Siebenunddreißig
 
 
 
 
 
Akonits Signal hatte sich mit Lichtgeschwindigkeit von Neume entfernt, doch es musste die Raumschiffe, die nach eintägiger extremer Beschleunigung fast ebenso schnell flogen wie das Licht, erst einmal einholen. Als es uns erreichte, war es bereits so stark rotverschoben und befand sich so weit außerhalb der normalen Bandbreite, dass unsere Schiffe es zunächst nicht als gentianische Funkbotschaft interpretierten.
»Ich hätte nicht erwartet, dass wir so bald wieder von Neume hören würden«, meinte Hederich.
Wir brauchten die Botschaft nur noch abzuspielen. Kopien von Akonits Imago erschienen in unseren Steuerzentralen. Noch ehe er das erste Wort gesagt hatte, entnahmen wir seinem Gesichtsausdruck, dass er keine guten Nachrichten zu verkünden hatte.
»Das fällt mir nicht leicht«, sagte er langsam und deutlich. »Ich habe soeben mit Mezereum über Grilses Befragung gesprochen. Sie hat ihm unsere Namen genannt, die Namen aller tausend Splitterlinge, auch derer, die schon vor vielen Umläufen auf der Strecke geblieben sind. Sie hat nach einem Zeichen von Wiedererkennen gesucht, nach einem Hinweis darauf, dass die Namen ihm etwas sagen. Da sein Gehirn wie ein Teppich vor ihr ausgebreitet war, war es einfach, seine Reaktionen zu überwachen. Also, sie hat etwas herausgefunden. Sie hat Treffer erzielt – mehr als ein Dutzend. Natürlich kennt er sie und mich und die anderen Splitterlinge, von denen er seit seiner Gefangennahme befragt wurde. Von einigen anderen mag er schon früher gehört haben – schließlich ist er ein Marcellin. Wir stammen alle von Abigail, Ludmilla und der Goldenen Stunde ab. Und er hat sich auch schon früher für die Familie interessiert – das sorgt für ein gewisses Hintergrundrauschen. Aber Mezereum hat trotzdem etwas entdeckt, das sie nicht ignorieren konnte. Sie ist auf einen Namen gestoßen, mit dem sie nicht gerechnet hat – ein Treffer, der nicht unserer Bekanntheit und unserem Ruhm zugeschrieben werden kann. Auf einen Splitterling, den Grilse kennt, der an den Befragungen jedoch nicht beteiligt war. Einen Splitterling, der noch immer in unserer Mitte lebt.«
Ich ließ einen Moment meine Gedanken schweifen. Dann lag das Problem also auf Akonits Seite, nicht auf unserer. Er hielt uns einfach nur auf dem Laufenden.
Akonit aber fuhr fort.
»Wäre es mir möglich gewesen, diese Nachricht selektiv zu senden, so dass sie nur diejenigen erreicht hätte, die ich einweihen wollte, hätte ich das getan. Aber die Protokolle lassen das nicht zu, außerdem wäre das Signal selbst dann, wenn ich es verschlüsselt hätte, für alle sichtbar gewesen. Ich glaube, das hätte auch nichts geändert – er hätte sich trotzdem denken können, dass sein Name bekannt geworden ist.« Akonit holte tief Luft und wappnete sich für die Enthüllung. »Wir glauben, es ist Galgant. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um einen Zufallstreffer handelt – das vermag nur er selbst zu bestätigen oder zu widerlegen -, doch wir finden keine andere Erklärung dafür, dass Grilse auf seinen Namen und sein Gesicht eine solch starke Reaktion gezeigt hat. Er kennt Galgant. Somit ist Galgant bei uns eingeschleust worden. Er ist der Verräter, der die ganze Zeit unter uns geweilt hat. Vielleicht gibt es noch weitere. Aber jemand muss unseren Gegnern, die für den Angriff verantwortlich waren, von Campions Strang berichtet haben. Und wenn Galgant der Verräter ist, brauchen wir auch nicht länger nach Mieres Mörder Ausschau zu halten.« Das Imago lächelte schwach. »Wo wir gerade von Campion sprechen: Ich hoffe, du hörst das, alter Mann. Du hattest Recht mit deiner Vermutung. Es hat etwas nicht gestimmt, doch wir wollten es nicht wahrhaben. Miere hat uns eine Nachricht zukommen lassen. Nicht aus dem Grab, aber während ihres langen Sturzes, nachdem man sie vom Balkon gesto ßen hatte. Sie wusste, wer es getan hatte – sie hatte ihn klar und deutlich gesehen. Sie wusste, dass sie sterben würde – nichts und niemand konnte sie retten, und sie wusste, dass selbst unsere hoch entwickelte Medizin nicht imstande wäre, sie nach einem Sturz aus dieser Höhe wiederherzustellen. Aber sie war ein kluges, ein sehr kluges Mädchen und hat versucht, uns eine Botschaft zukommen zulassen.«
»Die Ringe«, flüsterte ich.
»Was?«, fragte Betonie verdutzt.
»Campion hat gewusst, dass etwas nicht stimmte«, fuhr Akonit fort, denn unseren kurzen Wortwechsel hatte er natürlich nicht mitbekommen. »Er konnte nicht den Finger drauf legen, und vielleicht hätten wir das Zeichen ja selbst dann nicht richtig gedeutet … aber berücksichtigt man Grilses Reaktion, gibt es keinen Zweifel. Campion hat bemerkt, dass etwas nicht stimmt – doch er konnte es nicht einordnen. Aber wir hatten Aufzeichnungen von Miere und die Bilder der Leiche. Als wir die verglichen, ist uns aufgefallen, dass die Ringe an der falschen Hand saßen. Dazu hat die Zeit während des Sturzes ausgereicht. Mehr konnte sie nicht tun. Sie konnte sich seinen Namen nicht in die Haut ritzen – sie wusste, dass nach dem Aufprall auf dem Gebäude der Hohen Güte nicht mehr viel von ihr übrig sein würde. Aber die Ringe? Sie würden den Sturz überstehen, und Miere hat gehofft, wir würden verstehen, was sie uns damit sagen wollte. Sie wollte uns mitteilen, dass etwas nicht stimmte – dass sie keinen Unfall erlitten hatte, sondern ermordet worden war, und mehr als die Ringe umzustecken, konnte sie nicht tun.«
»Selbst wenn wir es bemerkt hätten, wären wir trotzdem nicht so ohne weiteres auf Galgant gekommen«, sagte Rainfarn.
»Aber jetzt, da wir wissen, dass er verwickelt ist …«
»Wir müssen ihn aufhalten«, sagte ich.
Betonie fror Akonits Imago ein – der Rest der Botschaft konnte so lange warten, bis wir die nötigen Entscheidungen getroffen hatten. Wenn alles nach Plan verlief, würde Galgant sich in weniger als fünf Minuten in Schussweite zur Silberschwingen des Morgens befinden.
»Er hat das Signal inzwischen ebenfalls empfangen«, sagte Bilse. »Er weiß, was wir wissen.«
Betonie funkte die Königin der Nacht an. »Galgant … wir müssen reden. Wenn du dir Akonits Botschaft angeschaut hast, weiß du, dass wir Anlass haben, uns Sorgen zu machen. Unsere Befürchtungen mögen unbegründet sein – ich kenne dich so gut, dass ich fest davon ausgehe. Aber ich kann sie auch nicht so einfach von der Hand weisen. Brich den Angriff ab und kehre zum Verfolgergeschwader zurück, dann regeln wir alles weitere.«
»Wenn er den Angriff abbricht, ist er unschuldig«, sagte ich. »Aber ich glaube nicht, dass er das tun wird.«
Hederich musterte mich, als würde ich alle Antworten kennen. »Glaubst du, er arbeitet für das Maschinenvolk?«
»Nein, er tut alles, um zu verhindern, dass sie ihr Ziel erreichen.«
Hederich kniff die Augen zusammen. »Demnach müsste er auf unserer Seite stehen – oder nicht?«
»Solange Portula noch atmet, nicht unbedingt.«
Wir warteten auf Galgants Antwort, doch erwartungsgemäß meldete er sich nicht. Was gab es jetzt noch zu bereden? Wir hatten ihm alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Als er sich zur Speerspitze des Angriffs auf die Silberschwingen aufgeschwungen hatte, waren meine Zweifel an seinem Mut berechtigt gewesen. Offenbar war das nicht untypisch für ihn gewesen, sondern es verhielt sich eher so, dass ich den wahren Galgant gar nicht gekannt hatte. Er hatte sich in unserer Mitte versteckt, hatte seinen Auftraggebern vom Haus der Sonnen Bericht erstattet – nach allem, was ich wusste, war er der mutigste von uns allen.
»Eine Sendung kommt herein«, sagte Betonie plötzlich.
»Galgant?«
»Nein, Portula.«
Ich wappnete mich, denn ich würde sie über Galgant mutmaßliche Pläne informieren müssen, und sie hatte kaum eine Möglichkeit, sich zu schützen.
»Campion«, sagte sie, »ich habe Neuigkeiten für dich. Allerdings keine … großartigen.« Sie holte tief Luft und fuhr mit gepresster Stimme fort: »Hesperus hat Kadenz gefangen genommen. Das ist kein so großer Erfolg, wie man zunächst meinen mag, denn wir haben immer noch keine Kontrolle über die Silberschwingen. Aber zumindest ist es uns gelungen, einen Blick in ihren Kopf zu werfen. Mit dem Sternendamm hattest du Recht – das ist unser Ziel. Irgendwo an Bord meines Schiffes gibt es einen Einmalöffner – ich weiß nicht wo, aber die Robots hätten das Schiff nicht gekapert, wenn sie sich nicht sicher gewesen wären. Sie wissen mehr über uns als wir selbst, Campion.« Portula stockte, als hätte sie den Faden verloren – ich spürte, wie müde sie war und dass jedes Wort sie eine erhebliche Anstrengung kostete. »Der Sternendamm ist nicht das, was wir glauben. Er wurde von der Familie Gentian erbaut – aber er hatte nicht die Aufgabe, das Licht einer sterbenden Sonne einzuschließen. Es ist etwas darin verborgen, etwas, worüber wir nichts wissen. Oder jedenfalls ist es so tief in unserem Gedächtnis vergraben, dass wir es noch nicht sehen können. Vielleicht kannst du ja mehr damit anfangen als ich. Die Sache ist die, dass mit dem Sternendamm etwas nicht stimmt, doch es geht nicht um eine eingefrorene Supernova. Es ist alles viel schlimmer.«
Ich hörte ihr zu, doch ihre Worte drangen nicht zu mir durch. Ich hielt die Aufzeichnung an. »Portula, hör mir zu. Wir wissen jetzt, dass Galgant der Verräter ist – dass er den Angriff zu verantworten und Miere getötet hat. Er wird die Silberschwingen unter allen Umständen vernichten wollen. Falls Kaskade zuhört, sollte er das ebenfalls erfahren.«
»Bist du verrückt?«, formte Agrimony lautlos mit den Lippen.
Ich unterbrach die Sendung. »Nein, ich bin nicht verrückt. Solange sich Portula an Bord aufhält, ist es mir lieber, Kaskade bringt Galgant um als umgekehrt.«
»Aber die Pläne der Robots …«
»Sind für mich von zweitrangiger Bedeutung, solange Portula noch lebt.« Vor falscher Tapferkeit schwoll mir der Kamm. »Außerdem will ich Hesperus retten – das sind wir ihm schuldig. Wenn ihr damit ein Problem habt, solltet ihr jetzt eure Waffen gegen mich richten. Wir haben noch über sechzigtausend Jahre Zeit, bis wir den Sternendamm erreichen. Ich will sie nicht jetzt schon aufgeben, wo die Reise gerade erst begonnen hat.«
»Campion soll seine Übertragung fortsetzen«, sagte Betonie.
Ich bemühte mich, mir meine Erregung nicht anhören zu lassen. »Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Wenn Kaskade die Waffen der Silberschwingen kontrolliert, wird er sie auch einsetzen, um Galgant abzuschießen. Das bedeutet freilich nicht, dass ich ihn nicht aufhalten will, sobald Galgant von der Bildfläche verschwunden ist.«
Als die Nachricht gesendet war, ließ ich Portulas Funkaufzeichnung weiterlaufen.
»Das solltest du wissen«, sagte sie. »Die Maschinenwesen waren nicht die Ersten. Lange vor dem Maschinenvolk gab es schon eine andere Roboterzivilisation. Nennen wir sie meinetwegen die Ersten Maschinen – solange wir nicht ihren wahren Namen kennen, sollte das einstweilen genügen. Wichtiger ist, wie alles anfing und weshalb sie nicht zu einer treibenden Kraft im galaktischen Machtgefüge aufgestiegen sind. Die Ersten Maschinen sind ausgestorben – sie fielen einer künstlichen Seuche zum Opfer.« Ich spürte, dass Portula mir etwas verschwieg, dass sie mehr wusste, als sie preisgab. »Das ist alles, was Hesperus mir im Moment sagen konnte«, fuhr sie fort. »Er weiß nur das, was Kadenz weiß, und sie hat sich nach Kräften bemüht, ihr Wissen vor ihm zu verbergen.«
Weshalb log sie? Bestimmt nicht deshalb, weil sie mir Informationen vorenthalten wollte. Vielleicht war Kaskade der Grund, denn er hörte sicherlich alles mit.
Lies zwischen den Zeilen, dachte ich.
»Die Ersten Maschinen sind ausgestorben – jedoch nicht vollständig. Einige flohen, bevor sie ebenfalls angesteckt wurden. Sie haben sich hinter den Sternendamm zurückgezogen. Dort warten sie seit Millionen von Jahren auf eine Gelegenheit, ihr Gefängnis verlassen zu können. Campion, es deutet alles darauf hin, dass sie uns nicht wohlgesonnen sind. Wir haben sie aus einem bestimmten Grund im Innern des Sternendamms eingesperrt – wir, die Familie Gentian. Für Kadenz und Kaskade gleichen die Ersten Maschinen verschwundenen Göttern – sie sind wie die Maschinenwesen, nur schneller, stärker, klüger -, und sie hatten Millionen Jahre Zeit, um sich weiterzuentwickeln. Das Maschinenvolk will die Ersten Maschinen befreien, damit sie sich in der Galaxis ausbreiten und sich der menschlichen Metazivilisation bemächtigen können. Darum geht es, Campion – nicht um die Zerstörung eines Sternendamms mit dem Ziel, ein paar lokale Zivilisationen auszulöschen, sondern um die Vernichtung der Menschheit. Wir repräsentieren die alte Ordnung, die Vergangenheit. Die Robots sind schlau genug, um zu wissen, dass wir früher oder später gegen sie vorgehen werden, wenn sie uns nicht als Erste auslöschen.«
»Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, wenn Galgant Erfolg gehabt hätte«, sagte Oxalis. Ich hätte ihn gern gehasst für diese Bemerkung, doch es lag keine Bösartigkeit in seinen Worten, sondern nur kaltblütige Überlegung. Am schlimmsten aber war, dass ich mir gar nicht so sicher war, ob er vielleicht nicht doch Recht hatte.