird sie auch
nicht schneller.«
»Mit etwas mehr
Sicherheit wäre ich an deiner Stelle schon zufrieden. Wenn du sein
Angebot ablehnst, hätten wir gar nicht herzufliegen brauchen. Wir
hätten gleich die Vigilanz ansteuern und das Fischgesicht loswerden
können.«
Es war, als habe
Doktor Meninx sie gehört, denn in diesem Moment heulte der Motor
seiner Bademaschine auf und rollte wieder ins Meer. Schmutzige
Qualmwolken quollen aus den rückwärtigen Schlitzen. Ich
beobachtete, wie die Tür aufschwang und Wasser hineinströmte. Ich
überlegte, ob ich wieder zum Fernglas greifen sollte, doch meine
Neugier hatte sich verflüchtigt. Die muschelbesetzte Gestalt hob
sich für einen Moment aus den Wellen und verschwand gleich wieder
in der Bademaschine. Die Tür fiel zu, und die Maschine rollte aufs
Trockene zurück.
»Es gibt noch eine
andere Möglichkeit«, sagte ich leise.
Portula musterte
mich skeptisch. »Damit muss man bei dir immer
rechnen.«
»Vor der Landung
habe ich mir für den Fall, dass Herr Nebuly nicht so
entgegenkommend sein sollte, wie ich mir das erhoffte, einen Blick
auf die Sonnensysteme in der Nähe geworfen. Knapp hundert
Lichtjahre entfernt und mehr oder weniger auf dem Heimweg liegt ein
Sonnensystem mit Namen Nelumbium. Dem Speicher zufolge
…«
»›Dem Speicher
zufolge.‹ Wo habe ich das schon mal gehört?«
»Lass mich ausreden.
Es soll dort ein posthumanes Wesen geben, das Ateshga genannt wird.
Angeblich verfügt es über Raumschiffe, viel mehr als Nebuly, und es
wird kaum einen so hohen Preis verlangen.«
»Weshalb sind wir
nicht gleich dorthin geflogen?«
»Der Eintrag ist
nicht so aktuell, wie es mir lieb wäre, daher gibt es einen
gewissen Unsicherheitsfaktor.«
»Unsicherheitsfaktor. Das habe ich auch schon mal
gehört.«
»Außerdem hätten wir
uns noch weiter von der Vigilanz entfernt – hätten wir Nelumbium
direkt angesteuert, dann hätte es keine Möglichkeit mehr gegeben,
Doktor Meninx abzusetzen.«
»Wenn der Eintrag
nicht aktuell ist, woher willst du dann wissen, ob dieser Ateshga
überhaupt noch dort ist?«
»Ich habe das Aktuar
zu Rate gezogen – die Prognose sieht gut aus.«
Portula lehnte sich
im Weidenkorbsessel zurück und musterte mich mit ihren
unterschiedlich gefärbten Gentian-Augen. »So sieht also dein
Vorschlag aus. Du willst dich zur Vigilanz schleichen, den Doktor
abliefern und dann zu Ateshga weiterfliegen.«
»Eigentlich nicht.
Ich schlage vor, den Zwischenstopp bei der Vigilanz ganz zu
streichen.«
Eine Sorgenfalte
grub sich in ihre Stirn. »Und ihn lassen wir hier?«
»Die Entscheidung
liegt bei ihm. Wenn er möchte, nehme ich ihn bis zur Reunionswelt
mit.«
»Das wird ihm nicht
gefallen.«
»Dem gefällt
gar nichts – ist dir das schon
aufgefallen?«
Eine schmale Gestalt
näherte sich von der Bademaschine her. Als sie näher gestapft kam
und über die bröcklige Treppe zur Straße hochstieg, stellte sich
heraus, dass es sich um eine papierene Ausschneidefigur handelte –
einen mit Wasserdiamanten besetzten Harlekin. Die zweidimensionale
Gestalt – die dem Wind ebenso wirksam trotzte wie Herr Nebulys
Schriftstück – war der humanoide Avatar von Doktor Meninx. Als der
Avatar sich näherte, ließ auch Nebuly seine rot gewandeten
Zentauren stehen und kam zu uns zurückgetrabt. Er traf als Erster
ein, als der Avatar noch gut hundert Meter entfernt
war.
»Ich nehme an, Sie
sind zu einer Entscheidung gelangt, verehrte Splitterlinge«, sagte
er.
»Ich fürchte, ich
muss Ihren Vorschlag ablehnen«, sagte ich. »Das soll nicht heißen,
dass Ihre Bedingungen nicht großzügig wären, doch ich muss
realistisch sein. Ich glaube, anderswo bekomme ich einen besseren
Preis für meine Daten.«
»Sollten Sie an
Ateshga denken, würde ich Ihnen dringend abraten. Er hat einen sehr
schlechten Ruf.«
Ich rieb mir
Sandkörner aus den Augen. »Ateshga – wer ist das?«
»Nur eine Warnung,
Splitterling – es liegt an Ihnen, ob Sie sie beherzigen wollen.« Er
fuhr mit den Händen über das Brustteil seines Nadelstreifenanzugs.
»Nun, ich bedaure, dass wir nicht zu einem Abschluss gelangt sind,
doch das soll uns nicht davon abhalten, als Freunde
auseinanderzugehen. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie unsere
Welt wieder besuchen würden, und hoffen, Sie hatten einen
angenehmen Aufenthalt.«
»In der Tat«, sagte
Portula. »Sie waren ein ausgezeichneter Gastgeber, Herr Nebuly; ich
werde der Familie nur Gutes zu berichten haben.«
»Das ist sehr
freundlich von Ihnen.« Er wandte sich dem Avatar zu und verneigte
sich leicht aus der Verbindungsstelle von Menschen- und
Pferdekörper heraus. »Sie haben Ihr Bad aber schnell beendet,
Doktor. Ich hoffe, es ist zu Ihrer Zufriedenheit
ausgefallen?«
»Nein«, antwortete
der Avatar mit Piepsstimme. »Das Bad war alles andere als
zufriedenstellend, weshalb ich es baldmöglichst wieder abgebrochen
habe. Da sind Lebewesen im Wasser – dunkle, schnell schwimmende
Wesen, die mein Sonar nicht gut erkennen konnte -, und die
Temperatur und der Salzgehalt entsprachen ganz und gar nicht meinem
Geschmack.« Das Papiergesicht drehte sich in meine Richtung. »Ich
dachte eigentlich, Sie hätten die zuständigen Behörden über meine
Bedürfnisse informiert, Campion.«
Ich rutschte
unbehaglich auf dem Stuhl herum. Ich hatte die Zentauren über die
Bedürfnisse des Doktors informiert und war mir sicher, dass sie
sich nach Kräften bemüht hatten, seinen Vorstellungen gerecht zu
werden. Aber Doktor Meninx konnte man es niemals recht machen; was
man auch tat, es war nie genug.
»Es tut mir leid«,
sagte ich. »Ich bin wohl mit den Zahlen durcheinander gekommen. Ich
fürchte, es war alles meine Schuld.«
»Die Schuld weise
ich zu, wie es mir beliebt«, sagte der Avatar. »Dabei habe ich mich
so auf das Bad gefreut. Aber das lässt sich nun nicht mehr ändern;
in Kürze werde ich diese trübselige Welt verlassen und meine
Odyssee zur Vigilanz fortsetzen. Vielleicht weiß man ja dort, was
man einem Gast schuldig ist.«
»Ich bin sicher,
Herr Nebuly hat sein Bestes getan«, sagte ich.
»Ja, wahrscheinlich
schon«, sagte der Avatar, als wäre unser Gastgeber gar nicht
anwesend.
Der Moment, den ich
gefürchtet hatte, seit Herr Nebuly sein Urteil über meinen
Datenspeicher gesprochen hatte, war gekommen. Ich konnte ihn nicht
länger hinausschieben, obschon ich nichts lieber getan hätte, als
ins Meer zu gehen und bis zum funkelnden Horizont zu schwimmen, wo
die Barriere mich je nach ihrer Beschaffenheit entweder hätte
abprallen lassen oder mich betäubt, verwundet oder einfach nur
annihiliert hätte.
»Doktor Meninx«,
sagte ich nach einem tiefen, stärkenden Atemzug, »wir möchten etwas
mit Ihnen besprechen.«