Kapitel 4
Die Abtei war kaum vierhundert Yards von Mathew Cuttifers Haus entfernt, doch der Weg bot sich für eine prunkvolle Prozession mit der Kutsche an. Außerdem wollte Mathew seine Frau nicht unnötig anstrengen, bevor er nicht ganz sicher sein konnte, dass sie vollständig genesen war. Ungeduldig wartete er auf das Eintreffen der Kutsche. Es war kalt, und er war besorgt, Margaret könnte sich trotz ihrer warmen Kleidung in der heimtückischen Winterluft erkälten.
Piers stand zwischen den Hausangestellten hinter Mathew und seiner Frau und beobachtete Anne, die Lady Margaret aufwartete. Ihr offenes Haar flatterte im eisigen Wind. Er lächelte selbstgefällig, bis ihm auffiel, dass Aveline bemerkt hatte, wie er dem jungen Mädchen schöne Augen machte. Galant zog er seine Seidenkappe mit der hübschen Feder, doch Aveline wandte sich verächtlich ab. Piers schnaubte - Aveline sollte sich bloß nicht zieren, sie hatte doch gesehen, dass er sich für eine andere interessierte. Wehe ihr, wenn sie ihm eine Szene machen wollte!
Endlich fuhr die große Stadtkutsche am Portikus von Blessing House vor. Der Stallbursche, der die Pferde führte, hatte vor Menschen kaum die Kutsche vom Hinterhof zum Vorderhaus schaffen können. Wortreich entschuldigte er sich für die Verspätung, schloss jedoch eilig den Mund, als er einen scharfen Blick seines Herrn auffing. Der Herr mochte keine Entschuldigungen.
Die kurze Strecke bis zur Abtei dauerte fast eine Stunde. Menschentrauben verstopften die enge Straße, die zur King Street und den dahinter liegenden Bauten der Westminster Abbey führte. Aveline und Anne gingen in einiger Entfernung hinter der Kutsche her, umgeben von Küchenmägden und
Dienstboten. Alle waren im Sonntagsstaat, und viele hatten sich zu Ehren der Heiligen Jungfrau Stechpalmenzweige ans Gewand geheftet.
Die Kapelle des heiligen Peter war während der vergangenen hundert Jahre häufig umgebaut und verschönert worden, denn hier befand sich das Grabmal von König Edward dem Bekenner, der heilig gesprochen worden war. Nach Canterbury war dies die wichtigste Wallfahrtsstätte im englischen Königreich. Die nachfolgenden Äbte hatten dafür gesorgt, dass die im benachbarten Westminster Palast residierenden Könige sich verpflichtet fühlten, das Werk ihrer frommen Vorfahren zu erweitern, zu verschönern und zu erhalten. Und obwohl die Bauarbeiten kein Ende nahmen, hieß es, wer dieses heilige Gebäude betrete, bekomme einen Vorgeschmack auf das Paradies. Die großen, bunten Glasfenster, die bemalten Statuen, das golden und silbern ausgeschmückte Altarbild und die edelsteinbesetzten Königsroben allein genügten schon, die Sinne zu betören. Doch wenn sich die Stimmen der Mönche Gott lobend und preisend erhoben, glaubte man fast, die Mauern selbst atmeten göttliche Gnade aus.
Sojedenfalls erschien es Anne, als sie versuchte, ihrer Herrschaft in der sich durch das Hauptschiff zum Altar drängenden Menge zu folgen. In der Dunkelheit leuchteten die Kerzen wie Blüten, und alles, was die Menschen zum Ruhme Gottes erschaffen hatten, war so wunderschön und vom aromatischen Duft der Kerzen erfüllt, dass ihr schwindelte.
Wie in Trance ließ sie sich von der Menschenmasse wie von einer Welle vorantreiben. Sie fühlte sich beschützt, obwohl sie geschoben und von Ellbogen gestoßen wurde, denn viele suchten einen Platz, von dem aus sie die Messe und die Ankunft des Königs am besten sehen konnten.
Plötzlich erhoben sich immer lauter werdende Stimmen, »Der König, der König ...« Auch Anne wollte den König sehen, und ohne darauf zu achten, was sie tat, kletterte sie wie ein Kind im Obstgarten mit Händen und Füßen an einem steinernen Gebilde hoch, das mit kleinen Statuen übersät war, die ihr als Griffe dienten. Schließlich hatte sie eine beachtliche Höhe erreicht, und erst als sie von oben hinabsah, stellte sie fest, dass sie das aufwändig geschmückte Denkmal eines Edelmanns erklommen hatte, der mehr Geld als Geschmack besessen zu haben schien. Unter ihr schüttelten ein paar Frauen empört den Kopf, wohingegen einige Männer, die sie hatten klettern sehen, lächelnd zu ihr emporblickten.
Anne war viel zu aufgeregt, um sich zu genieren. Von ihrem Ausguck hatte sie einen ungehinderten Blick auf das Nordportal, von wo der König erwartet wurde. Seit ihrer Ankunft in London hatte sie viel über ihn gehört, ihn aber nie persönlich zu Gesicht bekommen. Unter ihr schob sich nun eine zähe Prozession von Menschen durch das Kirchenschiff, die die Ankunft des Königs ankündigte.
Als Erstes betrat eine Gruppe junger Männer die Kirche, alle in der gleichen königlichen Uniform. Ihre blauen Röcke waren mit den Leoparden von Anjou und den Lilien von Frankreich bestickt, und ihre Kniehosen hatten ein blaues und ein weißes Bein. Anne kicherte beim Gedanken, dass ihnen kalt sein musste, denn die Röcke waren reichlich kurz. Die Männer gehörten dem Hofstaat an, trugen jedoch keine Waffen, da sie sich in einer Kirche befanden.
Als Nächstes folgten die Beamten des Hofes, mindestens zweihundert an der Zahl. Sie trugen Amtsketten um den Hals und waren mit langen, dunklen Roben bekleidet, die über den Steinboden der Abtei schleiften. Dann kamen die Magnaten, die zum demnächst stattfindenden Weihnachtshof in die Stadt gekommen waren. Die meisten waren finster dreinblickende, wettergegerbte Männer in teuren Gewändern, geübte Kämpfer, unter denen sich nur wenige Zartbesaitete befanden. Und dann kam endlich der König mit seinem Gefolge.
König Edward IV. war leicht zu erkennen. Einmal an seiner Größe - er war mindestens einen halben Kopf größer als der Mann, der neben ihm ging -, aber auch an seiner prachtvollen Kleidung. Er trug eine schwarzsamtene, mit silbernen Leoparden bestickte Cotehardie, darüber einen silbern einge- fassten, langen schwarzen Mantel. Seine langen, muskulösen Beine waren ebenfalls in schwarzen Samt gehüllt, und unter seinem linken Knie war deutlich das Band der Ritter des Hosenbandordens zu erkennen. Auf seinem rotgoldenen Haar trug er lediglich einen schlichten Goldreif.
Der König war gerade erst dreiundzwanzig Jahre alt, ein junger Mann mit einem offenen, einnehmen Gesicht und gesunden, weißen Zähnen. Als er gemessen zum Altar schritt, glitzerten und tanzten die Juwelen im Licht der Kerzen. Offenbar freute er sich, mitten unter seinen Untertanen zu sein - sie drängten sich so dicht um ihn, dass er fast eins mit ihnen wurde. Sie liebten ihn, weil er ihnen so nahe war, jubelten, stampften mit den Füßen und hörten zur Empörung der Höflinge und Geistlichen nicht auf zu klatschen.
Anne war beeindruckt von der Begeisterung der Menschen um sie herum. Die Mauern schienen wie eine alte Glocke zu vibrieren und erfassten ihren Körper. Und ohne sich dessen bewusst zu sein, rief auch sie den Namen des Königs, als er unter ihr vorbeikam.
Ihre Stimme durchschnitt das tiefe Dröhnen der Menge. Der König sah hoch, um nach der Quelle dieser Stimme zu suchen und erblickte einen Engel in einem grün schimmernden Gewand, der Farbe aufkeimender Liebe. Der Festzug kam ins Stocken, und ihre Blicke trafen sich. Die Intensität dieses Augenblicks war wie ein Schock. Anne verharrte vollkommen reglos, ihre Augen hefteten sich auf ihn, während alle Geräusche um sie in den Hintergrund traten ... Dann löste sich die Spannung, der König lächelte, winkte und setzte seinen Weg durch die Menge fort.
»Anne. Anne!« Unvermittelt wurde das Mädchen aus seinen Träumen gerissen. »Hier unten - hier!«
»Deborah!« Ihre Ziehmutter stand genau unter ihr. Sie trug ihren alten, roten Mantel und breitete lachend die Arme aus.
»Nein, bleib, wo du bist, mein Liebling. Ich komme zu dir hinauf.« Und das tat sie auch. Ihre flinken Bewegungen und die Kraft ihrer Arme täuschten über ihr Alter hinweg, das erst sichtbar wurde, als sie ihre Kapuze abstreifte.
»Deborah! Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, aber es war mir kaum möglich, dir eine Nachricht zu schicken, weil Aveline mich ständig beobachtet und ich so viel zu tun hatte.«
»Ich weiß doch, mein Herz, deshalb bin ich gekommen! Und nach der Messe wirst du mir alles erzählen.«
Unter ihnen begann ein allgemeines Füßescharren und Plätzerücken. Deborah und Anne waren zu weit vom Hochaltar entfernt, um viel von der Messe zu hören. Aber sie sahen den Abt von Westminster, der von seinen Mönchen und Messdienern umgeben war und darauf wartete, mit der Messe beginnen zu können. Er wandte sich König Edward zu und erhob die Hände zum Segen, dann drehte er sich zum Altar mit dem großen Kreuz um und hob zu den vertrauten Worten »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti...« an.
Anne entdeckte ihren Herrn und Lady Margaret. Sie knieten unmittelbar hinter den Höflingen, die sich um den König geschart hatten. Ehrfürchtig betrachtete sie den verklärten Gesichtsausdruck ihrer Herrin. Sie sah aus wie ein neu geborenes Kind.
Deborah berührte die Hand des Mädchens und lächelte.
Anne drehte sich zu ihr um. »Gott sei gedankt für die Hilfe, die du dieser Frau geben konntest.«
»Amen«, flüsterte das Mädchen, doch dann erschauderte sie. Welchen Gott meinte Deborah - den christlichen Gott, der dort am Kreuz hing, oder die alten Götter aus ihrem Leben in den Wäldern?