Kapitel 23
Der nächste Morgen war kalt und nass. Eisiger Schneeregen prasselte gegen die Fenster der königlichen Gemächer, als trüge die Erde Trauer und als wären ihre Tränen zu Eiskristallen erstarrt.
Die Königin hatte nach dem Besuch des Königs schlecht geschlafen und war an diesem Morgen durch nichts zufrieden zu stellen. Als die Kammerzofen sie endlich angekleidet hatten, rannte sie hinaus und erbrach sich, wobei sie ihr Kleid mit grüner Gallenflüssigkeit besudelte. Daraufhin brach hektische Unruhe aus, und sämtliche fünf Zofen und die Hofdamen liefen durcheinander und versuchten, Elizabeth zu einem anderen Kleid zu überreden. Es grenzte an ein Wunder, dass die Königin noch rechtzeitig zur Messe kam.
Nach der Messe ging die Hofgesellschaft auf die Jagd - die Königin ganz grün im Gesicht, aber wild entschlossen, ihrer Unpässlichkeit nicht nachzugeben. Die Kammerzofen saßen unterdessen flickend und stickend friedlich beisammen. Anne war angespannt und grübelte vor sich hin.
»Anne. Gib auf deine Arbeit Acht. Du hast schon seit zehn Minuten keinen Stich mehr gemacht. Was grübelst du denn?«
Verlegen versuchte Anne, die Erinnerung an die vergangene Nacht zu verscheuchen, an Edwards Körper, der sich fest gegen ihren presste, an seine muskulösen Arme und an seinen weichen Mund auf ihren Lippen. Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und besserte einen schadhaften Spitzensaum an einem Kleid der Königin aus. Der anbrechende Tag hatte die Erinnerung in die Ferne rücken lassen, und die Ereignisse der Nacht erschienen ihr mittlerweile so unwirklich, als wären sie nie geschehen. Aber das waren sie nun einmal. Erregt stieß sie die Nadel in den Stoff, vertat sich jedoch und rammte sie stattdessen in ihren Finger. Sie schrie auf, und Blut tropfte auf den teuren, gelben Samt.
»Pass doch auf! Dummes Ding! Gib her, schnell, beeil dich. Das Blut darf nicht eintrocknen.« Jehanne riss ihr das Kleid aus der Hand und stürzte ins Ankleidezimmer, dicht gefolgt von der schuldbewussten Anne, die an ihrem Finger sog. »Hol Bleicherde, die weiße. Schnell! Oh, wir haben keinen alten Urin! Dann eben kaltes Wasser, beeil dich ...«
Vorsichtig befeuchtete Jehanne die Stelle mit dem Blut, ehe sie rasch eine dünne Paste aus der feinen, weißen Tonerde anrührte und sie auf den Fleck presste. »So, und nun muss das Ganze trocknen. Anschließend bürsten wir es aus, und vielleicht, aber nur vielleicht, hoffentlich ... wird der Fleck aufgesaugt.« Anne nickte benommen. Plötzlich gaben ihre Beine nach, und sie ließ sich auf eine Truhe fallen. Jehanne musterte sie streng. »Nun, Mädchen, was ist los?«
Anne war ratlos. Wo sollte sie nur anfangen? Doch dann brach alles aus ihr heraus. »Gestern Abend. Ich war in der Kapelle und diese Männer auch. Ich hatte solche Angst um den König, und dann kam er, also ... er ...« Anne stockte, aber ihr Gesicht sagte alles. Angst und Verwirrung und ... noch etwas anderes. Jehanne zog die Augenbrauen hoch. Irgendetwas Ernstes ging hier vor sich.
Sie half Anne auf und führte das widerstandslose Mädchen hinaus. Als sie durch das Sonnenzimmer kamen, wies sie Evelyn an: »Evelyn, Anne geht es nicht gut. Ich bringe sie in die Schlafstube und gebe ihr eine Medizin. Du vertrittst mich so lange hier. Wenn ihr eure Arbeit beendet habt, richtet ihr warme, trockene Kleidung für die Königin her. Rose, du holst mich, sobald die Jagdgesellschaft zurückkommt. Bei diesem Wetter werden sie gewiss nicht lange ausbleiben.«
Sie führte das Mädchen aus dem warmen Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Im Flur war es bitterkalt, da durch ein schadhaftes Fenster ein eisiger Wind hereinblies.
Sie gelangten zum Eckturm in der Nähe der Gemächer der Königin, wo sich die Schlafstube der Mädchen befand. Jehanne öffnete die Tür, und Anne war ausnahmsweise froh darüber, dass das Zimmer so klein war. Es gab sogar ein Kohlenbecken mit ein paar glühenden Kohlen darin, so dass es nicht völlig ausgekühlt war. Jehanne schlug einen Feuerstein und zündete zwei Ollämpchen an, die die winterliche Düsternis des Zimmers kaum aufzuhellen vermochten.
»Nun, Anne, ich sehe, dass dich etwas bedrückt. Ich werde dir etwas von dem Mittel einflößen, das Doktor Moss mir gegen die Winterkrankheiten gegeben hat. Du brauchst etwas zur Stärkung. Wo ist es denn ...«
Während die alte Frau geschäftig nach der Medizin suchte, überlegte Anne, wie sie ihr sagen könnte, was sie wusste. Doch zugleich wurde ihr klar, dass Jehanne, wenn sie ihr ihre Gefühle für den König anvertraute, dafür sorgen würde, dass sie niemals mehr in die Nähe des Königs käme. Anne schloss die Augen angesichts dieses unerträglichen Gedankens.
»Hier ist sie ja.« Mit einer triumphierenden Geste hielt Jehanne eine Keramikflasche in die Höhe und zog den Stoffpfropfen heraus. »Hier, aber nur zwei Schlucke.« Anne brachte die bittere Flüssigkeit aus der kleinen Flasche nur mühsam hinunter. »So, und nun erzähl.«
Anne seufzte und schloss die Augen, während die Bilder vor ihrem geistigen Auge aufflammten. »Letzte Nacht war ich in der Kapelle ...«
»In der Kapelle, aber ...«.Jehanne unterbrach sich. Am besten sollte das Mädchen selbst erzählen. »Sprich weiter. Du warst in der Kapelle ...«
»Ja, und ich sah den Grafen Warwick und ... den Bruder des Königs, den Herzog von Clarence ...« Und dann berichtete sie von dem Treffen, das sie belauscht hatte, von dem drohenden Verrat und der feindseligen Haltung Georges gegenüber seinem Bruder. Als sie geendet hatte, wiegte sich Anne wie ein verängstigtes Kind vor und zurück.
Jehanne schwieg und dachte nach. Anne sagte offensichtlich die Wahrheit, und der König musste auf irgendeinem Wege gewarnt werden. Aber wie, ohne dass sie und Anne sich in Lebensgefahr begaben? »Ich denke, ich werde mit Lord Hastings sprechen - doch ich fürchte, er wird auch mit dir sprechen wollen.«
Anne war nicht dumm. Sie hörte die unterschwellige Angst in Jehannes Stimme und wusste, dass das, was sie belauscht hatte, in der überhitzten Atmosphäre des Hofs mit seinen rivalisierenden Parteien möglicherweise zum Zündfunken werden konnte. »Oh, wäre doch Deborah hier, sie wüsste, was zu tun wäre«, flüsterte sie.
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann fragte Jehanne mit seltsam erstickter Stimme: »Deborah?«
Anne, die all ihren Mut zusammennahm, um Jehanne vom zweiten Teil der Nacht zu erzählen, bemerkte den eigenartigen Tonfall nicht. »Deborah ist meine Ziehmutter. Sie hat mich aufgenommen, nachdem meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war. Sie hat mich aufgezogen.«
Jehanne starrte sie an. Ihr Gesicht sah im fahlen Licht maskenhaft weiß aus, und die Intensität ihres Blicks hatte etwas Beunruhigendes. »Diese ... Deborah. Lebt sie noch?«
»Natürlich. Sie hat für mich die Stelle in Blessing House gefunden. Von ihr habe ich mein ganzes Wissen über Heilmittel und Kräuter.«
»Wo hast du früher gelebt, Mädchen?«
»Unser Haus steht in den Wäldern im Westen, unweit von Wales.«
»Und gibt es dort auch königliche Ländereien?«
»Ja. Eine alte Jagdhütte und ein Wildreservat. Aber Deborah hat erzählt, dass seit den Lebzeiten ihrer Mutter niemand vom Königshof dort gejagt hat. Nur die Wildhüter und ein Vogt kümmern sich um das Land. Sie haben uns immer in Ruhe gelassen.«
»Ja ...«, stieß Jehanne wie einen tiefen Seufzer hervor. Langsam stand sie auf, ergriff mit zitternder Hand eines der Öllämpchen und hielt es dicht an Annes Gesicht. »Dreh den Kopf, Kind. Jetzt auf die andere Seite. Und nun schau mir in die Augen.«
Gehorsam tat Anne wie geheißen. Tausend Fragen lagen ihr auf der Zunge, als Jehanne, scheinbar befriedigt, die Lampe wieder absetzte und Anne wortlos betrachtete. Das Schweigen schien eine Ewigkeit anzudauern. »Wie kann ich deine Ziehmutter erreichen, Kind? Kommt sie manchmal nach London?«
Anne blickte sie erschrocken an. »Muss ich den Hof verlassen?«
Jehanne lachte rau. »Das weiß ich nicht, Kind. Was du mir erzählt hast, ist in der Tat ernst, viel ernster vielleicht, als wir uns vorstellen können. Aber ... möglicherweise hast du den Schlüssel zu diesem Rätsel selbst in der Hand. Ich denke, deine Ziehmutter wird gern kommen.«
Arme Jehanne. Sie betrachtete Anne, während sich ihr Gesicht verzog, und einen Augenblick lang sah es aus, als bräche sie in Tränen aus. Anne eilte zu ihr, um sie zu trösten. »Regt Euch nicht auf, Mistress. Irgendwie werden wir es dem König schon sagen.« Behutsam nahm sie Jehannes Hände und machte besänftigende Geräusche, wie eine Mutter, die ihr Kind tröstet.
Diese herzliche Geste schien die alte Frau noch mehr zu erschüttern. Sie nahm Anne bei den Schultern und sah ihr suchend in die Augen, ehe sie ehrfürchtig nickte. »Ja, dieser Freundlichkeit bin ich früher schon einmal begegnet. Mein Gott ... oh, mein Gott. Du warst nie wie die anderen, und nun weiß ich auch, warum.«
Anne war bestürzt. »Was meint Ihr damit, Dame Jehanne? Welche anderen?«
Aber Jehanne schüttelte den Kopf. »Deine Ziehmutter. Wie kann ich ihr eine Nachricht zukommen lassen?«
Warum fürchtete sich Anne mit einem Mal so? »Das ist nicht ganz einfach. Manchmal habe ich ihr über einen befreundeten Kesselflicker einen Brief geschickt. Er kauft seine
Waren in London ein und wohnt dann immer im Gasthaus in der Eastchepe.«
»Und wann wird er wieder in London sein?«
»Vielleicht jetzt. Manchmal überwintert er hier und geht erst wieder im Frühjahr auf Wanderschaft.«
Jehanne stand abrupt auf. »Ich bin bald zurück. Bis dahin bleibst du hier. Ich werde über das nachdenken, was du mir erzählt hast.«
Erst als die alte Frau die Schlafstube verlassen hatte, fiel Anne auf, dass sie ihr nichts vom König erzählt hatte. Sie schloss die Erinnerung an ihn in ihrem Herzen ein. Erschöpft ließ sie sich auf das Bett sinken und schlief ein, schlief zum ersten Mal seit langer Zeit gut und fest.
Jehanne eilte unterdessen zum äußeren Trakt des Schlosses, wo die Wachen der Königin untergebracht waren. Sie suchte einen alten Freund, einen Sergeanten, den sie seit ihrer Kindheit kannte. Er stammte aus derselben Gegend wie sie, aus der Nähe von Patrington im Norden. Sie fand ihn, in seinen alten Soldatenmantel gehüllt, in den riesigen Stallungen der königlichen Pferde, die selbst im Winter genug Platz für über zweihundert Tiere boten.
»Sergeant Cage?«
Beim Klang der Stimme - der Stimme einer Dame, die ihm dennoch vertraut war - drehte er sich um. »Dame Jehanne. Na, so etwas. Seid gegrüßt.« Doch dann runzelte er die Stirn. Eine Frau bei den Ställen, das schickte sich nicht.
»Ja, Sergeant, ich weiß. Ich sollte nicht hier sein, aber ich möchte Euch um einen Gefallen bitten. Es ist dringend. Ich brauche einen vertrauenswürdigen Mann, der eine Nachricht nach London bringt.« Die alte Dame zog eine Geldkatze hervor und zählte sorgfältig eine Reihe Silberlinge und zwei Silberpennies ab. »Ich hoffe, es macht keine allzugroßen Umstände. Ihr wisst, dass ich Euch nicht darum bitten würde, wenn es nicht äußerst wichtig wäre. Reicht die Summe?«
Seine rauen Hände umfassten die ihren. »Steck dein Geld wieder ein, Mädchen.« Seine Stimme hatte einen weichen Klang angenommen, und seine Worte übersprangen die Standesgrenzen, die zwischen ihnen lagen. Einst, als sie beide noch jung gewesen waren, waren sie einander zärtlich zugeneigt gewesen, und das hatte er nie vergessen, ebenso wenig wie sie. »Wo ist diese Nachricht? Und wem soll ich sie überbringen?«
Jehanne gab ihm den Brief, ehe sie, von alten Erinnerungen erfüllt, in die Gemächer der Königin zurückeilte. Dort fand sie alles in Aufruhr vor. Der Jagdausflug war für Elizabeth in der Tat zu anstrengend gewesen, und sie war bereits vor dem König zum Schloss zurückgekehrt. Sie hatte Haltung bewahrt, bis sie in ihre Gemächer zurückkehrte, wo sie zusammengebrochen war. Jehanne sorgte sogleich dafür, dass die Königin entkleidet und zu Bett gebracht wurde - hätten nur die Hofdamen ihr nicht dauernd im Weg gestanden. Sie schickte Evelyn nach Anne, da jetzt jede Hand gebraucht wurde.
Die Königin hatte ihr bleiches Gesicht in den Schoß von Lady de Sommerville, der Frau eines mächtigen Gutsherrn aus dem Norden und treuen Anhängers des Hauses York, gebettet und die Augen geschlossen. Jehanne versuchte unterdessen, das Kleid ihrer Herrin aufzuschnüren, sorgsam darauf bedacht, sie so wenig wie möglich zu belästigen. Die übrigen Hofdamen hatten sich um die Königin geschart und erteilten ihr die widersprüchlichsten Ratschläge.
»Eine heiße Milch mit einem Ei, ein wenig Malvasierwein und eine Prise Muskat wäre das Beste ...«
»Nein, auf keinen Fall - Gewürze in ihrem Zustand, das wäre sehr schädlich ...«
»Vielleicht einen heißen Stein für die Füße?« Das war der vernünftigste Vorschlag, den Jehanne bis dahin gehört hatte, und sie blickte dankbar zu Anne auf, die mit Evelyn ins Zimmer geeilt kam.
»Ja, Kind. Schnell. Nun, Euer Majestät, das Kleid ist aufgeschnürt. Lady de Sommerville, würdet Ihr der Königin bitte auf die Füße helfen?« Die Königin erhob sich schwankend, so dass das Kleid endgültig abgestreift werden konnte. Schnell trat Evelyn nach vorn und hielt einen mit Streifen von Marder- und Luchspelz besetzten Samtmorgenmantel bereit, den Jehanne der Königin um die Schultern legte. »So ist es gut, Majestät. Lehnt Euch an mich, dann werdet Ihr im Nu im Bett sein ...«
Dicke Tränen quollen unter den geschlossenen Lidern der Königin hervor. Die Hofdamen sahen sie überrascht an. Die Königin musste in der Tat sehr krank sein, denn keine hatte sie je weinen gesehen. Außer natürlich als ihre Tochter, Lady Elizabeth, geboren wurde, aber das war aus verständlicher Enttäuschung gewesen.
»Oh, Jehanne, mir ist so kalt, so kalt ...« Ängstlich legte die Königin die Hände auf ihren Bauch. »Glaubt Ihr, ich habe ihn verletzt?« Die Hofdamen sahen sich ratlos an.
»Nein, Euer Majestät. Ihr seid gesund und kräftig. Ihr braucht nur Ruhe und Wärme. Und Ihr müsst schlafen. Das Bett ist schon gerichtet«, sagte Anne ruhig, doch mit einer Autorität in der Stimme, die augenblicklich Wirkung zeigte. Die Königin nickte kläglich und erklomm das große Bett. Im Raum herrschte vollkommene Stille. Den anderen hatte es vor Verblüffung die Sprache verschlagen, denn dass eine Dienerin unaufgefordert sprach, hatte es noch nie gegeben.
Die Königin, deren Haar wie bei einem kleinen Mädchen in ordentlichen Zöpfen geflochten war, kuschelte sich unter die Decke. Sie sah aus wie eine gewöhnliche, junge Frau, und plötzlich hatte Anne Mitleid mit ihr. Das Leben einer Königin war hart - keinen Augenblick war man unbeobachtet, und wem konnte man schon vertrauen? Die Höflinge buhlten um ihre Freundschaft, doch nur um ihres eigenen Vorteils willen, nicht weil sie sie mochten. Kein Wunder, dass Elizabeth so unleidlich war.
Als Anne die Decke aus feinstem, seidengefüttertem Winterzobel hochzog, überlegte sie, was die Königin sehen würde, wenn sie jetzt die Augen aufschlüge. Eine Dienerin? Oder die Dirne, die hinter der Fassade lauerte? Aber die Königin ließ die Augen geschlossen und sank bald in einen behüteten, tiefen Schlaf.
Die Hofdamen verließen das Zimmer, und Jehanne gab den Kammerzofen ein Zeichen, dass sie ebenfalls gehen könnten. Als Anne sich ihren Freundinnen anschließen wollte, hielt Jehanne sie zurück. »Bleib hier bei der Königin, bis sie aufwacht. Ich muss einiges erledigen, bevor der König zurückkehrt.«
Nun war Anne allein mit der Königin. Der Regen trommelte gegen die Fenster, und im Kamin in der Ecke prasselte das Feuer. Anne stand eine Weile am Fußende des breiten Bettes und beobachtete die schlafende Königin. Ohne ihre vornehmen Kleider war Elizabeth eine Frau wie jede andere - wie Anne. Anne seufzte tief und ging zu einer steinernen Bank, die in eine Mauernische unter den Fenstern eingelassen war. Sie ließ sich darauf niedersinken, schloss die Augen und legte die Stirn an die kalte Fensterscheibe. Vielleicht brachte das eisige Glas sie ja wieder zu Verstand. Sie musste über ihre Lage nachdenken. Was sollte sie dem König sagen, wenn er sie nach der vergangenen Nacht fragte? Und wie konnte sie ihrer Gefühle Herr werden?
»Mutter Maria, gib mir Kraft. Bitte ...« Sie betete inbrünstig, aber sie war nicht aufrichtig - sie konnte sich nicht selbst belügen. Ja, sie brauchte Kraft, aber sie wollte nicht stark sein, »Oh, Jesu«, stöhnte sie laut, worauf die Frau im Bett sich regte. Anne hielt den Atem an. Die Königin schlief weiter, so dass sie wieder allein mit ihren Gedanken war, Gedanken an Edward, so sehr sie auch beten mochte. Irgendwann hörte sie draußen vor der Tür Stimmen - das leise Gespräch von zwei Männern. Kurz darauf wurde sachte die Tür geöffnet, und da stand er, der König, lehmbespritzt und durchnässt von der Jagd.
Im ersten Augenblick nahm er sie gar nicht wahr, sondern seine Aufmerksamkeit galt der Frau in dem Bett, doch als Anne sich unwillkürlich bewegte, drehte er sich um. Ihre Augen versanken ineinander, ehe sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
Sie spürte ihr Herz rasen, als er wie ein Jäger auf sie zukam. Seine Augen schienen sie zu zwingen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Schließlich war er nur noch einen Schritt von ihr entfernt. Sie konnte ihn riechen. Er roch nach Rauch, feuchtem Leder und Pferden, und sie wusste, wenn sie jetzt sein Gesicht berühren würde, würde es ganz kalt unter ihren Fingern. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihr Atem ging schnell. Wenn sie jetzt nicht aufstand und ging, war ihr Schicksal besiegelt. Dann wäre es zu spät.
Er kam noch ein wenig näher, und sie hörte ihn atmen. Gemächlich streifte er einen Handschuh ab, bedächtig, langsam, schweigend. Sie senkte die Augen.
»Sieh mich an.« Er flüsterte, doch es klang wie ein Befehl. Sie gehorchte, und offenbar sah er die Angst in ihren Augen, denn er lachte leise. »Wir haben noch ein Gespräch zu führen, wir beide. Aber lieber nicht hier.« Er berührte mit seiner bloßen Hand ihr Gesicht, und ein Finger verweilte kurz auf ihrem Mund. »Du Hübsche.« Daraufhin drehte er sich um und trat ans Bett seiner Frau. »Du kannst uns allein lassen, Anne. Sei so gut und schick nach Jehanne.«
Er war wieder ganz König, förmlich und distanziert, und sie war froh darüber. Rasch sprang sie auf, knickste und stürmte förmlich aus dem Zimmer - geradewegs in die Arme von Hastings, der vor der Tür gewartet hatte und ebenfalls schmutzig von der Jagd war. »Hoppla! So eilig, der Teufel ist wohl hinter dir her.«
Das war natürlich ein Scherz, aber in Annes Ohren klang es beinahe wie die Wahrheit. »Verzeiht, Sir. Ich muss Dame Jehanne suchen, der König lässt nach ihr schicken ... Habt Ihr sie vielleicht gesehen?«
William schüttelte den Kopf. »Wir sind gerade erst von der Jagd zurück.«
»Dann hat sie noch nicht mit Euch gesprochen, Sir?«, fragte Anne ängstlich.
»Nein.« Die Reaktion des Mädchens verblüffte ihn. Sie sah zuerst enttäuscht, dann sehr erleichtert aus. Aber sie eilte davon, bevor William sie näher befragen konnte. Nachdenklich sah er ihr nach. Sein Herr fand an vielerlei Frauen Geschmack, doch bei diesem Geschöpf verspürte er den Anflug eines schlechten Gewissens. Sie war noch sehr jung, wie viele andere auch, aber es wäre schade, wenn sie durch die Gunst des Königs ihre aufrichtige, strahlende Offenheit verlöre.
William seufzte, ehe er sich ärgerlich zur Ordnung rief. Er hatte sich um andere Dinge zu sorgen als um das Schicksal einer Dienerin, auch wenn sie noch so reizend war. Zum Beispiel musste er sich um die Gesundheit der Königin kümmern, vor allem jetzt, wo sie womöglich den Erben von Englands Thron unter dem Herzen trug.