Kapitel 36
Der erste Eindruck von Burning Norton war nicht gerade vielversprechend. Aus irgendeinem Grund hatte Anne ein großes, imposantes Anwesen wie Blessing House erwartet. Die zusammengewürfelte Ansammlung von grauen Gebäuden, die von einem Rinnsal schlammigen Brackwassers umgeben waren, das den Anschein eines Burggrabens zu erwecken suchte, war eine Enttäuschung. Aber sie war hungrig und bis auf die Knochen durchgefroren. In Anbetracht der unwirtlichen Nacht war ihr jeder Unterschlupf willkommen, vor allem, als sie das warme, gelbe Licht sah, das einige der oberen Fenster des Haupthauses erleuchtete.
Die unbeschlagenen Hufe der Moorlandponys klapperten emsig über die Zugbrücke auf den Innenhof, der ihnen Schutz vor dem eisigen Wind bot. So jung und gesund Anne auch sein mochte, die Strapazen dieses Ritts über das Hochmoor hatten ihr zugesetzt. Sie konnte kaum ihre steif gefrorenen Hände von den Zügeln lösen, und noch schwerer fiel es ihr, vom Pferd zu steigen.
Aber sie wurde von freundlichen Armen aufgefangen, und über das Durcheinander erhob sich die klare Stimme einer Frau. »Willkommen, Mistress Anne. Das Haus meines Mannes ist Euer Haus.«
Anne sah in ein Gesicht, das Sir Mathew hätte gehören können, wäre es nicht von einem Hausfrauenschleier eingerahmt gewesen. Es dauerte eine Weile, bis ihr aufging, dass sie Mathews Tochter Alicia vor sich hatte. Sie versuchte, ihren steifen Körper zu einem Knicks zu bewegen, doch die freundliche Frau lächelte und hielt sie davon ab. »Kommt herein. In der Halle und oben im Sonnenzimmer ist es gemütlich warm. Außerdem müsst Ihr nach dieser mühseligen Reise dringend etwas essen.«
Alicia führte ihre Gäste aus dem dunklen, nur von Fackeln erhellten Innenhof über eine steinerne Außentreppe in einen etwas höher gelegenen Raum, die Wohnstube von Burning Norton. Sie umrundeten eine mächtige, hölzerne Zwischenwand, die als Windschutz diente, und gelangten in einen für einen Schlossbauernhof unerwartet geräumigen Saal. An einer Wand befand sich eine Feuerstelle mit einem nach oben geschlossenen Kaminsims von beeindruckender Größe. Die gewölbte Decke ruhte auf geschnitzten Holzbalken, die rot, blau und grün angestrichen waren und dem Raum ein stattliches Ansehen verliehen. Am anderen Ende des Saals führte eine weitere Treppenflucht zu der auf halber Höhe gelegenen Tür zum Sonnenzimmer. Giles lächelte stolz, als er Annes Blick bemerkte. »Ja, Mistress, dort befindet sich das Sonnenzimmer, von dem ich Euch erzählt habe. Ich habe es auf der anderen Seite anbauen lassen. Auf diese Weise haben wir schöne Privatgemächer gewonnen, die, wie Ihr sehen werdet, dem Sonnenzimmer in Blessing House in nichts nachstehen. Kommt mit, nur noch diese Stufen hinauf...«
Das Sonnenzimmer war in der Tat ausgesprochen hübsch. An den Wänden hingen blank polierte Leuchter mit Wachskerzen, ein Luxus zu Ehren der Gäste, sowie einige farbenprächtige Teppiche, die das Grau der Mauern belebten. Auf den neuen, honigfarbenen Eichendielen lagen zwei wunderschöne, levantinische Teppiche, auch dies ein unerwarteter Luxus. Das Feuer, das zu ihrem Empfang angezündet worden war, duftete nach Heidekraut, und Deborah stieß einen tiefen, glücklichen Seufzer aus, als die Wärme durch ihre klammen Kleider kroch. Es war wie im Himmel.
Doch es gab noch mehr zu sehen. Stolz öffnete Giles eine Tür zu einem weiteren Raum, dem Schlafzimmer der Eheleute, das nicht groß, aber luxuriös ausgestattet war. Das von Vorhängen verhüllte Bett befand sich auf einem kleinen Podest vor einem Erkerfenster mit beeindruckend vielen, klaren Glasscheiben. Von draußen war das Rauschen des Windes über dem nächtlichen Hochmoor zu hören, im Zimmer hingegen war es ruhig und gemütlich und duftete lieblich. Anne seufzte. Endlich begann sie sich sicher zu fühlen. An diesem abgelegenen, gastfreundlichen Ort würde sie doch gewiss niemand finden, oder?
»Ich lasse Eure Kleider zum Trocknen in die Waschküche bringen. Das Essen wird in der Halle serviert. Eure Dienerin wird Euch wohl beim Ankleiden helfen, aber ich würde mich freuen, wenn ich Euch ebenfalls zur Hand gehen könnte.«
Alicia lächelte freundlich, und Anne spürte Tränen in ihren Augen aufsteigen.
»Ihr seid zu freundlich«, sagte sie, während Deborah sie aus dem klammen Wollkleid schälte, das sie auf der Reise getragen hatte, »aber Deb... meine Zofe ist auch ganz durch - nässt. Komm, Deborah, wärm dich auf. Mistress Alicia wird mir behilflich sein.«
Dass Alicia sich angesichts dieser Fürsorge für eine Dienstbotin nicht überrascht zeigte, war auf ihr praktisch veranlagtes Wesen zurückzuführen. Die Londoner Sitten waren anders als die im Norden, und auch sie hatte Hausangestellte, die fast zur Familie gehörten.
In dem kleinen Nebenraum des Sonnenzimmers tauten Finger und Glieder im Handumdrehen auf. Bald hatten Anne und Deborah die nassen Kleider ausgezogen, sich mit den Leinentüchern abgetrocknet, die Alicia vorbereitet hatte, und frische Kleidung angezogen. Annes steif gefrorene Hände erwachten wieder zum Leben, als Deborah sie kräftig abrieb. Und sie ließ es sich nicht nehmen, ihr das Samtkleid - das schlichteste aus der kleinen Reisetruhe - am Rücken zuzuschnüren. Der üppige Stoff war zerknittert, obwohl sie das Kleid so sorgfältig zusammengelegt hatte, aber er würde sich beim Tragen wieder aushängen, außerdem würde es im trüben Licht der Halle bestimmt nicht weiter auffallen.
Giles stand unten am Feuer und wärmte sich den Rücken. Er war froh, wieder zu Hause zu sein, obwohl er wegen der unnötigen Ausgaben für die überall aufgesteckten Wachskerzen dringend mit Alicia sprechen wollte. Manchmal wurde er aus seiner Frau nicht schlau. Sicher, Anne war irgendwie rätselhaft, und Sir Mathew hielt sie für wichtig, aber welche Stellung sie genau hatte, wussten sie nicht. Warum Geld verschwenden, bevor sie nicht sicher sein konnten, dass es sich auch auszahlte?
Seine leichte Verstimmung verging wie Morgennebel, als er die Frauen die Treppe herunterkommen sah. Anne trat an die Feuerstelle. Sie glühte wie ein dunkelrotes Juwel. Das flackernde Licht hob ihre feinen Gesichtszüge und die anmutigen Linien ihres Körpers unter dem scharlachroten Kleid hervor. Hinter ihm erhob sich bewunderndes Murmeln, als seine versammelten Hausangestellten sie zum ersten Mal richtig zu Gesicht bekamen.
Anne machte in ihrem schlichten Kleid eine so vornehme Figur, dass Alicia neben ihr beinahe plump wirkte - bis sie ihn anlächelte und Giles wieder einfiel, warum er sie so sehr liebte. Seine Frau verstand, dass er von Anne geblendet war, und war, im Gegensatz zu den meisten anderen Ehefrauen, keineswegs eifersüchtig. Und warum auch? Warum eifersüchtig auf die Sonne sein? Anne gehörte nicht zu ihrem Leben, würde nie dazugehören. Sie war eine vorübergehende Erscheinung, und das wussten sie beide. Sie brauchte sich um seine Treue keine Sorgen zu machen. Er wusste das, und sie ebenfalls. Aber er war ein Mann, und er hatte Augen im Kopf.
Er starrte Anne an, ohne zu registrieren, dass Alicia sich räusperte. Dann räusperte sie sich noch einmal, diesmal etwas lauter. Er kehrte in die Gegenwart zurück und erinnerte sich seiner Pflicht. Er nahm Annes Hand, legte sie über die seine und geleitete sie zu dem Ehrenplatz an der Tafel, die an der Schmalseite der Halle aufgestellt worden war.
Unter ihnen stand die Dienerschaft - rund zwanzig Männer und Frauen - und beobachtete sie schweigend. Jede Einzelheit wurde begierig aufgenommen, um sie später ausführlich in Küche, Milchstube, Schmiede und Schafställen schildern und diskutieren zu können. Die Winter in Burning Norton waren weiß Gott ereignislos genug, und nun war da diese geheimnisvolle Lady, über die man sprechen konnte. Sie war so schön wie die Statue der heiligen Jungfrau in der Abtei von Rievaulx - sogar noch schöner, denn sie war aus Fleisch und Blut, während die Jungfrau lediglich aus Elfenbein und Gold bestand. Das Tischgebet wurde gesprochen, und kaum war das letzte »Amen« verklungen, nahmen die Dienstboten unter geräuschvollem Hin- und Herrücken ihre Plätze ein, und das Essen wurde aufgetragen.
Anne musste im Stillen lächeln. Es war seltsam, als Gast an der Ehrentafel zu sitzen und unter sich die Diener zu sehen. Vor gar nicht allzu langer Zeit war sie selbst eine von ihnen gewesen und hatte zum Tisch des Hausherrn hinaufgeblickt. Sie zitterte. Wie verrückt - so leicht konnte aus oben unten und aus unten oben werden. War es Gottes Fügung, an welcher Stelle jemand saß? Warum hatte er ihr diesen verwirrenden Stellenwechsel zugedacht? Sie fing Deborahs Blick auf, die bei den anderen Dienstboten saß. Vielleicht war es an der Zeit, wieder in die Schale zu schauen und die Zukunft zu befragen.
Zukunftsfragen beschäftigten auch Mathew Cuttifer in London, als er endlich die Schriftrolle in Händen hielt. Sie hatte ihn ebenso viel gekostet wie der Abendmahlkelch, den er der Abtei gespendet hatte, aber vielleicht war das Geld gut investiert. Trotzdem lauerten noch erhebliche Risiken, bevor er auf einen Gewinn hoffen konnte, zumindest dachte so der Kaufmann in ihm. Bruder Nicholas von der Abteikirche hatte sich heimlich und unter ernormem Einsatz von Kosten und Gefahren Einlass in die Kammer verschafft und dabei riskiert, entdeckt und peinlichen Fragen ausgesetzt zu werden. Als Mathew nun die sauberen, schwarzen Schriftzeichen betrachtete, fiel ihm noch etwas anderes auf. Der Brief war auf Englisch geschrieben, nicht auf Latein oder Französisch, wie er erwartet hatte. Sein Inhalt jedoch war eindeutig:
Unser lieber Bruder von Somerset sei gegrüßt. Da es dem allmächtigen Gott gefallen bat, uns mit der Herrschaft über das Königreich England sowie über alle innerhalb seiner Grenzen lebenden Seelen zu betrauen, ist es unser Wille, für das Wohl und Auskommen aller Seelen zu sorgen, die unserem Herzen nahe sind. Daher achtet diesen unseren Willen, wie er in diesem Schriftstück niedergelegt ist. Da Ihr aus unseren Händen sämtliche Länder der Grafschaft Somerset als Lehen erhalten habt, ist es unser Wunsch, Ländereien innerhalb der Gemeinde von Porlock in der Grafschafe Somerset für alle Zeit der Lady Alyce de Bohun und ihrer Nachkommenschaft, die unserem Herzen am nächsten stehen, zu übereignen.
Unser Wunsch lautet wie folgt:
Erstens. Dass der Flecken Wincanton the Less, einschließlich des dazugehörigen Ackerlands, einstmals im Besitz der Mönche von Appleforth, dem Landbesitz besagter Lady zu ihrem alleinigen Nieß und Nutzen und dem ihrer Nachkommen überschrieben werde.
Zweitens. Dass das Mühlrecht des Fleckens Wincanton the Less und die Mühle, Cobby's Mill geheißen, gleichfalls einst im Besitz der Mönche von Appleforth, besagter Lady zu ihrem alleinigen Nutzen und Profite auf alle Zeit überschrieben werde. Drittens. Dass die Abgaben aus dem Markt, der in jedem Jahr am letzten Mittwoch vor Sankt Michael in der Stadt von Taunton abgehalten wird, auf alle Zeit besagter Lady ausgezahlt und überlassen werden.
Viertens. Dass das Gut mit Namen Herrard Great Hall einschließlich der dazugehörigen Ländereien, Fischteiche und Brunnen sowie sämtliche damit verbundenen Rechte, Güter,
Leibeigenen und Vieh, vormals Eigentum der Krone, dem Besitztum besagter Lady vermacht werde, dass es das ihre sei und das ihrer Nachkommenschaft auf alle Zeit. Dies alles soll gemäß meinem Wunsche und mit größter Eile getan werden.
Henricus Sixtus. König von Gottes Gnaden
An diesen Brief war ein zweites Schriftstück gefügt. Es enthielt nur wenige Sätze, die jedoch von enormer Bedeutung waren. Auch sie waren auf Englisch abgefasst.
Wir, Henry der Sechste geheißen, bekennen uns und erklären hiermit, dass das Kind, das Lady Alyce de Bohun derzeit austrägt, unser rechtmäßiger Nachkomme ist. Somit wird das Kind als unser leibliches Kind geboren und als solches stets von uns geliebt werden. Es ist zudem unser Wunsch und Wille, dass besagtes Kind und seine Mutter, besagte Lady Alyce de Bohun, mit dem Besitztum ausgestattet werde, wie hiermit in gesondertem Schriftstück niedergelegt, auf dass sie und ihre Kinder und Kindeskinder auf alle Zeit ein rechtes Auskommen haben.
Von unserer Hand niedergeschrieben, unterzeichnet und gesiegelt am siebzehnten August 1450 anno domini im Palast von Westminster.
Alles passte zusammen. Die Schriftrollen und auch die von Jehanne und Deborah vorgelegten Beweisstücke bewiesen, dass Anne die Tochter von Alyce de Bohun war. Mit ihrer Hilfe würde sich ermitteln lassen, wann und unter welchen Umständen sie zur Welt gekommen war. Sie hatte Anspruch auf die in dem Brief erwähnten Besitztümer, und darüber hinaus war es ihr Recht, als leibliche Tochter König Henrys VI. anerkannt zu werden.
Mathew war klar, dass das Dokument in seinen Händen aus der Feder eines verzweifelten Mannes stammte. Henry musste geglaubt haben, er könnte die Mutter schützen, wenn er sein uneheliches Kind anerkannte und versorgte. Die Königin jedoch hatte davon erfahren, und mit der Unterzeichnung des Briefes hatte er unbeabsichtigt Alyces Todesurteil unterschrieben.
Nun war endgültig die Zeit gekommen, sich zu entscheiden, welchen Weg er einschlagen wollte. Intuitiv hatte er seit seiner Begegnung mit Anne in Windsor gespürt, dass er mit ihr einen Trumpf in der Hand hielt, der sehr überlegt ausgespielt werden musste. Aber ein Trumpf war sie in jedem Fall, die Frage war nur, wann er seinen nächsten Zug machen sollte. Jeder Tag konnte entscheidend sein, denn die Ereignisse überschlugen sich, falls die Nachrichten, die er von seinen Informanten aus Westminster erhalten hatte, der Wahrheit entsprachen. Er hatte gehört, der König sei ein oder zwei Tage zuvor mit seiner berittenen Garde verschwunden - angeblich zum Jagen. Aber Mathew war einer der wenigen, die von den Hochzeitsvorbereitungen auf Warwick Castle Kenntnis hatten. Wenn Edward zu spät dort eintraf, welche Bedeutung hatte Anne dann noch?