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Kapitel 18

Vier Monate war es her, dass die Königin mit Prinzessin Elizabeth niedergekommen war. In dieser Zeit hatte es zahlreiche Veränderungen in Blessing House gegeben. Der erste Vorbote des Winters machte sich bemerkbar, als die Bäume im Lustgarten die letzten gelben Blätter abwarfen. Anne war dabei, ihre wenigen Habseligkeiten in eine kleine, eisenbeschlagene Reisetruhe zu packen, als Jassy ins Sonnenzimmer stürzte.

»Bist du fertig? Unten warten sie schon auf dich.«

Schweigend faltete Anne das letzte Kleid zusammen - es war ihr bestes Gewand, das grüne, das Lady Margaret ihr geschenkt hatte - und legte es auf die beiden anderen. Als das Mädchen die Kiste zuklappte, kam Jassy geschäftig herbei und half ihr, sie zu verschließen, damit sie auf der Fahrt nicht aufsprang.

Anne sah sich ein letztes Mal in dem schönen Zimmer um, das über ein'Jahr lang ihr Zuhause und ihre Zuflucht gewesen war. Sehnsüchtig betrachtete sie die vertrauten Gegenstände. Sie zitterte. Vielleicht sah sie diesen Ort niemals wieder. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Nun, nun, nicht weinen«, sagte Jassy. Die Haushälterin, die es nicht gewöhnt war, Zuneigung zu zeigen, nahm das Mädchen unbeholfen in die Arme und wiegte es eine Weile wie ein kleines Kind, ehe sie verlegen die Arme sinken ließ. »Man könnte glauben, du wirst zum Henker geführt, du Dummerchen. Das ist eine einzigartige Gelegenheit für dich.«

Anne bemerkte den Anflug von Neid in Jassys Stimme - denselben Unterton hatte sie in den vergangenen Wochen oft genug bei fast allen ihren Freundinnen gehört und auch bei jenen, die sie nicht sonderlich mochten. Die Königin persönlich hatte veranlasst, dass Anne in ihrem Hausstab eintrete.

Sie konnte es noch immer kaum glauben. Nach der Nacht, als Prinzessin Elizabeth zur Welt gekommen war, hatte Doktor Moss die Königin davon unterrichtet, welche Rolle - welche geringfügige Rolle seiner Einschätzung nach - das Mädchen aus dem Hause Cuttifer bei ihrer Rettung und der ihres Kindes gespielt hatte. Dabei war auch zur Sprache gekommen, wie Anne ihre Herrin, Lady Margaret, geheilt hatte, und das hatte genügt. Kräuterwissen dieser Art konnte im königlichen Haushalt von Nutzen sein. Die Königin bat den König, Anne einstellen zu dürfen, damit sie ihr Wissen an ihre Hofdamen weitergeben könne. Doch die endgültige Entscheidung, das Mädchen auf Dauer einzustellen, fiel, als Anne im Auftrag von Doktor Moss einen Kräutertee zubereitete, mit dessen Hilfe das angestaute Wasser aus dem Körper der Königin geschwemmt und ihre Haut wieder strahlend klar wurde.

Als Anne sich nun von ihren Freunden in Blessing House verabschiedet hatte, knickste sie vor ihrer Herrschaft, die am Ende der großen Halle Platz genommen hatte, um offiziell von ihr Abschied zu nehmen.

»Ich werde deine Ziehmutter von deinem großen Glück wissen lassen. Wir erwarten, dass du der Königin mit derselben Hingabe dienst wie meiner Familie, Anne. Du wirst uns auf diese Weise Ehre machen.« Mathew stellte verwirrt fest, wie sehr ihn der Fortgang des Mädchens betrübte. Diener kamen und gingen wie überall, aber Anne hatte er wegen ihrer Freundlichkeit und ihres Muts ganz besonders schätzen gelernt - Eigenschaften, die selten genug bei einem jungen Menschen zu finden waren. Dennoch war es seltsam, dass ihm ihre Abreise derart zu Herzen ging.

Mathews Frau verstand die Trauer ihres Mannes besser als er selbst, weil sie ebenso empfand und darüber nachgedacht hatte, was der Grund dafür war.

Als die Anfrage vom Hof kam, hatten sie und Mathew keinen Augenblick gezögert, Anne gehen zu lassen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Während Mathew es als ein großes Glück auffasste, dass einer seiner Dienstboten der Königin so nahe war - er hatte Anne eingehend über ihre Pflichten belehrt, die sie ihm für ihre Lehrzeit in Blessing House schuldete hatte Margaret etwas anderes gesehen.

Im Lauf des letzten Jahres war Anne erwachsen geworden. Sie war gewachsen, bewegte sich anmutig, redete gewandt und wirkte wohlerzogen wie ein Dame von Stand. Ihr ungewöhnlich hohes Maß an Bildung, ihre oft bewiesene Loyalität und die Zuneigung, die sie und Anne nach den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Monate füreinander empfanden, unterschied Anne von anderen Dienstboten im Hause Cuttifer. Sie war sanftmütig und zugleich stark, eine grüne Weide, die in stillem Wasser wurzelte ... Mit ihrem Fortgehen würde ein kleines Licht in der Düsternis des großen, alten Hauses verschwinden. Sie würde in ihrer aller Leben eine Lücke hinterlassen, die nicht leicht zu schließen wäre.

Margaret verscheuchte die Wehmut, die sie überkam, als das Mädchen sich vor ihr verneigte, und überraschte ihren Mann damit, dass sie aufstand und das Mädchen umarmte wie eine Tochter, die für immer ihr Elternhaus verlässt. »Liebes Kind, wir wohnen nicht weit entfernt, vergiss das nicht. Wir haben stets ein offenes Ohr für dich.«

Als Margaret sie sanft küsste und ihr ein kleines Päckchen überreichte, war Anne den Tränen nahe vor Rührung. »Wir wollen dir das hier schenken. Es ist von uns beiden. Mach mir die Freude und packe es aus.«

Vorsichtig zog Anne die Schleife um das schwarze Samtpäckchen auf und wickelte es aus. Darin lag eine zarte Goldkette mit einem kostbaren, mit winzigen Granaten und Perlen besetzten Kreuz.

Das filigrane Kreuz besaß eine ungewöhnliche Form, denn hinter den Querbalken befand sich ein Kreis, wie er bei den Steinkreuzen im Westen und Norden des Königreichs oft zu sehen war, jenen Gegenden, wo das Christentum als Erstes Einzug gehalten und sich mit den überlieferten Volksreligionen verbunden hatte. Anne blickte zu Margaret auf und versuchte etwas zu sagen, doch sie brachte kein Wort über die Lippen.

Margaret legte ihr die Kette um und richtete sanft das

Kreuz so, dass es im Mieder ihres schwarzen Kleides verschwand. »So. Nun hast du etwas, das dich stets an deine Zeit bei uns erinnert. Etwas Vertrautes, das dir Kraft schenkt, wenn du betest. Ich weiß, dass du unser aller Mutter besonders zugeneigt bist, ich habe oft gehört, wie du zu ihr gebetet hast - sie wird dich erhören.«

Margaret lächelte und legte zart einen Finger auf die Lippen des Mädchens, als wollte sie sie am Sprechen hindern. Anne vermutete, dass Margaret von ihrem Glauben an die anderen Götter wusste, jene Götter ihrer Kindheit in den Wäldern des Westens. Sie war Margaret dankbar, dass sie es billigte und verstand. Der Kreis und das Kreuz würden ihr in der Tat Kraft spenden, wenn sie betete.

Nun kniete Anne vor Mathew und Margaret nieder und küsste ihnen höflich die Hände. »Ich werde immer dankbar sein für Eure Güte und für alles, was Ihr für mich getan habt.«

Auf ein Zeichen von Margaret half Jassy dem Mädchen auf die Füße, dann verließ sie Blessing House. Als sie durch die große Haustür trat, warf sie einen letzten Blick zurück und sah Mathew und Margaret dort sitzen wie die steinernen Bildnisse von Maria und Jesus in der großen Abtei.

Die Tür wurde hinter ihr geschlossen, und man hob sie auf ein gedrungenes Pferd, das von einem Soldaten in den Farben der Königin, braun und schwarz, geführt wurde. Zwei weitere Soldaten begleiteten sie auf ihrem kurzen Ritt zum Palast. Einer von ihnen hob ihre Reisetruhe hinter ihr auf den Sattel. »Rück ein Stück, Mädchen, ich habe keine Lust, das bis nach Westminster zu tragen.«

Er stöhnte übertrieben über das Gewicht ihrer Habseligkeiten und warf ihr ein gewinnendes Lächeln zu. Er wusste, dass er nicht schlecht aussah, auch wenn er erst kürzlich bei einer Schlägerei einen Schneidezahn verloren hatte. Er rechnete sich Chancen bei dieser appetitlichen, neuen Kammerjungfer der Königin aus. Doch als sie den Mund öffnete, änderte er seine Meinung schlagartig.

»Verzeiht die Unannehmlichkeit, Sir. Mir war nicht klar, dass mein Koffer so schwer ist.«

Ihre Aussprache war vornehm, beinahe französisch, und sie sah ihn so ernst an, dass er sich einen Augenblick lang fragte, ob er sich geirrt hatte. Dieses Mädchen konnte keine Dienerin sein, oder doch? Eher eine arme Verwandte. Aus Furcht, sie beleidigt zu haben, sagte er betont höflich: »Lady, äh, ah, ich ... ich meine, er ist eigentlich nicht schwer. Ich habe nur einen Spaß gemacht... Mann! Hierher. Ich übernehme das.« Der Offizier riss dem anderen Soldaten die Zügel aus der Hand und schickte sich an, das Pferd und seine Reiterin persönlich durch die Menschenmenge zum Palast zu führen.

Die beiden anderen Wachen grinsten einander an und begaben sich vor und hinter dem Pferd in Stellung. Dann marschierten sie forsch und wichtigtuerisch durch die überfüllten Straßen und brüllten die Passanten an, den Weg frei zu machen. Sergeant John-at-Hey hatte sich offenbar geirrt. Das war keine kleine, süße Dirn - das war eine Lady. Es würde ein großes Hallo geben, wenn sie heute Abend die Geschichte im Wheel and Dragon zum Besten gaben, einem Gasthaus im nahe gelegenen Cheside, wo die Soldaten der Königin einzukehren pflegten.

Im Palast herrschte geschäftiges Treiben, als das Grüppchen im Vorhof eintraf. Der König und einige Magnaten sowie die Königin mit ihren Hofdamen kehrten gerade von einem einmonatigen Landaufenthalt in Windsor zurück, wo sie sich im frischem Herbstwind beim Jagen verlustiert hatten. Der riesige Hof war eine einzige gärende Masse aus Pferden, Männern, Hunden und Dienern, die umherliefen, während der König und seine Gäste absaßen. Loren, der Knappe des Königs, hielt den Kopf des Jagdrosses fest, worauf

Edward sich elegant zu Boden gleiten ließ. Dann schlenderte er zur verhangenen Kutsche der Königin, wo er ihr feierlich auf das Kopfsteinpflaster half.

Anne stockte der Atem bei seinem Anblick, aber als sie die Königin sah, traute sie ihren Augen nicht. Elizabeth Wyde- ville schenkte ihrem Mann ein strahlendes Lächeln. Diese Erscheinung mit der weißen Haut, dem schlanken Wuchs und der schmalen Taille konnte unmöglich dieselbe Frau sein, die Anne in jener Nacht der Geburt als aufgedunsene, hektisch rot angelaufene Masse auf dem Prunkbett gesehen hatte. Sie war noch schöner als ihr Ruf.

»Ja, ein Wunder, nicht wahr? Manche sagen, es sei Hexerei.« Doktor Moss war unbemerkt neben Anne getreten, die bei seinen Worten zusammenzuckte. Dann sah sie ehrfürchtig zu, wie die strahlende Gesellschaft die breiten Steinstufen erklomm, die in die große Eingangshalle des Palasts führten. »Das ist natürlich Unsinn. Aber zugegeben, du hast deinen Anteil daran. Oder, besser gesagt, die Tees, die du bereitet hast. Und die Frau hat Selbstdisziplin, das muss ich ihr lassen. Seit der Geburt hat sie wie ein Vögelchen gespeist, und jetzt hat sie auch noch dich. Sieh nur, wie schön ihre Haut geworden ist.«

Anne fühlte sich unbehaglich. »Sir, ich finde ...« Moss sah auf sie herab und lächelte über ihren ängstlichen Gesichtsausdruck. »Ich weiß so wenig. Vielleicht glaubt die Königin, dass ich Fähigkeiten besitze, die ich gar nicht habe, und ist enttäuscht von mir ...«, fuhr sie fort.

»Kind, du wirst der Königin dienen, und ich werde dir dabei helfen. Ich glaube, du weißt mehr, als du denkst - du musst nur lernen, sie zufrieden zu stellen.« Was nicht einfach werden würde, wie er nur allzu gut wusste. »Und dann, nun ... wer weiß?«

Oben auf der Treppe hielt die königliche Gesellschaft einen Augenblick inne, als der König einen Scherz machte. Das glockenhelle Lachen von Elizabeth Wydeville perlte durch die kalte Herbstluft, doch ein Wiehern des königlichen Rosses zog Edwards Aufmerksamkeit auf sich, und er sah sich suchend im Hof um.

Doktor Moss fing den Blick des Königs auf und zog seinen flachen Samthut, während Anne nach einem kurzen Stoß in die Rippen in einen tiefen Knicks sank.

Der König lächelte und winkte dem Doktor freundlich zu, ehe er sich der Königin zuwandte: »Dort steht Doktor Moss, meine Liebe. Er hat das Mädchen von Mathew Cuttifer dabei, um das du gebeten hast. Und nun lasst uns speisen - ich habe Hunger.«

Die Hofgesellschaft folgte dem Königspaar in den Palast, so dass nur Anne und Doktor Moss auf dem Hof zurückblieben. Eine Woge der Einsamkeit erfasste das Mädchen, und sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Der Arzt, ein durchaus feinfühliger Mann, bemerkte ihren Kummer und tätschelte freundlich ihre Schulter.

»Komm, Kind. Ich werde dich zur Schlafstube der Zofen bringen. Dort wirst du Dame Jehanne kennen lernen. Sie hat die Aufsicht über die Kammerzofen der Königin und wird wissen, was sie mit dir anfangen soll.«