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Kapitel 44

Anne brauchte drei Tage für die Reise nach Dover. Nach dem anstrengenden Ritt war sie völlig erschöpft und bis auf die Knochen durchgefroren. Zu ihrem Unglück zog bei ihrer Ankunft auch noch ein Sturm über dem kleinen Hafen auf und durchnässte die Reisenden bis auf die Haut. Da sie jedoch eine Nachricht vorausgeschickt hatten, konnten sie im Gästeflügel des örtlichen Benediktinerklosters übernachten, wo sogar ein eigenes Schlafzimmer mit Besucherzimmer für Anne und Deborah hergerichtet war. Auch Doktor Moss hatte auf Befehl des Königs einen eigenen Raum bekommen.

Anne kümmerte es nicht mehr, ob sie zu essen hatte und wo sie schlafen konnte. Sie hatte in London getan, was getan werden musste, hatte ihre Möglichkeiten abgewogen und begriffen, dass sie gegen den König Edward nicht gewinnen konnte, weil der Mann Edward ihr Geliebter war. Ihr war nur eine ehrbare Niederlage geblieben. Doch sie wäre nicht die Tochter eines Königs gewesen, hätte sie nicht wenigstens dieses letzte Zeichen beim Turnier gesetzt. Du kannst mich nicht anerkennen, das verstehe ich, aber du schuldest mir und den meinen eine ehrenvolle Behandlung.

Ihre Belohnung war eine letzte Mahlzeit im großen Speisesaal von Blessing House gewesen, gemeinsam mit Sir Mathew, Lady Margaret, Deborah und Jehanne, die auf Befehl des Königs aus dem Tower entlassen worden war. Nach einem reichlichen Mahl von Maitre Gilles hatte sie Blessing House zum letzten Mal verlassen - noch eine Nacht unter diesem Dach zu verbringen, mit all den Erinnerungen an das, was sie verloren hatte, wäre zu schmerzhaft gewesen.

Nun kauerte sie völlig durchnässt und zitternd vor dem Feuer in ihrem Klosterzimmer und brütete einsam über ihrem Schmerz. Deborah streifte ihr die nassen Kleider ab und half ihr in das vorgewärmte Bett. Die Anstrengungen der vergangenen Wochen hatten nun doch ihre robuste Gesundheit angegriffen - sie glühte, und ein trockener Husten quälte ihre Brust. Teilnahmslos gehorchte sie Deborah, doch in der Nacht wurde sie abwechselnd von Schüttelfrost und Fieber gebeutelt. Ihre Zähne schlugen vor Kälte aufeinander, und Deborah, die das Bett mit ihr teilte, versuchte, sie mit zusätzlicher Kleidung und der Wärme ihres eigenen Körpers warm zu halten. Später in der Nacht glühte Anne vor Fieber, riss sich die Kleider vom Leib, stolperte nackt durch das dunkle Zimmer und murmelte irgendetwas von Verrat.

Am nächsten Morgen ging es ihr so schlecht, dass Deborah sich ernsthaft Sorgen machte. Sie hatte nur ein paar wenige Heilkräuter dabei, etwas Weidenrinde und getrocknetes Mutterkraut, womit sie Annes Fieber kaum zu senken vermochte. Aus Sorge bat sie sogar Doktor Moss, nach Anne zu sehen - sie achtete seine Fähigkeiten als Arzt mehr als er die ihren. Abwechselnd wachten sie an Annes Bett, flößten ihr Deborahs fiebersenkende Tees ein und rieben sie mit einem Mittel ein, das Doktor Moss aus Zutaten braute, die er in der Klosterapotheke gefunden hatte.

Die letzten Winterstürme heulten über der kleinen Stadt. Drei Tage lang lag Anne in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, warf sich hin und her, schrie in Albträumen und murmelte von eigenartigen Visionen.

Deborah und Doktor Moss gerieten fast aneinander, weil sie sich auf keine Behandlung einigen konnten. Er wollte sämtliche Ritzen zustopfen, um nichts von der möglicherweise giftigen Luft in ihr Zimmer zu lassen, und das Feuer schüren, damit Anne die Krankheit ausschwitzen könne. Deborah dagegen meinte, es sei besser, kräftig zu lüften, damit die frische Seeluft die schädlichen Dämpfe aus dem Zimmer trieb. Der im Flüsterton ausgetragene Streit war das Erste, was Anne hörte, als sie wieder zu sich kam. Sie musste lachen, auch wenn es eher einem schwachen Pfeifen glich.

Anne bemerkte nun zum ersten Mal, wo sie sich befanden. Es war ein winziges, dunkles Zimmer mit Kreuzgewölbe, dessen kleine Fenster mit Hornplatten verkleidet waren und dessen eine Ecke von einer großen Feuerstelle eingenommen wurde. Sie selbst lag zwischen sauberen, ungebleichten Leinentüchern in einem großen Kastenbett, das fest mit frischem Stroh ausgepolstert war. Sie wollte den Kopf heben, doch die Anstrengung war zu viel für sie, so dass sie sich erschöpft und schwindelig wieder zurückfallen ließ.

Am nächsten Tag wurde sie erneut von wirren Träumen heimgesucht, aber sie ließ sich von Deborah wenigstens waschen - wieder gegen den vehementen Widerstand von Doktor Moss - und ihr verschwitztes Haar mit einer beruhigenden Rosmarinspülung erfrischen, die Deborah mit vorgewärmten Tüchern wieder trockentupfte.

Mit ihrer allmählichen Genesung kehrte auch ihr Sinn für die Wirklichkeit wieder, und sie erkannte, dass sie Pläne für ihre Zukunft schmieden musste. Bei ihrer Abreise aus London hatte sie für sich selbst nichts verlangt. Mathew Cuttifer hatte jedoch dafür gesorgt, dass Leif Mollnar sie in Dover mit der Lady Margaret erwartete.

Als Anne eine Bestandsaufnahme ihrer Lage machte, kehrte auch ihr Optimismus allmählich zurück. Über ein Jahr lang hatte sie von einem Tag auf den anderen gelebt, ohne ernsthaft an die Zukunft zu denken. Sie hatte sich lediglich auf ihren gesunden Verstand, ihre Bildung und ihre Heilkenntnisse verlassen, die Deborah ihr mit auf den Weg gegeben hatte.

Sie war eine Frau geworden, und sie war die Tochter eines Königs, doch sie war keine dieser vornehmen Damen, und sie war froh darüber. Sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, machte ihr keine Angst. Sie und Deborah könnten ihre Heilkenntnisse nutzen und Kranke heilen. Sie könnte auch Schönheitsmittel herstellen, und wenn die Not zu groß würde, könnte sie immer noch als Näherin arbeiten. Mathew Cuttifer hatte ihr einen Brief an seinen Verwalter in Brügge mitgegeben und ihm aufgetragen, ihnen in seiner Handelsniederlassung ein sicheres Zuhause zu gewähren, solange sie es für notwendig erachteten oder wünschten.

Und sie besaß die Kleider. Sie waren sehr wertvoll und ließen sich zur Not verkaufen. Bei diesem Gedanken jedoch verspürte sie einen Stich, denn sie war jung und liebte schöne Kleider. Genauso schwer würde es ihr auch fallen, sich von der Topasbrosche zu trennen, die Jane Shore ihr geschenkt hatte, oder von dem kleinen Filigrankreuz, dem Geschenk von Lady Margaret. Doch im Augenblick war das nicht nötig. Mathew hatte ihr eine gut gefüllte Geldkatze mitgegeben, die Lage war also nicht hoffnungslos. Sie und Deborah hatten genug Geld, um zu überleben und von vorn anzufangen. Nun musste sie nur noch gesund werden und mit Leif nach Frankreich segeln.

Ihre Grübelei wurde von Doktor Moss unterbrochen, der ins Zimmer stürmte. »Schnell, zieht Euch etwas über!«

Anne wunderte sich über die hektische Betriebsamkeit, die nun ausbrach. Das Tuch, das sie über ihrem feinen Seidennachthemd trug, wurde ihr von der Schulter gerissen und durch einen samtenen Mantel ersetzt. Deborah zog sie auf die Füße und versuchte gleichzeitig, ihr Haar auszubürsten.

»Deborah - au! Hör auf! Was ist in dich gefahren ...« Sie unterbrach sich, als sie von draußen das Geräusch von Stiefeltritten und Sporen vernahm.

Sie kannte diese Schritte, kannte den Mann dazu. Sie zog den Mantel um sich und musste sich setzten, da ihre Knie nachzugeben drohten.

Die Schritte verstummten. Nach einem kurzen Zögern ertönte ein Klopfen, dann hörte sie die Stimme eines Mannes: »Anne?«

Die Tür ging auf, und vor ihr stand der König in einem lehmbespritzten Reitmantel. Er hatte einen scharfen und schnellen Ritt von London hinter sich. Wortlos sah Anne zu Deborah, die ihre Hand tätschelte und leise das Zimmer verließ.

»Sire ...« Anne wollte sich aus ihrem Stuhl erheben, wollte ihm als Ebenbürtige entgegentreten, aber ihre Beine waren zu schwach. Mit einem Schritt war er neben ihr und drückte fast schmerzhaft ihre Hände. Ihre Blicke versanken ineinander. Demütig wie ein Bittsteller kniete er neben ihrem Stuhl nieder.

»Mein Liebling, meine süße Anne ...« Er konnte kaum sprechen. »Ich konnte erst kommen, nachdem das Turnier vorüber war - ich hatte Angst, ich sehe dich nie wieder. Doch dann habe ich erfahren, dass du im Sterben liegst ...« Er schüttelte den Kopf und blinzelte gegen seine Tränen an. Er war ein Mann, der nie über seine Gefühle sprach und Menschen mied, die so etwas taten. Beim verzweifelten Klang seiner Stimme stiegen Anne selbst Tränen in die Augen. »Du verstehst doch - bitte sag, dass du mich verstehst. Ich musste dich gehen lassen. Du hast mir keine andere Wahl gelassen.«

Ja, sie verstand. Sie verstand alles.

»Ich habe die Briefe von ... von dem einstigen König, deinem Vater, gelesen. Sir Mathew hat gesagt, es seien Abschriften, die unter der Aufsicht von Doktor Millington in der Abtei gefertigt worden sind. Die Originale hat er zur Sicherheit irgendwo anders aufbewahrt.«

Bebend entzog sie ihm ihre Hände und ging, da ihre Beine sie endlich trugen, zum Feuer und starrte mit dem Rücken zu ihm in die Flammen.

»Ich wünschte von ganzem Herzen, die Dinge lägen anders. Dass du die Macht, die Zauberkraft besäßest, die Welt verschwinden zu lassen.« Das war das Albernste, was sie sagen konnte, und sie klang so unglücklich, dass er mit einem Schritt bei ihr war, die Arme um sie schlang und sie zärtlich an sich drückte. Sie schmiegte sich an ihn, vergrub den Kopf an seiner Brust und schluchzte, schluchzte über all das, was sie verloren hatte: ihn, den Menschen, den sie am meisten liebte, ihr Leben an seinem Hof, ihre gemeinsame Zukunft, die es nie geben durfte.

Seine Seelenqual war wie ein körperlicher Schmerz. Sie würde sein Königreich verlassen, das wusste er. Mit einer arrangierten Ehe, mit der sie zumindest in seiner Nähe hätte bleiben können, wäre sie niemals einverstanden.

Das war ihre Art, ihm zu verstehen zu geben, dass es allein ihre Entscheidung war, zu gehen. Er seufzte.

»Nein, ich besitze keine Zauberkräfte. Aber irdische Dinge kann ich meistern. Ich habe etwas für dich ...«

»Ich will nichts von dir, Edward.« Sie meinte es ernst. Ihr Stolz war das Einzige, was er ihr noch lassen konnte.

Er küsste sie wieder, zärtlich und voller Sehnsucht. »Ich möchte zurückgeben, was einst gegeben worden ist.«

An seinem Gürtel hing ein Lederbeutel, den er nun öffnete. Er enthielt zwei Schriftrollen, die mit einem roten Band zusammengebunden und versiegelt waren. »Bitte lies das.«

Bei der ersten Schriftrolle handelte es sich um eine Eigentumsurkunde. Wort für Wort enthielt sie die Sätze aus dem ersten Brief ihres Vaters. »Unser lieber Bruder von Somerset ... Länder der Grafschaft Somerset ... auf alle Zeit überschrieben werde ... dass es das ihre sei und das ihrer Nachkommenschaft auf alle Zeit.« In zwei Punkten allerdings unterschied sie sich von dem Original: als Begünstigte der Ländereien, Güter, Fischteiche und Mühlen war ihr Name statt des Namens ihrer Mutter eingesetzt, und das Dokument war nicht von Henry, sondern von Edward unterzeichnet.

Anne sah zu Edward auf. »Aber ich habe doch den Schutz der Kirche verlassen und kann deshalb nicht mehr in England leben.«

Edward strich ihr eine Locke von den Augen. »Ja, aber der Erlös aus den Besitztümern wird an dich gehen. Ich werde Mathew Cuttifer informieren. Er wird sich darum kümmern. Deine Güter werden vortrefflich geführt werden, das verspreche ich dir. Und die Ländereien werden auch deinen Kindern für alle Zeit gehören.« Er klang so unendlich traurig. Sie würde Kinder bekommen, aber nicht von ihm.

Beiden liefen die Tränen übers Gesicht, als sie das zweite Schriftstück entrollte. Es enthielt die Verleihung von Titel und Wappen. Anne war ab sofort die Baroness Wincanton, Lady Anne de Bohun, und ihr Familienwappen bestand aus über zwei Blutstropfen aufsteigenden, angevinischen Leoparden. »Das Blut steht für dich und für mich, denn das haben wir geopfert - unser Herzblut«, flüsterte Edward.

Und dann hatte er noch etwas für sie. Einen Ring mit einem großen, rechteckigen Rubin, in dem ihr Wappen und die Initialen der beiden Liebenden eingraviert waren - das A und das E, über den Leoparden ineinander verschlungen. Er küsste die Innenfläche ihrer linken Hand, ehe er sie umdrehte und das Juwel an ihren Mittelfinger steckte. »Ein Rubin, denn du bist von unschätzbarem Wert, und dieser Stein bedeutet Beständigkeit.« Ein letztes Mal blickte er in ihre Augen, und dann, einmal noch, nur ein einziges Mal noch, küsste er sie.

Hilflos klammerten sie sich aneinander, doch sie weinten nicht, denn der Verlust, den sie beide empfanden, war zu schmerzhaft, als dass sie ihm hätten Ausdruck verleihen können. Dann verließ er sie, und sie fühlte sich verlassen wie niemals zuvor. Sie lauschte den Rufen der Männer im Klosterhof, als der König mit seinen Begleitern davonritt.

Später am Abend, als sie und Deborah zu der im Hafen vor Anker liegenden Kogge hinausgerudert wurden, stieg ihr der Meergeruch in die Nase, und sie erinnerte sich an ihre Vision von Verlust und Trennung. Sie zitterte. Und sie betete. Mutter des Schwertes, lass die Träume nicht wahr werden ... Lass ihn in Sicherheit leben. Und sie schwor sich, Edward ihr Leben lang zu lieben.

Ein letztes Mal sah Anne über das dunkle Wasser zum Ufer. Ein letztes Mal blickte sie auf ihre verlorene Heimat zurück. Das Licht der Fackeln fiel flackernd auf ihr Gesicht. Ihr war nichts geblieben als das Rauschen der Wellen und das Schreien der Seevögel.

Doch Anne irrte sich, denn als sie sich vom Ufer abwandte, hatte Deborah plötzlich eine Vision. Anne trug das Kind des Königs unter ihrem Herzen.

Dies war nicht das Ende. Dies war ein Anfang.

Band 2 - Die Heilerin von Brügge

Band 3 - Der Triumph der Heilerin