ERSTER TEIL
Ich wurde geboren in einem Haus mit zahllosen Räumen,
errichtet auf einer kleinen, atmosphärelosen Welt am Rande vom
Reich des Lichts und des Handels, das die Erwachsenen aus mir
unerfindlichen Gründen »Goldene Stunde« nannten.
Damals war ich ein
Mädchen, ein Individuum mit Namen Abigail Gentian.
Im Laufe meiner
dreißigjährigen Kindheit sah ich nur einen kleinen Teil des
unermesslichen, verschachtelten, in unaufhörlicher Verwandlung
begriffenen Hauses. Auch als ich älter wurde und über die
Berechtigung verfügte, nach Belieben umherzustreifen, erkundete ich
wohl kaum ein Hundertstel des Gebäudes. Die langen, abweisenden
Gänge aus Spiegeln und Glas und die korkenzieherartig gewundenen
Treppen, die aus dunklen Kellern und Gewölben aufstiegen, welche
nicht einmal von den Erwachsenen betreten wurden, schüchterten mich
ein, in den Räumen und Salons spukte es angeblich – auch wenn die
Erwachsenen und Bediensteten in meiner Gegenwart nie davon sprachen
-, oder sie waren aus irgendeinem Grund nur für den vorübergehenden
Aufenthalt geeignet. Die Aufzüge und das tumbe Personal
erschreckten mich, wenn sie sich ohne ersichtlichen Grund aufgrund
einer unbegreiflichen Laune der Hauspersönlichkeit in Bewegung
setzten. Es war ein Haus der Gespenster und Monster, in dessen
Schatten Ghule lauerten und hinter dessen Wandvertäfelung Dämonen
ihr Unwesen trieben.
Ich hatte nur einen
wahren Freund; seinen Namen habe ich vergessen. Hin und wieder
besuchte er mich, aber immer nur kurz. Ich durfte seine Annäherung
und das Andocken seines Privatshuttles von einem verglasten Ausguck
in der Spitze des höchsten Turms aus mitverfolgen. Ich freute mich
immer, wenn Madame Kleinfelter es mir gestattete, den Aussichtsturm
zu betreten, und das nicht nur deshalb, weil dieses Ereignis das
Eintreffen meines einzigen wahren Gefährten ankündigte. Denn vom
Ausguck aus konnte ich das ganze Haus und einen großen Teil der
Welt überblicken, auf der es errichtet war. Das Haus bog sich in
alle Richtungen von mir weg, bis es an die scharfe Krümmung des
zerklüfteten Planetoidenhorizonts stieß, ein schmaler Gesteinsrand,
der die Grenze meines Zuhauses markierte.
Es war ein seltsames
Gebäude, wenngleich es mir lange an Vergleichsmöglichkeiten fehlte.
Es war ohne erkennbaren Plan errichtet worden, es wies keine Spur
von Symmetrie oder Harmonie auf – und falls doch, so war sie unter
den zahllosen An- und Umbauten verschwunden, die noch immer nicht
zum Abschluss gekommen waren. Obwohl der Planetoid keine Atmosphäre
besaß und es daher auch kein Wetter gab, war das Haus so gebaut,
als gehörte es auf eine Welt, wo es regnete und schneite. Jeder
Teil davon, jeder Flügel und jeder Turm, war gekrönt von einem
steilen, mit blauen Schindeln gedeckten Dach. Es gab Tausende
Dächer, die in willkürlichen, beunruhigenden Winkeln
aneinanderstießen. Die chaotische, an Dinosaurierrücken erinnernde
Dachlandschaft war mit Schornsteinen, Aussichtsund Uhrentürmen
durchsetzt. Manche Teile des Hauses waren nur ein- oder
zweistöckig; andere hatten zwanzig oder mehr Etagen, und die
höchsten Abschnitte ragten wie Berge aus der Hügellandschaft der
umliegenden Bauten hervor. Mit Fenstern versehene Brücken
überspannten die Lücken zwischen den Türmen; hin und wieder warf
eine ferne Gestalt verstohlen einen Blick durch die hell
erleuchteten Fenster. Es war weniger ein Haus als eine Stadt, die
man vollständig durchqueren konnte, ohne jemals ins Freie zu
gelangen.
In späteren Jahren
erfuhr ich, weshalb mein Zuhause so und nicht anders war und
weshalb die Arbeiten niemals zum Abschluss kamen, doch als Kind
nahm ich es einfach fraglos hin. Mir war bewusst, dass das Haus
anders war als die Häuser, die ich in den Büchern und Infowürfeln
sah, doch das galt eigentlich für alle bedeutsamen Aspekte meines
Lebens. Noch ehe ich lesen konnte, war mir klar, dass wir reich
waren, und ich war durchdrungen von dem Wissen, dass es nur eine
Handvoll Familien gab, deren Reichtum sich mit dem unseren messen
konnte.
»Du bist eine ganz
besondere junge Dame, Abigail Gentian«, sagte meine Mutter bei
einer der vielen Gelegenheiten, da ihr altersloses Gesicht mich aus
einem der vielen Fenster heraus ansprach. »Du wirst in deinem Leben
einmal Großes bewirken.«
Sie hatte ja keine
Ahnung.
Ich brauchte nicht
lange, um zu begreifen, dass auch der kleine Junge das Kind einer
reichen Familie sein musste. Er kam mit seinem eigenen Raumschiff,
nicht mit einem der firmeneigenen Linienschiffe, welche die
gewöhnlichen Sterblichen zu unserem Planetoiden beförderten und sie
wieder abholten. Ich beobachtete, wie er aus der Tiefe des
Weltraums heranflog, mit einer kobaltblauen Flamme verzögerte und
über einem der Außenflügel des Hauses zum Stillstand kam, beim
Landemanöver eine Art Pirouette vollführte, skelettartige Beine
ausfuhr und sich mit eleganter Präzision auf das Landefeld
absenkte. Unser Familienwappen war eine schwarze Fünfblattrosette;
seines zwei ineinander greifende Zahnräder, die auf der Flanke des
schlanken, mit Nieten besetzten Raumschiffsrumpfs abgebildet
waren.
Sobald das Schiff
gelandet war, rannte ich so schnell los, dass ich auf der engen
Wendeltreppe, die sich durch den Turm wand, beinahe gestürzt wäre.
Der Kindermädchenklon, der mich an dem betreffenden Tag
beaufsichtigte, brachte mich zu einem Aufzug, und dann fuhren wir
nach oben, nach unten und seitwärts, bis wir am Landedock angelangt
waren. Für gewöhnlich trafen wir in dem Moment dort ein, wenn der
kleine Junge gerade in Begleitung von zwei dahingleitenden Robotern
mit zögernden Schritten die lange, teppichbelegte Rampe
herabgeschritten kam.
Die Robots machten
mir Angst. Es waren unförmige Dinger mit einer matten, verwitterten
Oberfläche, mit Köpfen, Oberkörpern und Armen, aber nur einem
einzelnen großen Rad anstelle der Beine. Die Gesichter bestanden
aus einer vertikalen Linie an der Vorderseite des keilförmigen
Kopfes, ähnlich den Schießscharten in einer Burgmauer. Sie hatten
keine Augen und keinen Mund. Die Arme waren segmentiert und endeten
in dreiteiligen Klauen, die allenfalls dazu taugen mochten, Fleisch
und Knochen zu zermalmen. In meiner Vorstellung hielten die Roboter
den kleinen Jungen gefangen, wenn er nicht bei mir zu Besuch war,
und taten ihm schreckliche Dinge an – so grauenhafte Dinge, dass er
nicht einmal dann darüber sprechen konnte, wenn wir unter uns
waren. Erst als ich älter geworden war, begriff ich, dass sie seine
Leibwächter waren und in ihren beschränkten Köpfen so etwas wie
Liebe für ihn hegten.
Die Robots kamen nur
bis zum Ende des Teppichs und rollten niemals auf den Holzboden des
Empfangsbereichs. Der Junge hielt dort kurz inne, dann setzte er
seine schwarz polierten Schuhe mit einem lauten Klacken auf die
lackierten Holzbohlen. Bis auf die weißen Stulpen und den weißen
Spitzenkragen war er schwarz gekleidet. Er hatte einen kleinen
Rucksack dabei und sich das schwarze Haar mit einem stark
riechenden Festiger aus der Stirn zurückgekämmt. Sein Gesicht war
bleich und ein wenig pummelig, mit runden, dunklen Augen von
unbestimmter Farbe.
»Du hast seltsame
Augen«, pflegte er zu mir zu sagen. »Das eine blau und das andere
grün. Weshalb hat man das bei deiner Geburt nicht
gerichtet?«
Die Robots drehten
sich in der Hüfte und rollten ins Shuttle zurück, wo sie warten
würden, bis es für ihn Zeit wurde, wieder
zurückzufliegen.
»Das Gehen fällt mir
hier schwer«, sagte der Junge immer. Seine Schritte wirkten
unsicher. »Alles ist so beschwerlich.«
»Für mich ist das
ganz normal«, sagte ich.
Erst viel später
wurde mir klar, dass der Junge von der Goldenen Stunde kam, wo nur
die halbe Standardschwerkraft herrschte, weshalb er Mühe mit der
Fortbewegung hatte, wenn er dem Planetoiden einen Besuch
abstattete.
»Vater meint, es ist
gefährlich«, sagte der Junge, als wir zum Spielzimmer gingen, zwei
Kindermädchen im Schlepptau.
»Was ist
gefährlich?«
»Das Ding in deiner
Welt. Oder hat dir noch niemand davon erzählt?«
»In der Welt ist
nichts als Gestein. Das weiß ich genau – ich hab’s im Würfel
nachgeschaut, nachdem du mir erzählt hattest, in den Höhlen unter
dem Haus würden Schlangen leben.«
»Der Würfel hat dich
angelogen. Das tun die, wenn sie glauben, sie müssten einen vor der
Wahrheit schützen.«
»Die Würfel lügen
nicht.«
»Dann frag mal deine
Eltern nach dem Schwarzen Loch. Das befindet sich genau unter
deinem Haus.«
Er musste gewusst
haben, dass mein Vater tot war und dass ich nur meine Mutter fragen
konnte, wenn ihr Gesicht in einem der Fenster
erschien.
»Was ist ein
Schwarzes Loch?«
Der Junge überlegte
einen Moment. »Das ist eine Art Ungeheuer. So etwas Ähnliches wie
eine schwarze Riesenspinne, die in einem unsichtbaren Netz hängt.
Alles, was in ihre Nähe kommt, das packt und sticht sie und frisst
es bei lebendigem Leib. Und unter deinem Haus lebt eine ganz große
Spinne.«
»Und was ist mit den
Schlangen passiert?«, fragte ich altklug. »Hat die Spinne sie
gefressen?«
»Das mit den
Schlangen war gelogen«, sagte der Junge leichthin. »Aber das
Schwarze Loch gibt es wirklich – frag den Infowürfel, wenn du mir
nicht glaubst. Deine Eltern haben es unter das Haus gepflanzt,
damit alles schwerer wird. Wenn es das nicht gäbe, würden wir jetzt
schwerelos schweben.«
»Wie stellt die
Spinne es denn an, dass alles schwerer wird?«
»Ich habe gesagt, es
ist so was Ähnliches wie eine schwarze
Spinne und keine richtige Spinne.« Er musterte mich mitleidig. »Ein
saugender, gieriger Mund, der nie genug bekommt. Deshalb zieht er
alles in seiner Umgebung an und macht, dass wir uns schwerer
fühlen. Aber das ist auch der Grund, weshalb er so gefährlich
ist.«
»Weil dein Vater das
gesagt hat?«
»Nicht nur deswegen.
Der Würfel wird dir alles erklären, wenn du ihm die richtigen
Fragen stellst. Du darfst nur nicht geradewegs drauf zusteuern – du
musst dich an das Thema anschleichen wie eine Katze an eine Maus.
Ein Schwarzes Loch hat mal einen ganzen Planetoiden verschluckt –
einen größeren als den hier. Mitsamt allem, was darauf gelebt hat.
Die sind alle im Abfluss verschwunden, wie das Wasser nach dem Bad.
Gluck-gluck-gluck.«
»Hier kann das nicht
passieren.«
»Wenn du
meinst.«
»Außerdem glaube ich
dir eh nicht. Wenn das mit den Schlangen gelogen war, weshalb
sollte ich dir jetzt dann glauben?«
Seine Boshaftigkeit
verflüchtigte sich auf einmal. Ich hatte das Gefühl, mein Freund
sei erst in diesem Moment angekommen – der spöttische, gehässige
Kerl, der mich bis jetzt begleitet hatte, war nur ein Doppelgänger
gewesen.
»Hast du neue
Spielsachen, Abigail?«
»Ich habe immer neue
Spielsachen.«
»Ich meine,
irgendwas Besonderes.«
»Ja, ich hab was«,
sagte ich. »Ich hab mich schon drauf gefreut, es dir zu zeigen. So
was Ähnliches wie ein Puppenhaus.«
»Puppenhäuser sind
was für Mädchen.«
Ich zuckte die
Achseln. »Dann zeig ich’s dir eben nicht.« In seinen eigenen Worte
erklärte ich: »Ich habe gesagt, es ist so was Ähnliches wie ein
Puppenhaus und kein richtiges Puppenhaus. Es heißt Puppenpalast und
ist eine Art Burg, über die man herrscht, und dazu gehört ein
ganzes Reich. Schade; ich dachte, es würde dir gefallen. Aber wir
können auch etwas anderes spielen. Entweder im Stimmungslabyrinth
oder im Flugzimmer.«
Ich konnte ihn
ebenso gut manipulieren wie er mich, außerdem wusste ich bereits,
wie er tickte – er würde noch eine Weile Gleichgültigkeit
vorschützen, während er vor Neugier auf das Puppenhaus förmlich
brannte. Und seine Neugier war durchaus berechtigt, denn auf das
Puppenhaus war ich besonders stolz.
Mit den
Kindermädchen im Schlepptau geleitete ich den kleinen Jungen ins
Spielzimmer. In dem schummrig erhellten Raum mit den verdunkelten
Fenstern rollte ich Kisten und Truhen hervor und packte ein paar
von den Sachen aus, mit denen wir bei seinem letzten Besuch
gespielt hatten. Der Junge ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten,
öffnete die Deckklappe und packte ein paar seiner
Lieblingsspielzeuge aus. Einige kannte ich schon von seinem letzten
Besuch her: einen Drachen mit schuppigen Flügeln, der im Zimmer
umherflog, rosafarbenes Feuer spuckte und dann auf seinem Arm
landete und seinen Schwanz mehrfach darumschlang; einen Soldaten,
der sich irgendwo im Zimmer versteckte, während wir die Augen
geschlossen hatten – beim letzten Mal hatten wir Stunden gebraucht,
um ihn zu finden. Da waren auch Murmeln, kleine Glaskugeln mit
Farbschlieren darin, die auf dem Boden umherrollten und nach
unseren Anweisungen Muster und Figuren bildeten. Oder sie bildeten
von sich aus Figuren, die wir erraten mussten, bevor sie fertig
waren. Dann waren da noch ein Puzzlebrett und eine hübsche
Automatenballerina, die auf allen Körperteilen tanzen konnte, sogar
auf der Fingerspitze.
Damit spielten wir,
bis uns die Kindermädchen auf einem schwebenden Servierwagen
Limonade und Kekse brachten. Irgendwo im Haus schlug eine
Standuhr.
»Jetzt möchte ich
das Puppenhaus sehen«, sagte der Junge.
»Ich dachte, das
interessiert dich nicht.«
»Doch.
Ehrlich.«
Und so zeigte ich
ihm den Puppenpalast, führte ihn in das Zimmer-im-Zimmer, in dem
ich ihn verwahrte, und obwohl ich ihm nur einen kleinen Teil der
Möglichkeiten vorführte, war er ganz fasziniert davon. Ich merkte
sogar, dass er neidisch darauf war. Bei seinem nächsten Besuch
würde er ihn bestimmt wieder sehen wollen.
Es war das erste
Mal, dass ich Macht über ihn hatte. Dieses Gefühl mochte ich
sehr.