Achtundzwanzig
Hesperus ging auf
der weißen Brücke der Arche auf und ab, während ich mein Gedächtnis
durchforstete. Seine Unruhe war eher untypisch für den Robot, wie
ich ihn kannte. Ich hätte mich am liebsten weiter über die erste
Maschinenzivilisation unterhalten und in Erfahrung gebracht, was er
alles wusste und welche Rolle wir bei deren Auslöschung gespielt
hatten. Es hatte mir gutgetan, mit Campion zu sprechen – wo zuvor
nur lichtlose Leere gewesen war, brannte nun eine kleine, wärmende
Flamme. Hesperus’ Enthüllung aber nahm meine Gedanken noch immer
dermaßen in Beschlag, dass ich an fast nichts anderes denken
konnte.
»Wie haben Sie – mit
wem auch immer ich gerade spreche, ob mit Hesperus oder Valmik –
von der Auslöschung erfahren? Wenn das Maschinenvolk bereits davon
wusste, weshalb hat man uns dann nicht schon vor Hunderttausenden
Jahren darüber informiert?«
»Die Maschinen
wussten nichts von ihren Vorgängern. Als sie die galaktische Bühne
betraten, nahmen sie an, die vorhandenen historischen
Aufzeichnungen – die ihnen von menschlichen Gesandten übermittelt
wurden – wären im Wesentlichen zutreffend. Das heißt nicht, dass
sie nicht auf Fehler und Unwahrheiten in den Daten gefasst gewesen
wären. Aber sie hatten keinen Anlass zu glauben, dass die
Geschichte in einem solchen Ausmaß systematisch umgeschrieben
worden wäre. Wir haben die ganze Zeit über geglaubt, dass wir die
erste wahre Maschinenintelligenz wären. Bald wird jedoch allgemein
bekannt sein, dass dies nicht der Fall war.«
»Sie haben mir noch
immer nicht erklärt, woher Sie das wissen.«
»Als ich jung war,
haben mich Maschinen besucht.«
»Eben habe ich mit
Hesperus gesprochen. Jetzt spreche ich mit Valmik, nicht
wahr?«
»Wir sind beide
anwesend, zwei Gesichter hinter einer Maske. Es tut mir leid, wenn
ich Sie verwirren sollte, aber für mich ist es ganz natürlich, von
einem Strang meiner Existenz zum anderen zu wechseln. Ich gleiche
zwei Flüssen, die sich miteinander vereinigt haben.« Hesperus wurde
langsamer. »Vor über fünf Millionen Jahren, lange nach der Goldenen
Stunde, aber lange bevor ich nach Neume kam, wurden die
intelligenten Maschinen auf mich aufmerksam. Ich war für sie etwas
Neues – groß und langsam und wundersam. Für mich waren sie
ebenfalls neu. Ich erkannte gleich, was es mit ihnen auf sich
hatte: von Menschen entwickelte Technologie, die sich
verselbstständigt hatte und von einer schnellen, funkelnden Schläue
geleitet wurde. Ich war schon früher intelligenten Maschinen
begegnet, doch mit der geistigen Beweglichkeit wahrer Intelligenz
hätten sie es niemals aufnehmen können. Ich wusste gleich, dass
diese Wesen eine andere Klasse von Maschinen waren. Eine Alchemie
des Chaos und der Komplexität hatte ihnen Selbstbewusstsein und
freien Willen geschenkt.«
»Was ist aus ihnen
geworden?«
»Sie sagten mir, sie
wollten Kontakt mit einer menschlichen Metazivilisation aufnehmen.
Da ich einmal ein Mensch gewesen sei, hofften sie, ich könne
vermitteln und die diplomatischen Wogen glätten. Ich riet zur
Vorsicht. Ich hatte schon Dutzende Reiche kommen und gehen,
aufblühen und verwelken sehen wie Seerosen, in unaufhörlichem
Wandel begriffen. Viele dieser Reiche waren entgegenkommend und
gastfreundlich, während andere äußeren Einflüssen gegenüber eher
abwehrend eingestellt waren. Auf ihre Lebensdauer hatte das keinen
Einfluss. Die entgegenkommenden Reiche verwelkten ebenso rasch wie
die feindseligen. Doch abgesehen vom planetarischen Leben gab es
noch eine andere Ordnung von Stabilität.«
»Die Familien«,
sagte ich mit banger Erwartung.
»Es bot sich an,
dass die Maschinen mit ihnen Kontakt pflegten anstatt mit den
zersplitterten, flüchtigen Wandelzivilisationen. Nachdem sie erst
einmal harmonische Beziehungen zur Körperschaft hergestellt hatten
– die damals bereits existierte -, konnten die Stämme zwischen den
Robots und den Zivilisationen vermitteln, die sie für ausreichend
stabil und aufgeschlossen hielten. Nach und nach wurde die
Menschheit ihren neuen Robotergefährten vorgestellt. Beide Seiten
profitierten von dem neuen Bündnis. Die Robots mit ihrer kühlen,
unvoreingenommen Sicht der Politik der Menschen übten einen
mäßigenden Einfluss aus, beruhigten den endlosen Zyklus des Wandels
und leiteten eine neue Ära der Stabilität ein. Die Robots wiederum
hatten durch den Kontakt mit den menschlichen Gesellschaften
ebenfalls viel zu gewinnen – sie bekamen Zugang zu den Künsten und
Wissenschaften von Millionen Welten, in die Erfahrungen aus einer
Million Jahre eingeflossen waren. Vor allem Kunst und Wissenschaft
übten eine große Faszination auf sie aus. Sie waren überaus
wissbegierig, doch irgendetwas hinderte sie daran, kreativ zu sein.
Ihr einziger wahrhaft schöpferischer Akt bestand darin, sich selbst
erschaffen zu haben. Anschließend mussten sie sich bei all ihrer
Intelligenz damit begnügen, Fragen zu stellen. Die Beantwortung
dieser Fragen erforderte intuitive Sprünge, zu denen sie nicht in
der Lage waren.«
»Dann waren sie
anders als das Maschinenvolk.«
»Das stimmt. Die
Maschinen, die nach ihnen kamen – Millionen Jahre später -, hatten
etwas, das ihren Vorläufern gefehlt hatte. Aber vielleicht lag es
auch nur daran, dass die erste Maschinenzivilisation nicht genug
Zeit gehabt hat, kreative Fähigkeiten zu entwickeln. Nach
entsprechend vielen mentalen Permutationen wäre es ihr vielleicht
noch gelungen, diesen Mangel zu beheben.«
»Aber dazu hatte sie
keine Gelegenheit.«
»Zunächst nahm man
die Robots mit offenen Armen auf. Sie stellten eine reizvolle neue
Entwicklung dar, eine historische Wendung, mit der niemand
gerechnet hatte. Die Menschen hatten sich schon damit abgefunden,
dass sie die Galaxis mit keiner anderen Spezies würden teilen
müssen. Das war Segen und Fluch in einem. Einerseits bedeutete es,
dass sie sich unbegrenzt ausdehnen konnten und keinen Mangel an
Rohstoffen hatten, doch sie waren auch der tiefsten denkbaren
Stille ausgesetzt. Wohl wahr, die Menschheit hatte sich in zahllose
Unterspezies aufgespalten, die teilweise kaum mehr Ähnlichkeit
miteinander hatten. Aber blickte man unter die Schuppen, das Fell,
den dünnen Panzer, fand man im Kern immer noch Menschen vor, und
kein noch so unermüdliches Primatengebrabbel vermochte die Stille
gänzlich auszufüllen. Jetzt auf einmal aber hatten sie
Gesellschaft. Zugegeben, die Robots waren infolge menschlicher
Aktivitäten entstanden, doch ansonsten hätte es sich auch um Aliens
handeln können. Ihr Denken beruhte auf vollkommen anderen
Logarithmen. Trotz ihrer Fremdartigkeit waren sie jedoch nicht
unwillkommen. Es gab vergleichsweise wenige Robots, und die waren
auf ein festumrissenes Raumvolumen beschränkt, das sich in sicherer
Entfernung von den alten Zivilisationen befand. Sie hatten keine
expansionistischen Neigungen. Die Menschheit, die einem Einzelkind
vergleichbar war, das in einem alten Spukhaus aufgewachsen ist,
hatte auf einmal einen Spielgefährten gefunden. Und nach einer
Weile schien das die Beziehung zwischen beiden Zivilisationen ganz
gut zu charakterisieren. Dann aber hatte dieser Zustand ein
Ende.«
Uralte Erinnerungen
tönten in meinem Kopf wie verstaubte Glocken, die nach langer Zeit
wieder geläutet werden. Ich dachte an ein Haus mit zahllosen Räumen
und an einen Gefährten, der mich hin und wieder besucht
hatte.
»Was
geschah?«
»Das, was häufig in
einem solchen Fall geschieht. Was zunächst als schleichendes, kaum
wahrnehmbares Unbehagen einsetzte – das Gefühl, dass etwas nicht
ganz stimmte, dass man den Maschinen misstrauen müsste -,
entwickelte sich zu einer ausgewachsenen Paranoia. Natürlich wurden
nicht alle davon befallen – es gab einige, welche die guten
Absichten der Robots nie anzweifelten. Sie aber fanden kein Gehör.
Diejenigen, die für die Körperschaft sprachen – die Mächtigen und
die Macher der wichtigsten Familien -, begannen zu überlegen, wie
man die Maschinen loswerden könnte.«
»Völkermord.«
»Sie wollten keine
Unterwerfung, keine Kontrolle, sondern die Möglichkeit von
Kontrolle. Sie wollten sich in die Lage versetzen, alle möglichen
Gefahren abzuwehren, die in Zukunft von den Maschinen ausgehen
könnten. Mit großer Vorsicht wurde ein Plan ausgearbeitet. Mehrere
Robotgesandte wurden gefangen genommen und seziert – ihr Tod wurde
mit einem Unfall erklärt, dem auch Menschen zum Opfer gefallen
seien. Die Körperschaft benötigte Jahrhunderte, um die auf diese
Weise erlangten Daten zu sichten. Sie wollte herausfinden, wie der
Robotverstand funktionierte. Dabei scheiterte sie kläglich auf
ganzer Front. Allerdings barg das Scheitern auch ein Fünkchen
Einsicht. Man fand Fehler im Verstand der Robots, eine Schwäche,
die zahllosen evolutionären Umbrüchen getrotzt hatte. Diese
Schwäche konnte man sich, genügend Zeit und entsprechende
Erfindungsgabe vorausgesetzt, zu Nutze machen. Die Körperschaft
entwickelte eine Methode, um eine Datenstruktur, eine Art
Neurobombe, in das Bewusstsein der Maschinenwesen zu implantieren.
Diese Struktur sollte sich von Maschine zu Maschine ausbreiten,
ohne dass diese überhaupt merkten, dass sie Krankheitsüberträger
waren. Im Laufe der Zeit würde die ganze Maschinenzivilisation
infiziert werden. Das Beste dabei wäre, dass überhaupt nichts
Spektakuläres geschehen würde. Die Robots würden in keiner Weise
beeinträchtigt sein. Sie hätten auch weiterhin Umgang mit Menschen,
jedenfalls solange sie sich als nützlich erwiesen. Vielleicht würde
man die Waffe niemals einsetzen müssen – diese Hoffnung hegte die
Körperschaft jedenfalls, als sie sich, zumindest aus ihrer Sicht,
mit außergewöhnlicher Klugheit und Umsicht an die Umsetzung machte.
Sollten die Maschinen jemals eine Bedrohung für die Expansion oder
Hegemonie der Menschen darstellen, würde man die Neurobomben
aktivieren. Dazu bedurfte es lediglich eines harmlos wirkenden
Signals, ausgesandt ins Zentrum ihrer Zivilisation. Sobald die
Robots anfingen, die Daten zu verarbeiten und sie untereinander
weiterzuleiten, würden die Bomben einen Countdown beginnen. Die
Wirkung würde nicht sofort einsetzen, denn wenn die ersten Robots
gleich nach Empfang der Sendung gestorben wären, hätten die
Überlebenden Quarantänemaßnahmen einleiten und Rückschlüsse auf den
Ursprung der Krankheit ziehen können. Für die Körperschaft stellte
die eingebaute Verzögerung kein Problem dar – die Familien planten
schon immer auf lange Sicht.«
Mir wurde bewusst,
dass ich dies alles mit einer Art von dumpfem Fatalismus aufnahm,
denn meine Fähigkeit, mit Überraschung oder Empörung zu reagieren,
war bereits erschöpft.
»Und wie ging es
aus? Haben sich die Robots gegen uns gewandt?«
Hesperus lachte
leise. »Nein. Die Robots hatten niemals kriegerische Absichten. In
Wahrheit hatten sie von den organischen Lebewesen mehr zu fürchten
als umgekehrt. Das soll nicht heißen, dass jetzt für alle Ewigkeit
Friede, Freude, Eierkuchen hätte herrschen können – früher oder
später wäre es wahrscheinlich zu Spannungen gekommen. Aber die
Robots haben nie auch nur einen Finger gegen die menschliche
Metazivilisation erhoben.«
»Und was geschah
dann?«
»Die Waffe versagte.
Entweder die Robots veränderten sich, oder die Menschen hatten ihre
Funktionsweise nicht richtig verstanden … jedenfalls aktivierte
sich die Waffe ohne äußeren Auslöser. Die Robots starben
massenweise. Zu Anfang wussten sie nicht, wie ihnen geschah. Sie
baten die Körperschaft sogar um Hilfe! Da begriffen die Familien,
was sie mit all ihrer Schläue angerichtet hatten. Sie waren
natürlich entsetzt und aufrichtig bestürzt über die Folgen ihres
Tuns, behaupteten aber noch immer, nichts damit zu tun zu haben.
Als die Robots ausstarben, schauten sie tatenlos zu. Sie wären in
der Lage gewesen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und die überlebenden
Robots gegen die Neurowaffe zu immunisieren. Dadurch aber hätten
sie sich als die Erfinder der Neurobombe zu erkennen gegeben.
Stattdessen streuten sie das Gerücht, die Robots seien von einem
Virus infiziert worden, der von den Früheren stamme.«
»Woher wissen Sie
das alles, Hesperus?«
»Ich weiß es, weil
ich bis zuletzt Kontakt mit den Maschinen hatte. Selbst dann noch,
als sie bereits ahnten, was ihnen angetan worden war, hielten sie
den Kontakt zu mir aufrecht. Meine Bindungen zur Menschheit waren
im Laufe der Jahrhunderte immer schwächer geworden. Sie hielten
mich für einen der Ihren.«
Ich schüttelte
staunend und verwirrt den Kopf. »Dann wussten Sie es also. Die
ganze Zeit über haben Sie es gewusst.«
»Ich war zusammen
mit zahllosen anderen Augenzeuge dieser Ereignisse, Portula. Sie
glauben, Sie hätten sechs Millionen Jahre durchlebt, aber Sie haben
nicht die leiseste Ahnung, was das wirklich heißt. Das Gewicht all
dieser Erinnerungen gleicht einem Meer flüssigen Wasserstoffs, das
sich zu Metall verdichtet. Jede neue Erinnerung, die zu bewahren
ich mich entschließe, jede neue Erfahrung addiert sich zu dieser
Last hinzu. In den tiefsten, dunkelsten und dichtesten Schichten
meiner selbst erinnerte ich mich daran, was mit den ersten
Maschinenwesen geschehen war. Aber diese Erinnerungen hätten ebenso
gut in massiven Fels eingebettet gewesen sein können, so
unzugänglich waren sie für mich. Selbst wenn ich sie ausgrub und
ans Licht brachte – was ich ein-, zweimal tat -, war ich mir nicht
sicher, ob sie die wahren Ereignisse zutreffend wiedergaben. Erst
Hesperus hat alles wieder an die Oberfläche gebracht und bestätigt,
was geschehen war. Als er zu mir kam – der Erste seiner Art, sein
Kopf vollgestopft mit Daten der Vigilanz, die er Ihren
Datenspeichern entnommen hatte -, erinnerte ich mich wieder, dass
es schon andere Maschinenwesen gegeben hatte und was mit ihnen
geschehen war.« Er zeigte seine leeren Hände vor. »Und hier stehe
ich nun und erzähle Ihnen das alles.«
»Sind sie alle
gestorben?«
»Ja, im Laufe von
mehreren Tausend Jahren sind sie alle der Waffe erlegen. Eine Zeit
lang lebte die Körperschaft mit ihrer Schuld. Die Familien
versuchten sich damit zu trösten, sie hätten die Robots nicht
ausmerzen, sondern das Ausmerzen lediglich möglich machen wollen.
Sie hätten ihre Auslöschung nicht beabsichtigt, weshalb man ihnen
auch nicht den Vorwurf des vorsätzlichen Völkermords machen könne.
Das war ein feiner Unterschied, an dem sie jedoch geflissentlich
festhielten. Am Ende aber reichte das nicht, um ihren Seelenfrieden
wiederherzustellen. Der ganze Vorgang musste aus der Geschichte der
Körperschaft getilgt werden. Kein Splitterling sollte sich je daran
erinnern, nur weil sie beschlossen hatten, sich nicht erinnern zu
wollen, und ihre Erinnerungen und Aufzeichnungen entsprechend
angepasst haben.«
»Aber wie hätte das
funktionieren sollen? Dieses Vorhaben wäre viel zu groß, viel zu
kompliziert gewesen. Die anderen Zivilisationen …« Ich brachte
meine Einwände nicht deshalb vor, weil ich ihm nicht geglaubt
hätte, sondern weil ich nach einer Erklärung
verlangte.
»Mehr als eine
Familie war an dieser Schändlichkeit beteiligt. Die Körperschaft
übernahm die Koordinierung. Bei mehreren aufeinanderfolgenden
Reunionen nutzte man die Tausend Nächte, um kritische Erinnerungen
zu löschen oder zu bearbeiten. Sie alle waren daran beteiligt; das
war nicht das Werk irgendwelcher Dunkelmänner. Gleichzeitig wurden
die gemeinsamen historischen Aufzeichnungen der Körperschaft
modifiziert. Sämtliche Familien wurden gezwungen, die neue
Geschichtsversion zu übernehmen. Familien, die sich weigerten,
wurden kurzerhand ausgeschlossen. Ohne den Unterstützungsapparat
und die Kommunikationskanäle der Körperschaft waren sie zum
Aussterben verurteilt.«
»Aber es können doch
nicht nur die Familien davon gewusst haben. Wenn die Maschinen mit
Menschen Kontakt hatten, müssen auch andere Zivilisationen auf sie
aufmerksam geworden sein.«
»Das stimmt. Aber
dieses Problem hat der Wandel erledigt. Mit gelegentlicher
Nachhilfe durch die eine oder andere Familie.«
»Ich verstehe
nicht.«
»Die Familien halten
sich viel auf ihre humanen Werke zugute, mit denen sie die
unbedeutenderen Zivilisationen edelmütig schützen. Das ist ihr
gutes Recht. Aber mit den Familien verbundene Elemente haben auch
gemordet und Schwellenzivilisationen an der Entwicklung gehindert.
Glauben Sie wirklich, in sechs Millionen Jahren wäre nicht
ausreichend Gelegenheit dazu gewesen?«
Mir war übel und ich
fühlte mich leer, als wäre ein Teil von mir ausgeweidet worden.
»Das können Sie nicht wissen. Es ist eine Sache, dass sie der
Maschinenzivilisation beziehungsweise Hesperus begegnet sind, aber
…«
Er wandte sich ab,
offenbar verstimmt darüber, dass ich seine Erläuterungen nicht für
bare Münze nahm, doch mitten in der Bewegung hielt er
inne.
»Wollen Sie
ernsthaft anzweifeln, dass der Angriff auf Ihren Reunionsplaneten
mit den Vorgängen in Verbindung steht, die ich Ihnen eben
geschildert habe? Nach über fünf Millionen Jahren ist Ihre
Verwicklung in dieses Verbrechen endlich ans Licht gekommen. Mit
der Vigilanz fing alles an – wäre man dort nicht auf
Unstimmigkeiten gestoßen, wäre gar nichts passiert. Sie aber – die
Familie Gentian mit ihrem Wissensdurst und ihrem unersättlichen
Verlangen nach Anerkennung – waren die Ersten, welche für eine
weitere Verbreitung der Unstimmigkeiten sorgten. Wären Ihre
Splitterlinge bei einer anderen Reunion mit klaren Beweisen für die
Existenz einer früheren Maschinenzivilisation aufgetaucht, wäre es
nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die ganze Wahrheit ans Licht
gekommen wäre. Glauben Sie wirklich, die Maschinenwesen hätten das
alles auf sich beruhen lassen und nachsichtig über Ihren früheren
Irrtum gelächelt? Sie hätten eine starke Verbundenheit zu der
untergegangenen Zivilisation verspürt und sich gefragt, ob Sie noch
immer zu einer solchen Tat fähig wären, wenn sich Ihnen eine
halbwegs passende Gelegenheit bieten würde. Ein Mikrokrieg Mensch
gegen Maschine wäre dann unausweichlich gewesen. Deshalb musste die
Entdeckung unterdrückt werden. Wenn dies die Auslöschung der
Familie Gentian mit einschloss, einen Angriff, dem fast tausend
Sterbliche zum Opfer fallen würden, war das ein durchaus
akzeptabler Preis. Das hätte man nicht anders gesehen, wenn es um
eine Million oder eine Milliarde mögliche Opfer gegangen wäre. Die
Wächter des Geheimnisses kennen keine Skrupel, Portula. Schon gar
nicht, wenn es um Völkermord oder die Auslöschung einer anderen
Zivilisation geht.«
»Alles nahm bei der
Vigilanz seinen Anfang. Weshalb haben sie sich nicht die Vigilanz
vorgenommen, bevor die Ereignisse ins Rollen kamen?«
Die Naivität meiner
Frage rief bei ihm Belustigung hervor. »Aus Ihrem Mund hört sich
das so einfach an. Die Vigilanz ist unzerstörbar, Portula: ein
Dyson-Schwarm von solch gewaltigen Ausmaßen ist gegen Angriffe von
außen gefeit. Er existiert schon seit über fünf Millionen Jahren
und wird wahrscheinlich alle anderen Zivilisationen dieser Galaxis
überleben. Zum Glück war sich die Vigilanz der Bedeutung ihres
Fundes anscheinend gar nicht bewusst. Man war dort zu sehr auf
Andromeda fixiert, um einer Angelegenheit von lediglich lokaler
Bedeutung Beachtung zu schenken.«
Nach kurzem
Schweigen sagte ich: »Hassen Sie uns jetzt?«
»Nach allem, was Sie
für mich getan haben? Sie zu hassen, liegt mir fern. Aber ich
bedaure Sie, weil Sie das getan haben.«
»Ich habe nicht das
Gefühl, etwas mit dem Verbrechen zu tun zu haben.«
»Sie haben alle eine
Rolle dabei gespielt. Einige haben sich gegen den Plan
ausgesprochen, jedoch nicht vernehmlich genug. Einige waren der
Ansicht, der Plan gehe nicht weit genug und man solle die Waffe
aktivieren, sobald genügend Robots infiziert wären. Ich habe keine
Ahnung, welchen Standpunkt Sie damals eingenommen haben. Das müssen
Sie mit Ihrem Gewissen ausmachen.«
»Die modifizierten
Erinnerungen … ob sie sich wohl wieder aktivieren
lassen?«
»Der menschliche
Geist ist trotz seiner Einfachheit ein kniffliges Gebilde. Man kann
nicht mit ihm verfahren wie mit einem Möbelstück, etwa einem
Schrank mit Schubladen und Fächern, die man rausziehen und
reinschieben und folgenlos auswechseln kann.«
»Ich weiß«, sagte
ich leise. »Hesperus, ich bedaure, was wir damals getan haben. Oder
ich täte es, wenn Bedauern ausreichen würde. Aber wir bestrafen
Kinder nicht für die Verbrechen ihrer Eltern.«
»Sie waren keine
Kinder.«
»Aber sobald die
Erinnerung an das Verbrechen aus unserem Bewusstsein getilgt war,
konnte man mit Fug und Recht von Kindern sprechen. Man darf uns
nicht für etwas bestrafen, woran wir uns nicht mehr erinnern
können.«
»Würde es Sie
überraschen, wenn ich sagte, dass ich Ihrer Meinung
bin?«
»Ich weiß nicht
mehr, was ich glauben soll. Ich möchte einfach nur das Richtige tun
– einen Ausweg aus diesem Schlamassel finden. Wenn es bedeutet,
dass wir uns den Maschinenwesen ausliefern und ihnen die
Entscheidung überlassen müssen, ob sie uns bestrafen wollen oder
nicht, dann sollten wir das vielleicht tun.«
»In Anbetracht des
derzeitigen Stands der Dinge würde ich mich auf nichts verlassen,
was das Maschinenvolk angeht.«
»Und Kadenz und
Kaskade?«
»Ich weiß immer noch
nicht, welchen Auftrag sie haben.«
Als wir uns über das
weitere Vorgehen geeinigt hatten, folgten Hesperus und ich den
weißen Gängen der Arche bis zum Ausgang. Zuvor hatten wir uns
mittels der bordeigenen Überwachungseinrichtungen vergewissert,
dass seit dem Entweichen der Luft keine größere Maschine in den
Hangar gekommen war.
»Warum sind sie
nicht längst hier? Es wundert mich, dass sie nicht bereits auf Sie
warten.«
»Früher oder später
werden sie kommen. Vielleicht sind sie im Moment damit beschäftigt,
die Verfolgerraumschiffe abzuschütteln. Aber von jetzt an lassen
Sie nur mich an Bord, vorausgesetzt, dass ich die vereinbarten
Losungsworte nenne.«
»Helloborin und
Melde«, sagte ich, als hielte ich es für möglich, dass er sie schon
wieder vergessen hatte.
Hesperus nickte.
»Vergessen Sie nicht, Kadenz und Kaskade würde es keine Mühe
bereiten, meine Gestalt anzunehmen und meine Sprechweise
nachzuahmen. Aber sie werden glauben, dass ich mich wie Hesperus
verhalte, nicht wie Valmik. Sollten Sie mir gegenüber aus
irgendeinem Grund Verdacht schöpfen, obwohl ich die Codewörter
genannt habe, bleibt Ihnen immer noch die Möglichkeit, auf Valmik
zu lauschen. Wenn Sie von ihm nichts wahrnehmen, dürfen Sie davon
ausgehen, dass Sie nicht Hesperus vor sich haben.«
»Und was soll ich
dann tun? Wenn sie erst mal hier sind, wird es nicht mehr lange
dauern, bis sie auch an Bord kommen.«
»Ich weiß auch
nicht, was Sie unter diesen Umständen tun sollten«, sagte Hesperus.
»Das müssen Sie mit sich und Ihrem Schöpfer
ausmachen.«
»Soll das heißen,
ich soll mich dann umbringen?«
»Mir fällt
mindestens eine Möglichkeit ein, wie die Robots Sie hätten töten
können, wenn es ihre Absicht gewesen wäre.«
Ich fragte mich,
worauf er hinauswollte. »Als sie die Luft abgelassen haben, waren
sie verdammt nah dran.«
»Aber Sie haben
überlebt. Vielleicht wollten sie Sie gar nicht töten, sondern nur
dafür sorgen, dass Sie nicht wegkönnen. Ich glaube, Sie wollen
etwas von Ihnen, Portula: wahrscheinlich etwas, das sich in Ihrem
Kopf befindet. Weshalb hätten sie sonst darauf verzichten sollen,
Sie zu töten?«
Ich schauderte bei
der Vorstellung, von den beiden makellosen Maschinen verhört zu
werden.
»Ich weiß nichts«,
sagte ich.
»Mag sein. Aber
entscheidend ist, was die beiden Robots glauben.« Er öffnete die
Schleusentür und bereitete sich darauf vor, den luftleeren Hangar
zu betreten.
»Wie wollen Sie mit
mir Kontakt halten? Da draußen können sie keine Laute
erzeugen.«
»Die Schleuse
verfügt über ein simples Funkrelais. Wenn ich Ihnen etwas
mitzuteilen habe, werden Sie meine Stimme hören. Bis dahin werde
ich Funkstille bewahren – schließlich will ich es Kadenz und
Kaskade nicht unnötig leichtmachen, mich aufzuspüren.«
»Wie lange werden
Sie fort sein?«
»Etwa ein bis zwei
Stunden. Exakter kann ich die Zeit nicht schätzen.«
»Ich sollte an Ihrer
Stelle in einem Raumanzug der Arche rausgehen. Schließlich kenne
ich mich im Hangar aus …«
»Sie würden trotzdem
länger brauchen. Wenn es sein muss, kann ich mich blitzschnell
bewegen.«
Ich streichelte über
die muskulöse Verkleidung seines Unterarms. »Seien Sie vorsichtig,
Hesperus.«
»Versprochen.« Nach
kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich bin froh, Portula, dass Sie mich
nach allem, was ich Ihnen erzählt habe, nicht hassen.«
»Es ist nicht meine
Art, den Überbringer einer Nachricht für deren Inhalt
verantwortlich zu machen. Sie haben lediglich getan, was Sie tun
mussten.«
»Sie haben es mit
Fassung aufgenommen. Dann können wir nur hoffen, dass Ihre
Mitsplitterlinge Ihrem Beispiel folgen werden, nicht
wahr?«
Die Innentür schloss
sich hinter ihm. Durch die verglaste Trennwand beobachtete ich, wie
seine goldene Verkleidung aschgrau wurde. Ich hätte nie gedacht,
dass er so mühelos seine Erscheinung verändern könnte, doch
inzwischen konnte mich nichts mehr an Hesperus überraschen. Als er
sich aus dem Schleusenraum katapultierte, verwandelte sich das
Aschgrau in einen dunklen, verwischten Schemen. Dann schloss sich
die Außenluke, und ich war mit meinen Ängsten allein in der weißen
Arche.
Auf einmal wurde mir
bewusst, dass ich das einzige Lebewesen an Bord meines Raumschiffs
war.