Sechsundzwanzig
Hesperus wandte sich
von der Shuttle-Konsole ab und schüttelte seinen prachtvollen
goldenen Kopf. »Das sieht nicht gut aus, Portula.«
»Könnte das Shuttle
bei unserem Fluchtversuch beschädigt worden sein?«
»Ich bezweifle, dass
in der Sende- oder Empfangsvorrichtung ein Fehler aufgetreten ist.
Entweder die Silberschwingen blockiert
die ausgehenden Signale, oder sie unterdrückt das Antwortsignal von
Neume oder den Raumschiffen, die uns vermutlich
folgen.«
»Das ist nur ein
Shuttle«, sagte ich und fragte mich, weshalb er sich so sicher war,
dass man uns folgte. Meiner Schätzung nach waren wir höchstens drei
Stunden unterwegs. So lange brauchten die Splitterlinge manchmal
allein fürs Frühstück. »Niemand hat je damit gerechnet, dass es mal
über eine Entfernung von mehr als ein paar Lichtsekunden hinweg
eine Verbindung herstellen oder das Antriebsfeld eines anderen
Raumschiffs durchdringen müsste«, sagte ich, während sich meine
Stimmung so sehr verdüsterte, als würde ich von einer schwarzen
Flut verschluckt.
Meinen Gefährten
vermochte das nicht zu entmutigen. »Ich habe Sie gebeten, über
einen Umstieg in ein anderes Schiff nachzudenken, das uns mehr
Schutz bieten würde und besser für eine Flucht geeignet wäre. Haben
Sie schon mögliche Kandidaten ausgewählt?«
Die Müdigkeit
erschwerte mir das Nachdenken. Nach Neume-Zeit war es erst früher
Abend, doch ich hatte das Gefühl, seit der Schiffsübernahme durch
die Robots wären bereits mehrere Tage verstrichen. »Es gibt da ein
paar Möglichkeiten.«
Hesperus
verschränkte seine kräftigen goldenen Arme. »Gut. Berichten
Sie.«
»Zwei Kilometer
weiter hinten steht ein geeignetes Schiff.«
»Also noch weiter
vom Hangartor entfernt.«
»Leider ja. Aber ich
bin alle Schiffe durchgegangen und komme immer wieder auf dieses
eine zurück. Als würde es mich auffordern, an Bord zu
kommen.«
»Kann es uns am
Leben erhalten?«
»Es ist eine alte
Arche, erbaut von einer Schwellenzivilisation. Eine andere
Zivilisation hat es im Weltraum treibend entdeckt und es mit einem
interstellaren Antrieb und ein paar anderen Neuerungen ausgerüstet.
Von dort aus sollte es gelingen, die Felder der Silberschwingen zu durchdringen. Es verfügt über
eine eigene Energieversorgung und funktionierende
Realisatoren.«
»Stasisvorrichtungen?«
»Ich glaube,
ja.«
»Sie
glauben.«
»Ich bemühe mich ja,
Hesperus. Es ist schon eine Weile her, dass ich an Bord war, aber
ich glaube, es gibt Stasiskammern – jedenfalls irgendetwas, das ich
benutzen könnte. Ob die für Sie geeignet sind, weiß ich
nicht.«
»Ich komme schon
zurecht. Wir sollten jetzt von hier verschwinden, bevor Kaskade und
Kadenz nach uns schauen kommen. Gibt es im Shuttle einen
Realisator?«
»Nur einen kleinen.
Was haben Sie vor?«
»Ich würde gern
einen Raumanzug anfertigen lassen, falls nicht schon einer an Bord
ist.«
»Einen
Raumanzug?«
»Sie könnten einen
brauchen. Wir können nicht zu dem anderen Schiff hinüberflitzen,
und wir können uns auch nicht darauf verlassen, dass die Luft im
Hangar nicht plötzlich abgelassen wird.«
Ich blinzelte. »Ich
weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal einen Raumanzug
getragen habe. Nein, warten Sie … ich habe einen benutzt, als ich
die Vigilanz besucht habe.«
»Das war Campion,
wenn ich mich recht erinnere.«
»Vermischung von
Erinnerungen. Nein, der Realisator wird uns nicht weiterhelfen – er
müsste den Raumanzug schon aus Einzelteilen zusammenstoppeln. Aber
vielleicht ist ja noch einer im Laderaum verstaut.«
»Halten Sie das für
wahrscheinlich?«
»Keineswegs. An Bord
eines solchen Raumfahrzeugs benötigt man einen Raumanzug nur alle
Million Jahre.«
»Und heute ist es so
weit. Gehen Sie nachschauen, aber lassen Sie sich nicht länger als
zwei Minuten Zeit. Wenn Sie bis dahin nicht fündig geworden sind,
gehen wir trotzdem von Bord.«
Ich ging
nachschauen, wusste aber im Grunde, dass es aussichtslos war. Das
Shuttle hatte schon Milliarden Flugstunden hinter sich gebracht,
ohne dass die Passagiere jemals in die Verlegenheit gekommen wären,
einen Raumanzug anfertigen zu müssen.
»Wenn wir erst
einmal in der Arche sind«, sagte Hesperus, »könnte es problematisch
sein, wieder hierher zurückzukehren. Wir sollten uns daher
vergewissern, dass wir nichts Wertvolles zurücklassen, was die
Realisatoren der Arche nicht nachbauen können.«
»Da fällt mir nichts
ein. Wir haben nicht mal eine Energiepistole
vorzuweisen.«
»Dann gehen wir
jetzt von Bord. Beschreiben Sie mir die Lage des Raumschiffs und
wie man an Bord kommt.«
Ich tat wie
geheißen. Hesperus nickte bedächtig. »Ja. Ich erinnere mich, dass
wir bei unserem Fluchtversuch an dem Schiff vorbeigekommen sind.
Achtunddreißig Meter vom Bug entfernt war ein Eingang. Sind Sie
sicher, dass das Schiff mich einlassen wird?«
»Es gibt keine
speziellen Sicherheitsvorkehrungen. Weshalb auch? Wir befinden uns
an Bord meines Schiffes.«
»Ich musste diese
Frage stellen.« Hesperus wandte sich der Konsole zu. »Gehen Sie zur
Luke und warten Sie auf mich. Ich komme gleich nach.«
»Was haben Sie
vor?«, fragte ich, während er sich an der Steuerung zu schaffen
machte.
»Ich erhöhe den
Antriebsschub.«
Ich spürte, wie das
Shuttle in der Feldverankerung bockte. »Das haben wir doch schon
versucht. Es hat nicht funktioniert.«
»Ich erklär’s Ihnen
unterwegs. Jetzt haben wir keine Zeit dafür.«
Als ich die Rampe
abgesenkt hatte und auf die Laufplanke des Hangars trat, war
Hesperus bereits fertig. Ich hörte das Alarmsignal der Konsole. Die
Bemühungen des Shuttles waren jedoch vergeblich.
»Was haben Sie
gemacht?«
Er kam die Rampe
herunter, legte die Hand flach auf das Steuerfeld. Die Rampe wurde
eingefahren, die Luke geschlossen. »Lassen Sie sich tragen. Je eher
wir die Arche erreichen, desto besser. Wir werden mit Sicherheit
beobachtet.«
»Das ist meiner
Würde abträglich.«
»Da sind wir schon
zwei.« Hesperus nahm mich auf die Arme und beschleunigte mit
übermenschlichem Tempo in Richtung der Arche. Seine Beine waren nur
noch verwischte Schemen, doch ich nahm kaum Erschütterungen wahr,
als ob wir schwebten.
»Hesperus, was haben
Sie mit dem Antrieb gemacht?«
»Wie schon erwähnt,
werden wir mit ziemlicher Sicherheit beobachtet. Der Shuttleantrieb
arbeitet jetzt gegen das parametrische Feld der Silberschwingen, was dessen Leistung geringfügig
herabsetzt.«
»Geringfügig – Sie
sagen es. Das ist so, als würde man ein Kreuzfahrtschiff abbremsen
wollen, indem man einen Zweig ins Wasser hält.«
»Aber wir haben
viele Zweige.«
»Ich verstehe
nicht.«
»Der Hangar ist
voller Raumschiffe. Sobald wir uns an Bord der Arche befinden,
werde ich versuchen, so viele Antriebe wie möglich zu aktivieren.
Selbst wenn mir das nur in ein paar Fällen gelingen sollte, könnte
es den Schub der Silberschwingen um ein
bis zwei Prozent mindern.«
»Das wird Kadenz und
Kaskade nicht gefallen.«
»Wenn mir noch etwas
anderes einfallen würde, um ihr Missfallen zu erregen, würde ich es
tun.« Hesperus stockte, dann sagte er: »O je.«
»O je,
wieso?«
»Ich habe soeben
einen minimalen Druckabfall festgestellt.«
Ich blickte mich zum
Hangartor um. Es hatte sich zu öffnen begonnen, und durch die
schmale Lücke sah man den interstellaren Raum.
»Der Druckschirm …«,
sagte ich.
»Den haben sie
abgeschaltet. Atmen Sie tief durch, Portula. Ich glaube, wir
verlieren Luft.«
Plötzlich spürten
wir die Gewalt des Sogs der ins Vakuum entweichenden fast fünfzig
Kubikkilometer Luft. Wir vernahmen ein leises Rauschen, das immer
weiter anschwoll, bis es sich anhörte, als werde das Universum
entzweigerissen.
Vor uns lag fast
noch ein Kilometer. Ich wollte etwas sagen, vermochte das Geheul
der entweichenden Luft jedoch nicht zu übertönen. Hesperus packte
mich fester und beugte sich schützend vor, seine Beine wirbelten
noch schneller als zuvor. Der Orkan wurde zu einer massiven Wand,
die mich in den Weltraum mitgerissen hätte, wenn mich Hesperus
nicht festgehalten hätte. Ich hatte keine Ahnung, wie er es
anstellte, nicht fortgeweht zu werden – offenbar verankerte er
seine Füße bei jedem Schritt kurzzeitig am Decksboden.
Aus der Ferne
vernahm ich ein Geräusch, das unglaublicherweise noch lauter war
als das Tosen der Luft. Aus schmalen Augenschlitzen sah ich, wie
eines meiner Raumschiffe, das sich losgerissen hatte, auf uns
zutaumelte. Es überschlug sich und krachte gegen die größeren
Raumfahrzeuge, die noch verankert waren. Das war der einzige
Irrläufer, doch wenn wir ihm in die Quere kamen, drohte er uns zu
zermalmen. In diesem Moment prallte das Schiff gegen ein weiteres
Hindernis und riss es aus der Verankerung. Der Irrläufer wurde
aufgrund des Luftsogs immer schneller. Er prallte gegen den Rumpf
eines Leichters der Elften Interzession und zerschellte wie ein
morsches Skelett. Aus dem Wrack hervor kam uns etwas
entgegengetrudelt. Unwillkürlich wandte ich den Kopf ab, als ob das
etwas genützt hätte. Hesperus löste die eine Hand von mir, hielt
mich mit der anderen fest, dann blitzte sein Arm auf, als er den
heranwirbelnden Gegenstand beiseiteschlug. Die Trümmer des
Irrläufers flogen vorbei, gefolgt vom zweiten Raumschiff, das er
aus der Verankerung gerissen hatte. Als ich den Kopf wieder in die
Ausgangslage zurückdrehte, sah ich, wie das Schiffswrack durchs
offene Hangartor flog, dann musste ich die Augen schließen, denn
der Orkan war zu stark. Ich atmete noch einmal ein, und diesmal war
die Luft schon merklich dünner und kälter. Der Hangar leerte sich
immer schneller, denn das Tor war inzwischen fast vollständig
geöffnet. Als ich erneut einatmete, krampfte sich meine Lunge um
die Leere zusammen, als suchte sie nach einem Widerstand, der nicht
mehr vorhanden war.
Offenbar verlor ich
das Bewusstsein, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann,
dass ich ohnmächtig wurde. Als ich wieder zu mir kam, kniete
Hesperus neben mir, und wir befanden uns an einem warmen, wei ßen
und stillen Ort, wo es Schwerkraft gab und ich wieder atmen
konnte.
»Wir sind in der
Arche. Sie haben das Bewusstsein verloren, aber ich glaube, es sind
keine größeren Schäden aufgetreten. Geht es Ihnen
gut?«
»Nein.«
»Vielleicht hätte
ich die Frage anders formulieren sollen.«
»Es geht schon
wieder. Wie lange war ich bewusstlos?«
»Ein paar Minuten,
aber ohne Atemluft waren Sie nur neunzig Sekunden lang. Ich habe
den Eingang so geöffnet, wie Sie es mir erklärt haben.« Hesperus
klopfte gegen die weiße Wand. »Sie haben eine gute Wahl getroffen,
Portula. In diesem Schiff sind wir vorerst sicher.«
Er half mir beim
Aufstehen, so behutsam wie ein Geliebter.
»Funktioniert das
Schiff?«
»Die Arche hat sich
eingeschaltet, also haben wir unbegrenzt Energie. Alles deutet
darauf hin, dass hinter der Luke Vakuum herrscht. Jetzt brauchen
Sie mir nur noch die Steuerzentrale zu zeigen.«
»Ich glaube, die
Brücke ist dort«, sagte ich und zeigte in einen Gang.
»Gehen Sie
voran.«
Wir schritten über
gewundene, weiß erleuchtete Korridore, bis wir die über dem
walartigen Bug befindliche kuppelförmige Ausbuchtung der
Kommandobrücke erreicht hatten. Unterwegs kamen wir an den alten
Galerien vorbei, in denen einmal die Schläfer untergebracht gewesen
waren, Reihe um Reihe wie Steinfiguren an einer Kathedralenwand.
Übrig geblieben waren die sargartigen Nischen, welche die
Schläferausrüstung beherbergt hatten. Die Zivilisation, welche die
Arche umgebaut hatte – inzwischen ebenso vergessen wie die Erbauer
des Raumschiffs -, hatte die Nischen zur Aufbewahrung von Fracht
oder zu Erholungszwecken genutzt und die Türen entsprechend
verbreitert. Andere Galerien beherbergten die umfangreiche
Antriebsmaschinerie und die zugehörigen Systeme, die etwa ein
Drittel des verfügbaren Raums in Anspruch nahmen. Ob die übrigen
Frachträume leer oder mit weiterem Plunder vollgestopft waren,
wusste ich nicht mehr.
Die Brücke war ein
scheibenförmiger Raum mit niedriger, schüsselförmiger Decke. Um den
runden Steuerblock herum waren weiße Polstersitze angeordnet,
darüber schwebte ein transparentes Display. Aus dem Block ragten
weiße Steuerstäbe hervor, an deren Enden nachgiebige Ballons oder
zarte Griffe saßen, die an Auslöser einer Waffe erinnerten.
Schwebende Kugeln spendeten Licht. Fenster gab es keine – die Wände
waren allerdings mit Mustern in blassen Lilatönen verziert.
Ansonsten war fast alles im Raum weiß, und es gab weder Schatten
noch starke Kontraste.
»Sie erlauben?«,
sagte Hesperus und deutete auf einen der leeren Sitze.
»Nur zu! Machen Sie
sich kundig.«
Ich stellte mich
hinter seinen Sitz, während er die Steuerung übernahm. Sogleich
falteten sich aus dem weißen Boden Displays auf, die sich neigten,
um sich Hesperus’ Sitzhaltung anzupassen. Unmengen von rotem Text
und zahllose Diagramme schwebten gehorsam in Position. Der Text war
aus rechteckigen Piktogrammen zusammengesetzt.
»Klingelt da was bei
Ihnen?«, fragte ich skeptisch.
»Das habe ich schon
mal gesehen. Es hat nur einen Moment gedauert, bis ich die
Übersetzungsfilter aus dem Tiefengedächtnis ausgegraben
hatte.«
»Na großartig.
Eigentlich hatte ich vor, die Schiffe an den Familienstandard
anzupassen, aber ich bin einfach nie dazu gekommen.«
»Das wird Ihnen eine
Lehre sein.«
»Was soll mich das
lehren?«
»Nicht eine Million
Jahre aufzuschieben, was Sie gleich erledigen können.« Nach
erteiltem Rat verstummte Hesperus. Seine Hände zuckten, und der
Text und die Diagramme scrollten rasend schnell
vorbei.
»Ich warte auf gute
Neuigkeiten«, sagte ich nach einer Weile.
»Also, die
Energieversorgung arbeitet, wie wir bereits vermutet haben. Und
zwar haben wir mehr Energie, als wir brauchen. Der Antrieb meldet
sich startklar. Die Lebenserhaltungssysteme funktionieren normal.
Es gibt Trägheitsdämpfer und Impassoren. Zum Manövrieren auf engem
Raum gibt es einen Realschubantrieb. Wenn sich uns keine
Hindernisse in den Weg stellen, könnten wir eigentlich sofort
starten.«
Ich kratzte mich am
Hals. »Und warum tun wir’s dann nicht?«
»Kaskade und Kadenz
haben das Schiff vollständig unter ihrer Kontrolle, Portula. Sie
haben das Hangartor in der Absicht geöffnet, Sie zu töten. Jetzt,
da die Luft weg ist, haben sie den Schutzschirm vermutlich
eingeschaltet und das Tor wieder geschlossen. Ich fürchte, wir
würden nicht weit kommen.«
»Wir könnten es
wenigstens versuchen.«
»Dabei könnten wir
umkommen. Im Moment sind wir in Sicherheit und können in Ruhe
Entscheidungen treffen.«
»Und woran haben Sie
gedacht?«
»Wir sollten
versuchen, Kontakt mit den Verfolgern aufzunehmen und auf diese
Weise unsere Position, unsere Geschwindigkeit und den angenäherten
Kurs bestimmen. Dann können wir uns Gedanken über das Ziel dieser
Unternehmung machen.«
»Wir fliegen zur
Maschinenzivilisation.«
»Ja«, sagte er
zerstreut.
»Sie scheinen sich
da nicht so sicher zu sein.«
»Sicher ist für mich
im Moment gar nichts, Portula. Es ist lange her, dass ich vom
Monoceros-Ring aufgebrochen bin, doch an irgendwelche kriegerischen
Neigungen kann ich mich nicht erinnern. Ganz im Gegenteil. Die
meisten Denker wünschten sich für unsere beiden Metazivilisationen
nichts als Frieden und Wohlstand. Ich wurde beauftragt, im Archiv
der Vigilanz anomale Aufzeichnungen zu untersuchen, aus Gründen der
Vollständigkeit und zur Befriedigung unserer Neugier. Ich sollte
weder Krieg führen noch mir Feinde machen.«
Dies war das erste
Mal, dass er sich mit einiger Bestimmtheit zu seinem Auftrag
geäußert hatte.
»Und wie steht es
mit Kadenz und Kaskade?«
»Vielleicht wurden
sie von einer anderen Gruppierung des Maschinenvolks ausgesandt.
Ich weiß nicht, was sie vorhaben.«
»Aber Sie haben doch
bestimmt irgendwelche Vermutungen.«
»Ich habe
Denkansätze. Gedankensplitter. Und ich kenne eine große, sehr
verstörende Wahrheit, die ich Ihnen bald werde offenbaren
müssen.«
»Sagen Sie mir,
welchen Auftrag Sie hatten«, sagte ich in dem Gefühl, unter mir
habe sich eine Falltür aufgetan.
Hesperus nahm
weitere Einstellungen vor, ohne meine Frage zu beantworten. »Ich
habe die Eingänge gesichert. Wer hier rein will, muss schon Gewalt
anwenden.«
»In Anbetracht der
Umstände klingt das nicht sehr beruhigend.«
»Ich möchte unsere
Lage nicht rosiger darstellen, als sie ist. Wenn die beiden Robots
Zugang zu den Systemen der Silberschwingen haben, können sie auch Waffen oder
Geräte mit hoher Durchdringungskraft herstellen. Aber wir verfügen
ebenfalls über Realisatoren. Wir können uns verteidigen. Außerdem
haben wir eine Option, die sie nicht haben.«
Sein drohender
Unterton war nicht zu überhören. »Und die wäre?«
»Wir können die
Arche zerstören. Wenn der Antrieb detonieren würde, wäre kein
Schutzschirm stark genug, um zu verhindern, dass auch die anderen
Schiffe im Hangar in die Luft fliegen – das würde nicht einmal dann
gelingen, wenn die Silberschwingen
einen Impassor um den Hangar legen würde.«
»Also können wir
ihnen schaden.« Ich verzichtete darauf, zu erwähnen, welche Folgen
das für uns hätte.
»Es würde ganz
schnell gehen, Portula. Wenn Sie Angst haben, könnten Sie vorher in
Stasis gehen.«
»Also, damit sollten
wir noch warten.«
»Ich wollte nur
unsere Optionen klar herausstreichen.«
»Schon verstanden.
Ob Kadenz und Kaskade auch schon darauf gekommen
sind?«
»Bestimmt. Ob sie
glauben, dass wir’s tun werden, steht auf einem ganz anderen
Blatt.«
»Glauben Sie, sie
wissen, dass wir noch am Leben sind?«
»Sie wissen, dass
ich noch funktioniere und dass Sie zumindest so lange am Leben
waren, bis Sie das Bewusstsein verloren haben. Allerdings glaube
ich nicht, dass sie unsere Aktivitäten hier in der Arche überwachen
können.«
»Sie werden es
merken, wenn Sie von Bord gehen.«
»Ich werde mich sehr
schnell bewegen, meine Farbe ändern und die Raumschiffe und andere
Hindernisse als Deckung nutzen.«
»Ich brauche noch
Zeit, um die Liste zu vervollständigen. Wenn ich nur auf meinen
Datenspeicher zugreifen könnte …«
»Ich habe volles
Vertrauen in Ihre geistigen Fähigkeiten.« Sein Tonfall wurde
schroff und geschäftsmäßig. »Ihr Einverständnis vorausgesetzt,
werde ich den Antrieb der Arche jetzt auf Rangierschub hochfahren.
Auf stärkeren Pseudoschub möchte ich lieber verzichten, damit das
Schiff sich nicht aus dem Andockfeld löst.«
»Bitte sehr«, sagte
ich und schaute zu, wie er an der Steuerung hantierte.
Hesperus erweckte
den schlummernden Antrieb zum Leben und brachte ihn zum ersten Mal
seit Zehntausenden Jahren subjektiver Zeit auf Touren. Viele
Schiffe hätten einem solchen Verlangen Widerstand entgegengesetzt.
Für die Arche, die bestens ausgerüstet war für ein langes und
ehrenhaftes zweites Leben, stellte dies keine Überforderung dar.
Die rote Schrift und die Symbole strömten über weiße Monitore, die
zuvor leer gewesen waren, es ertönten mehrere Tonsignale, und ich
hatte einen Moment lang das Gefühl, der Boden schwanke, so dass ich
mich abstützen musste. Dann vernahm ich ein fernes Brummen, weniger
ein Geräusch als eine subsonische Empfindung. Die Silberschwingen krümmte den Raum in die eine
Richtung, während sie auf der Verzerrung surfte; die Arche
versuchte ihn wieder zu glätten.
»Glauben Sie, die
Robots werden das bemerken?«
»Bestimmt. Sie
werden den Effekt noch deutlicher wahrnehmen, wenn ich den gleichen
Trick auf weitere Schiffe anwende.«
Ich dachte an die
Liste, die er von mir haben wollte. Ein paar Schiffe konnte ich ihm
bereits nennen, doch ich wollte, dass er erst dann von Bord ging,
wenn ich mir sicher war, dass mir alle geeigneten Raumschiffe
eingefallen waren.
»Ich würde mir die
Namen und Positionen gern notieren.«
»Nennen Sie sie
einfach. Ich werde mir alles Wichtige merken.« Mit einer anmutigen
Handbewegung nahm er eine Einstellung vor, was eine weitere Serie
von Tonsignalen zur Folge hatte. »Ich habe den Sender der Arche auf
volle Leistung geschaltet. Außerdem lasse ich ihn die Frequenz
ständig wechseln, so dass gute Aussicht besteht, dass er die
Hangarwände und die Verzerrung der Raumzeit durchdringen kann, die
der Antrieb verursacht. Das Schiff wird uns informieren, sobald es
ein Antwortsignal auffängt.«
»Vielleicht fliegt
uns ja überhaupt niemand hinterher.«
»Glauben Sie
wirklich, Campion würde Sie einfach so ziehen lassen?«
»Er bräuchte
Betonies Einwilligung, um mir hinterherzufliegen.«
»Ich bezweifle, dass
ihn jemand davon abhalten könnte.«
»Sie haben Recht.«
Die Vorstellung, dass Campion dort draußen war, hob einerseits
meine Stimmung, andererseits ängstigte es mich auch. Mir wäre es
lieber gewesen, er wäre an einem sicheren Ort gewesen, anstatt
meinetwegen sein Lebens auf Spiel zu setzen. »Hesperus«, sagte ich
zögernd, »die verstörende Wahrheit, die Sie eben erwähnt haben –
möchten Sie jetzt darüber reden?«
Er erhob sich;
offenbar hatte er fürs Erste alle notwendigen Einstellungen
vorgenommen. »Sie haben Recht; der geeignete Zeitpunkt wird sich
wohl nie ergeben.«
»Dann bringen wir’s
hinter uns.«
Er überlegte einen
Moment, dann deutete er auf einen der weißen Polstersessel. »Nehmen
Sie Platz, Portula.«
»Warum?«
»Weil Sie emotional
instabil sind und weil das, was ich Ihnen sagen will, Ihre ganze
Geisteskraft beanspruchen wird.«
»Es geht mir wieder
besser. Ich werde schon nicht in Ohnmacht fallen.«
»Setzen Sie
sich.«
Ich setzte
mich.
Hesperus nahm mit
verschränkten Armen vor mir Aufstellung. »Ich bin nicht Hesperus«,
sagte er.
Unwillkürlich lachte
ich auf. »Was soll das heißen? Ich kenne Sie. Ich habe Sie zum
Luftgeist gebracht. Ich habe Sie wieder abgeholt.«
»Vielleicht habe ich
mich unklar ausgedrückt. Ich war Hesperus. Jetzt bin ich mehr als
er. Hesperus ist ein Teil von mir, ein wichtiger Teil, ein hoch
geschätzter Teil, aber er ist nicht die Quintessenz meiner selbst.
Ich bin jetzt nicht mehr nur die Maschine Hesperus, sondern auch
Abraham Valmik.«
Ich schauderte; auf
einmal hatte ich Angst um meine Sicherheit. »Hören Sie auf, so zu
reden.«
»Ich sage nur die
Wahrheit. Der Geist existiert nicht mehr auf Neume. Alles, was ihn
ausmachte, alles, was er jemals wusste, alles, war er empfunden
oder erlebt hat, ist jetzt Teil von mir.«
Ich schüttelte
abwehrend den Kopf. »Das kann nicht sein. Der Geist war doch noch
da, als ich aufgebrochen bin.«
»Ich habe eine leere
Hülle zurückgelassen, ohne eigenständiges Bewusstsein. Sie wird
weiterhin durch die Atmosphäre treiben und die alten Bewegungen
vollführen. Aber das bin nicht mehr ich. Ich bin jetzt dieser
goldene Körper. Es war an der Zeit, etwas Neues zu beginnen, mich
wieder zu verdichten. Ich bin Abraham Valmik. Ich war einmal ein
Mensch, dann wurde ich zum Luftgeist. Jetzt bin ich fast wieder ein
Mensch.«
Ich bemühte mich,
das Gehörte zu verarbeiten. Weshalb sollte der Geist nach den
vielen Jahrtausenden, den zahllosen Jahrhunderten, der ganzen
langen Zeit, ausgerechnet diese Gestalt ausgewählt haben, um sich
weiterzuentwickeln?
»Warum haben Sie den
sicheren Planeten verlassen?«, fragte ich. »Dort konnte Ihnen
nichts geschehen. Jetzt können Sie jeden Moment getötet werden,
wenn Kadenz und Kaskade beschließen sollten, uns zu
vernichten.«
»Diese Gefahr
besteht. Aber ich hatte wohl keine andere Wahl. Eine Zeit der
großen Stabilität, die Millionen Jahre währte, endet nun. Es gab
keine Garantie, dass es auf Neume in Zukunft sicherer wäre als hier
an Bord dieses Raumschiffs.«
»Was wissen
Sie?«
»Alles. Alles und
nichts. Ich habe von verstörenden Neuigkeiten gesprochen, Portula.
Was ich Ihnen eben über meine Identität gesagt habe, mag Ihnen
verstörend erscheinen. Aber das habe ich eigentlich nicht
gemeint.«
Ich sank tiefer ins
Polster. »Was immer Sie mir sagen wollen, ich bin
bereit.«
»Als Hesperus zu mir
gebracht wurde – ein intelligentes, wenn auch stark beschädigtes
Wesen -, hat er eine Veränderung bei mir ausgelöst. Die Veränderung
stand offenbar schon seit geraumer Zeit an. Vielleicht hatte bei
mir ein langsamer Prozess des Erwachens eingesetzt, die allmähliche
Erkenntnis, dass es an der Zeit sei, mich aufzuraffen und etwas
Neues zu beginnen. Aber wäre ich – Hesperus – nicht zu mir – Valmik
– gebracht worden, befände ich mich noch immer in diesem
Schwebezustand, vergleichbar einem Schläfer, der sich aus den
Verstrickungen eines angenehmen, verführerischen Traums zu lösen
versucht, dessen Farben bunter und eindrucksvoller sind als die
Realität im Wachzustand.«
»Wir mussten ihm
helfen.«
»Das war ein Akt
reiner Freundlichkeit. Wir sind Ihnen beide dafür dankbar, Portula.
Aber jetzt sollen Sie die ganze Geschichte erfahren.«
Mir schnürte sich
die Kehle zusammen. In meinem Bauch rumorte es. »Fahren Sie
fort.«
»Das Maschinenvolk
hat Neume nie besucht. Hesperus war der Erste, oder zumindest das
erste Maschinenwesen, auf das ich aufmerksam wurde. Doch als er
auftauchte, als ich seinen beschädigten Körper in mir aufnahm,
erinnerte ich mich an etwas. Diese Erfahrung liegt so lange zurück,
dass ich sie nicht eindeutig von einer Einbildung unterscheiden
kann. Als ich jedoch Hesperus’ Gedächtnis auseinandernahm,
entdeckte ich den Schlüssel, der meine Erinnerung als wahr
bestätigte.« Er hielt inne und betrachtete mich so eindringlich,
wie er es mit seiner goldenen Maske vermochte. »Er war nicht der
Erste.«
»Sie haben gesagt,
vor ihm wären keine anderen Maschinenwesen bei Ihnen
gewesen.«
»Das stimmt auch.
Eine Million Jahre nach der Goldenen Stunde, vier Millionen Jahre
vor dem Maschinenvolk, gab es jedoch schon andere.«
»Was für
andere?«
»Eine andere
Maschinenzivilisation. Ein anderes Volk intelligenter Roboter mit
eigenständigem Bewusstsein.«
»Nein«, widersprach
ich im Brustton der Überzeugung. »Ich kenne die Geschichte. Vor dem
Maschinenvolk gab es nichts Vergleichbares.«
»Das glauben Sie.
Aber die Vigilanz hat andere Belege gefunden. Ich entdeckte die
Überreste dieser Roboterzivilisation auf mehreren Welten, verteilt
über die ganze Galaxis. Die Belege wurden falsch gedeutet; man nahm
an, die Früheren seien dafür verantwortlich gewesen. Die Vigilanz
ist in der offiziellen Erklärung jedoch auf Widersprüche gestoßen –
die zeitliche Einordnung passte nicht zur Früheren-Hypothese – und
hat das Thema für weitere Nachforschungen markiert. Als das
Maschinenvolk davon Kenntnis erhielt, wurde ich damit beauftragt,
die Vigilanz aufzusuchen und herauszufinden, was man dort in
Erfahrung gebracht hat.«
»Ihr
Auftrag.«
»Etwa zur gleichen
Zeit – während desselben Umlaufs – muss Campion die Vigilanz
besucht und seinen Bericht für die Familie Gentian verfasst haben.
In Campions Strang wurde anscheinend auf die gleiche Unstimmigkeit
Bezug genommen, auch wenn dies nur ein einzelner funkelnder
Edelstein in einer Schatztruhe des Wissens war. Aber mit diesem
Edelstein fing alles an, Portula. Als Campion seinen Strang
ablieferte, wurde ein gewaltiges, unerbittliches Räderwerk in Gang
gesetzt. Das ist der Grund, weshalb man Sie zweihundert Kilojahre
später angegriffen hat.«
»Und das alles nur
wegen einer Unstimmigkeit in den Daten der Vigilanz?«
»Wegen der Bedeutung
dieser Unstimmigkeit – für die Menschheit, für das Maschinenvolk
und ganz besonders für die Familie Gentian.«
Mir schwindelte. Ich
hatte nicht nur Mühe, mich mit einer zweiten Maschinenzivilisation
abzufinden, die im Widerspruch zur allgemeingültigen
Geschichtsschreibung stand. Ich hatte diese Geschichte selbst
durchlebt, war Augenzeuge der Ereignisse gewesen. Ich erinnerte
mich an all die Brüche und Wendungen, an all die grausamen
Verwicklungen. Ich konnte die Namen von hunderttausend
Zivilisationen abspulen, die dem Wandel zum Opfer gefallen waren,
ohne auch nur einmal Luft zu holen. In dieser Litanei der bekannten
Ereignisse war kein Platz für etwas so Bedeutsames wie das
Aufkommen einer weiteren Maschinenzivilisation.
»Ich begreife das
nicht, Hesperus. Was hat das alles mit uns zu tun? Und wenn diese
Maschinen tatsächlich existiert haben, weshalb weiß ich dann nichts
darüber? Wie haben sie es geschafft, die Bühne zu betreten und
wieder zu verlassen, ohne geschichtliche Spuren zu
hinterlassen?«
»Aber das haben
sie.«
»Das verstehe ich
nicht.«
»Sie haben
geschichtliche Spuren hinterlassen. Sie haben die Geschichte
mitgeprägt. Aber die Spuren wurden anschließend mit großer
Gründlichkeit systematisch ausgelöscht.«
»Von den
Maschinen?«
»Die waren bereits
ausgestorben.«
»Wer hat es dann
getan?«
Hesperus wartete
einen Moment, dann sagte er ganz sanft, so als wollte er es
vermeiden, mir wehzutun oder mir Angst zu machen: »Das Haus der
Sonnen war die geheime Familie, welche die Aufgabe hatte, dieses
Wissen auszulöschen. Sie und jeder andere Splitterling der
Körperschaft waren an dessen Entstehung beteiligt. Als man Sie
angegriffen hat, wurden Sie das Opfer Ihrer eigenen
Geheimwaffe.«