DRITTER TEIL
Eines Tages erfuhr ich das wohlgehütete Geheimnis
meiner Mutter und den Grund, weshalb unser Haus so war, wie es war.
Es war nach einem Besuch des kleinen Jungen. Inzwischen liebte und
verabscheute ich ihn, wie einen dunklen Teil meiner eigenen Psyche.
Es war mindestens anderthalb Jahre her, dass ich ihn in die
Geheimnisse des Puppenpalasts eingeweiht hatte.
Er war Graf Mordax
geworden. Er hatte eine ganze Reihe mentaler Zwischenstufen
überwinden müssen, die jeweils einen ganzen Spielnachmittag
beansprucht hatten. Zunächst hatte er sich in einen Palastreiter
hineinversetzt, dann in einen Spion, der behauptete, er kenne das
Versteck des Zauberers Calidris. Der Reiter erreichte die Schwarze
Burg, wo man ihn zur Rede stellte und schließlich einließ, da er
unbewaffnet war und (wie er behauptete) über wichtige Informationen
verfügte. Er wurde von Graf Mordax empfangen, stellte jedoch fest,
dass er sich nicht in ihn hineinversetzen konnte. Die Regeln des
Spiels waren geheimnisvoll, und wir mussten sie uns mittels Versuch
und Irrtum aneignen. Eine Regel, die erst nach und nach deutlich
wurde, besagte, dass man sich nur dann in eine andere Person
hineinversetzen konnte, wenn damit kein allzu großer Sprung in der
sozialen Hierarchie einherging. Ein Bauer konnte auch dann nicht
zum König werden, wenn der König niederkniete und den Bauern
küsste. Allerdings konnte der Bauer zu einem Huf- und dann zu einem
Waffenschmied aufsteigen und schließlich Offizier in der Leibgarde
des Königs werden – und so weiter. Man arbeitete sich in kleinen
Schritten immer weiter nach oben. Manchmal war es unmöglich,
zwischen zwei Spielabschnitten die Person zu wechseln, doch dies
alles war Teil des verwickelten Spielgefüges. Das Spiel war
schwierig und zeitaufwendig, doch da man bei jedem Schritt auf die
Erinnerungen und die Persönlichkeit der Spielfigur zurückgreifen
konnte, war es selten langweilig. Häufig war die angenommene
Persönlichkeit so dominant, dass man Mühe hatte, den Plan
weiterzuverfolgen, den man drei oder vier Charaktere weiter unten
auf der sozialen Leiter gefasst hatte. Ich selbst wagte mich nur
selten von der Persönlichkeit der Prinzessin fort: Hin und wieder
versetzte ich mich jedoch in ihre Höflinge hinein, um mich zu
vergewissern, dass sie keine Ränke schmiedeten. Als ich auf eine
potenzielle Verräterin stieß – eine Magd, deren Bruder beim
unerlaubten Betreten des Palastgeländes ertappt und hingerichtet
worden war -, ließ ich sie von meinem obersten Verhörmeister
befragen. Ehe sie ihre Absicht, mich zu töten, gestanden hatte, war
sie gestorben, doch ich war nach wie vor überzeugt von ihrer
Schuld.
Inzwischen hatte
sich herausgestellt, dass der Puppenpalast niemals zur
Massenherstellung zugelassen werden würde. Mehr als die etwa ein
Dutzend Prototypen, zu denen auch mein Palast gehörte, würde es
nicht geben. Obwohl die Einzelheiten unklar blieben und ich
weitgehend auf die Informationen des kleinen Jungen angewiesen war,
schien es so, als sage man dem Spiel ungünstige Auswirkungen auf
die Psyche der Kinder nach, die es spielten. Die Kinder übertrugen
einen Teil der Erinnerungen und der Charakterzüge ihrer
Spielfiguren auf die reale Welt außerhalb des grünen Kubus – obwohl
die Maschine angeblich die flüchtigen Gehirnzustände löschen
sollte, wenn sie durch den Eingang wieder nach draußen traten. Auf
mich traf das zu – im Palast war die Prinzessin für mich so real
wie jede wirkliche Person und in gewisser Hinsicht, da ich mich in
sie verwandelte, sogar noch realer, doch in dem Moment, da ich ins
größere Spielzimmer trat, schien sie zu schrumpfen und wirkte auf
einmal nicht realer als eine Abbildung in einem Buch. Ihre
Erinnerungen, die auch die meinen waren, solange ich spielte,
verflüchtigten sich wie ein Traum, dessen Einzelheiten man schon
beim Aufwachen nicht mehr greifen kann. Ich erinnerte mich noch an
die Freuden und Enttäuschungen des Spiels, ich erinnerte mich an
die Fakten und den aktuellen Spielstand, doch von außerhalb des
grünen Raums aus betrachtet hätte es sich auch um ein ganz
gewöhnliches Puppenhaus handeln können.
Der Konzern war vor
Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den Prototypen des
Puppenpalasts geschützt – die Familien hatten vor der Teilnahme am
Versuchsbetrieb Unterlassungserklärungen unterzeichnen müssen -,
doch wenn man die Massenherstellung aufgenommen und in der Goldenen
Stunde Millionen Puppenpaläste abgesetzt hätte, wäre dieser Schutz
hinfällig geworden. Selbst wenn nur bei einem kleinen Teil der
Kinder wahnhafte Störungen aufgetreten wären, hätte dies zum Ruin
des Konzerns führen können.
Deshalb wurde die
Weiterentwicklung des Spiels eingestellt. Der Konzern versuchte,
die Prototypen zurückzurufen, was ihm jedoch nur teilweise gelang.
Die Kinder waren inzwischen so besessen von dem Palast, dass sie
auf ihre Phantasiewelt nicht mehr verzichten wollten. Einige
Familien ließen die Prototypen von Technikern wieder abbauen, doch
den meisten Kindern gelang es, ihr Spiel zu behalten, was auch
damit zu tun hatte, dass der Konzern negative Nachrichten
scheute.
»Sie haben das für
den Krieg gemacht«, sagte der kleine Junge, als wir durch die grüne
Tür ins Spielzimmer traten. »Das ist dir doch klar,
oder?«
»Sie haben was für
den Krieg gemacht?«
»Das Spiel – den
Puppenpalast.« Er hatte noch immer etwas von Graf Mordax an sich –
hochmütige Herablassung lag in seinem Tonfall, weit ausgeprägter
als sein Hang zu Stichelei und Spott. »Das war für Soldaten
gedacht, wie deine Familie sie geklont hat. Sie gingen in den
Palast und bekamen Erinnerungen an einen Krieg vermittelt, obwohl
sie gerade erst erzeugt worden waren. Wenn sie in die Schlacht
zogen, verfügten sie über so viel Erfahrung und Wissen, als hätten
sie schon jahrelang gekämpft.«
Ich wusste nicht
viel über den Großen Brand – das war eines der Themen, über das der
Infowürfel sich nur zurückhaltend äußerte -, doch ich war mir
sicher, dass Zauberer und Zofen keine herausragende Rolle dabei
gespielt hatten.
»Der Große Brand hat
sich im Weltraum abgespielt«, sagte ich. »Da gab es keine Burgen
und Paläste.«
Der Junge rollte mit
den Augen. »Das hat nichts zu sagen, das sind Details, die am Ende
einprogrammiert werden. Als die Soldaten ihn benutzt haben, hatte
der Palast einen anderen Namen. Wenn sie reingingen, befanden sie
sich im Sonnensystem, in der Goldenen Stunde, komplett mit
Raumschiffen und Kleinen Welten. Das ganze Märchenzeug hat man erst
nach dem Krieg in den Simulator einprogrammiert, um damit weiterhin
Geld zu verdienen. Aber es hat angeblich nicht richtig funktioniert
– die Soldaten vergaßen immer wieder, wer sie in der realen Welt
waren, und blieben im Spiel stecken. Ich nehme an, der Fehler ist
inzwischen behoben.«
»Das glaube ich dir
nicht. Der Krieg war grauenhaft. Deshalb redet auch niemand
darüber.«
»Dass sie nicht
drüber reden, heißt nicht, dass sie kein Geld damit verdienen
wollen. Du hast doch die Robots gesehen, die mit mir die Rampe
runterkamen. Wenn du an deren Verkleidung kratzt, ist kein großer
Unterschied zu den Militärrobots festzustellen, mit denen wir im
Krieg unsere Seite beliefert haben.«
Die Robots
beunruhigten mich noch immer. Manchmal träumte ich, ich liefe durch
einen der langen, gewundenen, von Spiegeln gesäumten Flure des
Hauses und werde von einem schlitzgesichtigen, klauenbewehrten,
einrädrigen Ungeheuer verfolgt, das langsam zu mir aufschloss. Ich
wollte, dass der Große Brand Vergangenheit blieb, vergraben in der
Tiefe der Geschichtsbücher. Die Vorstellung, dass er noch immer
Einfluss auf die Gegenwart nahm, ans Fenster klopfte und
eingelassen werden wollte, behagte mir nicht.
»Es gibt keine Klone
mehr«, sagte ich. »Jedenfalls wenn man die Kindermädchen nicht
mitzählt.«
»Sklavenarbeiter,
die man nicht in die Goldene Stunde exportieren kann. Mein Vater
sagt, deine Familie hat seit dem Waffenstillstand nicht vergessen,
wie’s gemacht wird. Wenn deine Seite – oder sonst jemand – wieder
Klone bräuchte, würde die Produktion bald wieder anlaufen.« Während
Graf Mordax noch im Hintergrund seiner Augen lauerte, sagte er
boshaft: »Deine Mutter ist durchgedreht, als ihr bewusst wurde, was
sie getan hatte. Sie ist verrückt geworden. Oder wusstest du das
nicht?«
»Ich habe keine
Ahnung, wovon du redest«, sagte die Prinzessin aus meinem
Mund.
»Deine Mutter lebt
noch, aber sie ist ziemlich verrückt. Oder hat man dir das nicht
gesagt?«
»Sie ist
krank.«
»Aber du bekommst
sie nie zu Gesicht, hab ich Recht? Du hast noch nie persönlich mit
ihr gesprochen?«
»Ich spreche ständig
mit meiner Mutter.«
»Du sprichst zu den
Fensterscheiben, wie zu der, die mir guten Tag gesagt hat, als ich
aus dem Shuttle gekommen bin. Das in dem Glas ist nicht deine
Mutter. Das ist ein Ebenbild, erzeugt von einer Maschine, die schon
auf sie aufgepasst hat, als sie noch ein Mädchen war, einer
Maschine, die glaubt, sie wüsste, wie deine Mutter sich verhalten
und was sie sagen würde, wenn sie leibhaftig anwesend
wäre.«
»Du bist
fies.«
»Das tut mir leid –
ich hab mir halt gedacht, du solltest die Wahrheit erfahren.
Deshalb sieht das Haus auch so seltsam aus – weil sie es ständig
einreißt und wieder aufbaut. Das kommt daher, dass sie verrückt
ist, dass sie glaubt, sie würde verfolgt wegen dem, was sie getan
hat. Wenn du mir nicht glaubst, brauchst du nur eine der Personen
zu fragen, die nach dir sehen.«
»Du hast dich
verändert«, sagte ich. »Seit du in den Palast gehst, ähnelst du
eher dem Grafen und weniger …« Ich muss wohl seinen Namen gesagt
haben, doch daran erinnere ich mich nicht mehr.
Vom Aussichtsturm
aus beobachtete ich, wie sein Shuttle abhob, die Beine
zusammenfaltete und in den messingfarbenen Nebel der Goldenen
Stunde davonflog, den zehn Millionen Kleinen Welten
entgegen.
Dann machte ich mich
auf, ein paar unangenehme Fragen zu stellen.
Ich hatte mich immer
damit abgefunden, dass meine Mutter zu krank sei, um Gäste zu
empfangen, und sei es ihre eigene Tochter. Dies war eine
Grundtatsache meines Lebens, die ich ebenso wenig in Frage gestellt
hatte wie den Umstand, dass ich Abigail Gentian war und nicht
irgendein anderes Mädchen, das bei einer anderen Familie irgendwo
im Sonnensystem lebte. Meine Mutter sprach mit mir, seit ich ein
Baby gewesen war, und sie hatte mir gegenüber immer Stolz und
Zuneigung an den Tag gelegt.
»Du bist eine ganz
besondere junge Dame, Abigail Gentian. Du wirst in deinem Leben
Großes bewirken.«
Sie hatte mir immer
das Gefühl vermittelt, ich sei etwas Besonderes, so als gäbe es all
die heiteren, schönen Dinge im Universum allein zu meinem
Vergnügen. Andere Menschen mochten danach greifen, doch sie würden
scheitern, während ich sie erreichen würde. Obwohl ich keinen
körperlichen Kontakt zu meiner Mutter hatte, war sie in meiner
Vorstellung eine kluge, freundliche Person, die mir alle Liebe und
Zärtlichkeit der Welt geschenkt hätte, wenn sie nur die Möglichkeit
gehabt hätte.
Heute jedoch hatte
ich erfahren, dass meine Mutter verrückt war und kein anderes Ziel
verfolgte, als den Phantomen, von denen sie sich bedrängt wähnte,
zu entkommen oder sie in ihrem unaufhörlichen Kampf zumindest
zeitweise zu überlisten. Wenn ich überhaupt für sie existierte,
dann als Punkt, als Datenpunkt in einem großen Mosaik der
Selbstversunkenheit.
Anschließend war
nichts mehr wie vorher.
Ich suchte Madame
Kleinfelter auf. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, umgeben von
Schwebediagrammen, welche die Arbeitspläne der Hausangestellten und
Klon-Kindermädchen wiedergaben. Bei meinem Eintreten bewegte sie
die Arbeitsblöcke gerade mit einem leuchtenden Stift umher, mit dem
sie sich an die Lippen tippte, wenn sie über die schwierige
Neuordnung der Zeitpläne und Arbeitsschichten
nachdachte.
»Was gibt es denn,
Abigail?«, fragte sie, ganz offensichtlich in der Hoffnung, dass
ich nach dem im Puppenpalast verbrachten Nachmittag müde sein
würde.
»Ist meine Mutter
verrückt?«
Madame Kleinfelter
schloss die Diagramme und legte den Stift weg. »Der kleine Junge
hat dich drauf gebracht, nicht wahr?« Natürlich nannte sie ihn bei
seinem Vor- oder Familiennamen. »Er erzählt dir so
vieles.«
»Stimmt es
denn?«
»Du weißt, dass
deine Mutter krank ist. Aber du sprichst täglich mit ihr über die
Fensterscheiben, genau wie ich. Macht sie auf dich einen verrückten
Eindruck?«
»Eigentlich nicht
…«
»Liebt sie dich
nicht und sagt dir, wie viel du ihr bedeutest?«
»Ja, aber
…«
»Was aber,
Abigail?«
»Zeigen die Fenster
wirklich meine Mutter?« Die Worte des kleinen Jungen hallten noch
in mir nach. »Oder geben sie nur wieder, was meine Mutter nach
Ansicht einer Maschine tun oder sagen würde?«
Madame Kleinfelter
wirkte überrascht. »Weshalb sollten die Fenster denn etwas anderes
als deine Mutter zeigen?«
»Ich weiß nicht.
Aber weshalb kann ich nicht zu ihr gehen und sie
sehen?«
»Weil sie sich sehr
unwohl fühlt. Solange, bis sie geheilt ist – was irgendwann der
Fall sein wird -, muss sie sich von anderen Menschen fernhalten.
Bis dahin aber muss die Quarantäne in Kraft bleiben, und dein
Kontakt mit ihr beschränkt sich auf die
Fensterscheiben.«
»Ich glaube Ihnen
nicht. Meine Mutter ist verrückt. Wegen irgendetwas ist sie
durchgedreht.«
»Das kommt nicht von
dir, Abigail. Das hast du von diesem grässlichen kleinen …« Madame
fasste sich, bevor sie etwas Unschickliches sagen konnte. »Deine
Mutter ist nicht durchgedreht. Sie hatte … Probleme, das ist
alles.«
»Ist das der Grund,
weshalb das Haus ist, wie es ist?«
Vielleicht hatte
Madame Kleinfelter bis zu dem Moment, da ich die Frage stellte,
gehofft, ich würde mich mit ihren Ausflüchten begnügen. Die
Veränderung in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. In ihren Augen
hatte ich einen geistigen Rubikon überschritten – nicht den
zwischen Kindheit und Adoleszenz, denn dafür war ich noch nicht alt
genug, sondern den zwischen verschiedenen Stufen der Kindheit.
Kinder können sich mit dem Tod, Schmerz und Wahnsinn beschäftigen
und dennoch Kinder bleiben.
»Ich hatte gehofft,
du würdest dir mit dieser Frage noch ein, zwei Jahre Zeit lassen«,
sagte meine Gouvernante.
»Ich will es aber
jetzt wissen«, sagte ich trotzig, womit ich mich selbst
überraschte.
»Dann komm mal mit.
Aber es wird dir hinterher leidtun, Abigail. Das ist keine
Erinnerung, die sich nach dem Spiel wieder verflüchtigt. Davon
bleibt ein Makel. Den wirst du immer mit dir herumtragen, anstatt
noch ein paar Jahre in seliger Unschuld zu leben. Willst du das
wirklich?«
»Ja. Ich
will.«
Also brachte sie
mich zum verbotenen Zentrum des Hauses, wo meine Mutter verwahrt
wurde, und ich erfuhr alles, was Madame Kleinfelter und die anderen
Erwachsenen mir so lange hatten vorenthalten wollen, bis ich älter
sein würde. Meine Mutter war tatsächlich verrückt, wie der kleine
Junge es behauptet hatte. Scham und Schuldgefühle hatten sie
wahnsinnig gemacht; das Wissen um die Dinge, die ihre wunderschönen
Klone getan hatten und die ihnen angetan worden waren.
Ohne die Kenntnisse
der Familie auf dem Gebiet des Klonens hätte der Große Brand einen
ganz anderen Ausgang genommen. Die Seite, die wir »gesponsert«
hatten, hätte sich entweder mit den Waffen des Gegners – autonomen
Killermaschinen – begnügen oder zu demütigenden Bedingungen
kapitulieren müssen. Stattdessen hatte sie eine unerschöpfliche
Armee in den Kampf schicken können, jeder fabrikneue Soldat oder
Pilot ausgestattet mit einem großen Vorrat an virtueller
Kampferfahrung. Der Brand hatte nur kurz gelodert; das Leben der
mehrere Hundert Milliarden zählenden Bürger, welche die Goldene
Stunde bewohnten, hatte er kaum berührt, doch er hatte zahlreiche
Menschenleben gefordert. Während der wochenlang andauernden
hitzigen Kämpfe vergaß man leicht, dass die Klone etwas anderes
waren als Roboter auf organischer Basis, die man wie Tauben, die
tausend Jahre zuvor darauf dressiert wurden, Bomben ins Ziel zu
fliegen, in Raumanzüge gezwängt und in leere Raumschiffe gesetzt
hatte.
Meine Mutter hielt
während des Krieges nach außen hin die Fassade aufrecht, doch
später – als die Zahl der Toten bekannt wurde – begannen die
Schuldgefühle ihrer fragilen psychischen Konstitution zuzusetzen.
Sie grübelte über die vielen Menschenleben nach, die sie aufgrund
des Erfindungsreichtums unserer Familie erschaffen und dann
verloren hatte. Einige der Klone hatten nur wenige Wochen oder
Monate gelebt, doch sie waren mit Erinnerungen in die Schlacht
gezogen, die einen subjektiven Zeitraum von vielen Jahren
abdeckten. Sie hatten sich zu vollständigen menschlichen Wesen
entwickelt.
Die Schuldgefühle
meiner Mutter nahmen eine sehr spezielle morbide Wendung. Sie
behauptete, die Seelen der Toten verfolgten sie und wollten sich
wegen der Parodie eines Lebens, die man ihnen aufgezwungen habe, an
ihr rächen. Das war verrückt, doch sobald sich der Gedanke in ihrer
Vorstellung festgesetzt hatte, vermochte ihn nichts mehr
auszulöschen. Die besten Psychochirurgen der Goldenen Stunde
versuchten, meine Mutter zu heilen, doch jeder Eingriff verstärkte
anscheinend ihre Geistesschwäche. Sie nahmen ihr Gehirn auseinander
wie ein kostbares, kompliziertes Puzzle, polierten die Einzelteile
und setzten sie Stück für Stück wieder zusammen. Sie statteten sie
mit einer wärmenden Decke falscher Erinnerungen aus. Sie
versuchten, sämtliche Erinnerungen an den Krieg
auszulöschen.
Nichts schlug
an.
Madame Kleinfelter
geleitete mich zu einem Raum mit einer nach außen geneigten Wand.
Die Fenster waren mit Jalousien verschlossen. Sie betätigte einen
Schalter und bat mich, neben ihr stehen zu bleiben und in den Raum
hinunterzublicken, in dem meine Mutter lebte.
Sie schwebte
aufrecht in einem mit trüber rötlicher Flüssigkeit gefüllten Tank.
Ich durfte das eigentliche Krankenzimmer, in dem sterile
Bedingungen herrschten, nicht betreten. Der Grund dafür war mir
einsichtig: Die Schädeldecke meiner Mutter fehlte, und man sah das
feucht glänzende Wunder des rosig-grauen Hirngewebes. In der
verknäulten Masse steckten so viele Sonden und Drähte, dass sie
einem Nadelkissen ähnelte. An der Seite des Tanks führten
zahlreiche Kabel zu einer rechteckigen dunklen Maschine, die auf
einem Rollwagen stand. Drei Techniker in grünen Overalls, die so
unheimlich wirkten wie die Männer, die den Puppenpalast installiert
hatten, beaufsichtigten das Gerät. Sie standen auf halber Höhe des
Tanks auf einer Plattform, damit sie notfalls unverzüglich
eingreifen konnten. Sie behielten die Schwebedisplays im Auge und
unterhielten sich gedämpft – ich konnte erkennen, wie sich ihre
Lippen hinter den dünnen Gesichtsmasken bewegten. Hin und wieder
zuckte meine Mutter in der rötlichen Suspension mit einem Arm oder
Bein, doch die Techniker achteten nicht darauf.
»Dieser Zustand
währt jetzt schon dreißig Jahre«, sagte Madame Kleinfelter. »Es mag
erschreckend aussehen, doch sie spürt keinen Schmerz. Sie leidet
allein unter ihren Vorstellungen. Sie hat gute und schlechte Tage.
An guten Tagen kann sie sich mehr oder weniger normal mit uns
unterhalten. Sie behält ihre Vorstellungswelt selbst dann noch
aufrecht, aber sie ist in der Lage, Familienangelegenheiten zu
besprechen, zu politischen Entscheidungen beizutragen und Pläne für
das Haus zu entwickeln.«
»Ist das heute ein
guter oder ein schlechter Tag?«
»Irgendwo
dazwischen. Sie ist bei Bewusstsein und kämpft gegen irgendwelche
Dinge, die allein sie sehen kann. Aber sie kann sich nicht mit uns
unterhalten – dafür ist sie zu beschäftigt.«
»Erzählen Sie mir
vom Haus.«
»Deine Mutter ist zu
dem Schluss gelangt, dass es eine Möglichkeit gibt, die Gespenster
in Schach zu halten. Hier im Innern des Hauses fühlt sie sich
einigermaßen sicher. Sie würde sich nicht einmal dann in die
Außenflügel vorwagen, wenn sie sich bewegen könnte. Dafür ist sie
ihrer Ansicht nach viel zu angreifbar. Als ihre Psychose schlimmer
wurde, hat sie sich immer weiter ins Innerste des Hauses
zurückgezogen, um möglichst viel Abstand zur Außenwelt zu gewinnen.
Das Haus wurde ihre Welt. Zu Anfang waren es noch ein paar Räume.
Dann schrumpfte der Bereich auf diesen Raum und schließlich auf
diesen Tank. Aber selbst das reichte ihr nicht. Sie entwickelte
Barrieren, um die Gespenster zu täuschen und sie fernzuhalten.
Flure, die in Sackgassen enden oder sich spiralförmig in sich
zurückwinden. Verborgene Treppen, welche die Gespenster nicht sehen
können. Überall Spiegel, um ihre Peiniger zu verwirren. Türen,
hinter denen sich eine nackte Wand befindet. Doch das war ihr immer
noch nicht genug. Die Gespenster sind schlau und erfindungsreich
und finden immer wieder einen Durchschlupf. Deshalb verändert sich
das Haus ständig, damit sie sich nicht an eine bestimmte
Ausgestaltung gewöhnen. Es müssen ständig neue Flügel und Türme
entstehen, die Anlage muss sich unaufhörlich ausdehnen. Und das,
was existiert, muss ständig umgeformt werden, so dass Labyrinthe
und Fallen entstehen. Dieser Vorgang darf niemals enden, Abigail.
Solange das Haus sich wandelt, bewahrt sich deine Mutter einen Rest
geistiger Gesundheit, und sei es nur an guten Tagen. Würde das Haus
aufhören, sich zu verändern, und würde sie glauben, dass es keine
Hindernisse mehr zwischen ihr und den Gespenstern gibt, würde sie
wohl auch diesen Rest geistiger Gesundheit verlieren. Dann müssten
wir sie endgültig verloren geben.« Madame Kleinfelter hielt inne
und schloss ihre große, raue Hand um meine Finger. »So aber besteht
immer noch Hoffnung. Die Spezialisten glauben, sie könnten sie
wieder heilen. Deshalb beugen wir uns ihren Wünschen, und das Haus
ist so, wie es ist. Deshalb musstest du in einer seltsamen Umgebung
aufwachsen, die viele Kinder furchterregend und verwirrend gefunden
hätten. Aber du hast dich sehr gut geschlagen, Abigail. Wir alle
sind stolz auf dich – jeder Einzelne von uns, auch deine
Mutter.«
»Wird sie erfahren,
dass ich sie gesehen habe?«
»Sie weiß alles. Im
ganzen Haus gibt es Kameras, die jede Tür und jeden Flur
beobachten. Die Informationen werden ihr direkt eingespeist. Aber
das tut sie nicht deshalb, weil sie uns überwachen
will.«
»Sondern wegen der
Gespenster«, sagte ich.
»Ja. Deine Mutter
hält nach den geringsten Veränderungen von Licht und Schatten
Ausschau. Wenn sie sich aufregt, dann im Allgemeinen deshalb, weil
sie glaubt, sie habe etwas gesehen.«
»Im Moment hat sie
etwas gesehen.«
»Es gibt keine
Gespenster, Abigail. Die existieren nur in ihrer Vorstellung. Das
musst du dir merken.«
»Ich bin doch nicht
blöd.« Allerdings fragte ich mich, weshalb die Hausangestellten
manche Teile des Hauses anderen vorzogen. Weshalb es stille, leere
Räume gab, in denen sich niemand länger aufhielt als unbedingt
notwendig. Wenn es nicht an den Gespenstern lag, dann vielleicht an
den verdrehten Vorstellungen meiner Mutter, die wie ein
unsichtbares Nervengas aus den Beobachtungskameras
sickerten.
»Ich habe genug
gesehen«, sagte ich.
»Ich würde mich gern
mal mit dem kleinen Jungen unterhalten.«
»Ihn trifft kein
Vorwurf. Er hat mir nur gesagt, was ich selber wissen
wollte.«
Madame Kleinfelter
nickte freundlich und schloss die Metalljalousien. Ich hätte gern
gewusst, ob ihr jetzt ein Stein vom Herzen fiel. Bestimmt hatte sie
sich all die Jahrzehnte über vor dieser Begegnung gefürchtet, die
ihr seit meiner Geburt wie ein metallener Dorn aufs Herz gedrückt
hatte …