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Kapitel 43

Der Valentinstag war gekommen, und schon beim ersten Licht des frühen Morgens summte das Turniergelände wie ein Ameisenhaufen, denn die Bewohner der Stadt kamen zu Tausenden, um sich die besten Plätze für das Turnier zu sichern.

Der König hatte ein Gelände in West Smithfield ausgesucht, wo bereits seit drei Wochen die Maurer, Zimmerleute,

Maler und Zeltmacher emsig nach Anweisung von William Hastings ihre Arbeit verrichteten. Bunt bemalte Zuschauertribünen säumten die Seiten des dreihundert Fuß langen Spielfelds, das von einer doppelten Palisade umgeben war. Hinter dem Zaun waren Zelte für die Kämpfer errichtet worden. Die Ehrenloge, in der die Königin und ihre Damen, die ehrwürdigen Ritter, die nicht am Turnier teilnahmen, und andere Ehrengäste sitzen sollten, war drei Stockwerke hoch und mit allerlei allegorischen Figuren golden verziert. Uber allem erhob sich ein mächtiger Fahnenmast, an dem an diesem Tag die persönliche Standarte des Königs kühn im scharfen Wind flatterte.

Daneben befand sich ein zweites, etwas niedrigeres Podium für den Bürgermeister und die Ratsherren. Dies war Anlass für allerlei Gerede, da der König wieder einmal die Kaufleute, die Richter und niederen Magnaten begünstigte. William oblag an diesem Tag die Überwachung der Wettkämpfe - eine ganz besondere Ehre. Er sollte den Turnierablauf von einem speziell für diesen Zweck vor der Ehrenloge der Königin errichteten Podest aus dirigieren.

Unter allen Zelten, die in den vergangenen Tagen errichtet worden waren, war Edwards das größte. Es enthielt beinahe so viele Räume wie ein kleines Schloss, obwohl es ebenerdig war, und die aus Holz und Segeltuch gefertigten Wände waren mit einem Scheinmauerwerk bemalt. Umgeben war es von einem »Wald« aus halb hohen, in Kübel- gepflanzten Bäumen, an denen schon das erste Frühlingsgrün spross, da sie in einem Wärmehaus vorgetrieben worden waren.

Man konnte sich kaum vorstellen, dass dies nur eine provisorische Anlage für fünf Tage sein sollte.

Vor dem Beginn der Kämpfe ruhte der König in seinem prachtvollen Gemach auf einem reich geschnitzten, vergoldeten Prunkbett. In der vergangenen Nacht und am Morgen hatte er das Bett der Königin meiden können, ebenso wie ein Gespräch über seine Abwesenheit vor dem Festmahl. Er hatte sich damit entschuldigt, dass er Zeit haben müsse, mit seinen Rittern für den Sieg zu beten, wenn er erfolgreich für ihre Ehre kämpfen wolle. Allerdings war es sehr spät geworden, bis er und seine zwölf Auserwählten - unter ihnen auch George, der so betrunken war, dass er in einer Sänfte herbeigebracht werden musste - in der Zeltstadt beim Turnierplatz eingetroffen waren. Und der König hatte tatsächlich darauf bestanden, dass seine Ritter ihn zur Messe in die für diesen Anlass errichtete Zeltkirche begleiteten und mit ihm um Kraft und Führung für das bevorstehende Turnier beteten.

Edward war kein besonders religiöser Mann, sondern in Glaubensdingen eher pragmatisch veranlagt. Die oft nicht sehr christlichen Entscheidungen, die er als König zu treffen hatte, konnte er mit seinem Glauben in Einklang bringen, da er wusste, dass Gott ihn für diese Aufgabe erwählt hatte. Regieren und gleichzeitig die Gebote der Bibel beachten war keine leichte Aufgabe. Darüber hinaus musste es einige Sonderregeln für Könige geben, da sie bei ihrem Tun das Wohl vieler Menschen und nicht nur das des Einzelnen zu beachten hatten. Trotzdem ging er von Zeit zu Zeit zur Beichte, und in der vergangenen Nacht hatte er sogar flüchtig erwogen, die Wahrheit über Anne preiszugeben.

Er betrachtete sich als einen Mann der neuen Zeit, aber wenn er an Annes seltsame Geschichte dachte, überkam ihn eine gewisse Bangigkeit. Ihr Leben schien einem Lied der Troubadoure entsprungen: die Liebe zwischen einer vergessenen Prinzessin und einem König. Nein, er hatte nicht gebeichtet, aber sobald das Turnier vorbei war, wollte er das Rätsel ihrer Herkunft lösen.

Plötzlich erscholl ein Trommelwirbel und das Schmettern zahlreicher Fanfaren.

Die Königin war eingetroffen. Edward verzog das Gesicht. Es war Zeit, sich wieder in den Kriegerkönig zu verwandeln, Zeit, der Wirklichkeit ins Auge zu blicken. Unterdessen winkte die Königin der jubelnden Menge zu. Die Menschen mochten sie nicht besonders wegen ihrer habgierigen Verwandtschaft, aber sie war schön. Und sie war schwanger. Wenn sie für Edward gut genug war, war sie auch für das Volk gut genug.

Elizabeth war ebenfalls guter Stimmung, weil sie das Problem mit dem schweren, grünen Kleid gelöst hatte. Sie hatte acht Jungfern, alle mindestens Grafentöchter, zu Schleppenträgerinnen bestimmt. Sogar die Schwester des Königs, Margaret von York, war abkommandiert worden. William Hastings hatte sie bereits im Morgengrauen besänftigen müssen. Die Entscheidung der Königin hatte für einigen Aufruhr unter den Hofdamen gesorgt, denn es war allgemein bekannt, dass Margaret die Königin nicht leiden konnte. Schließlich hatte Margaret sich genötigt gesehen zuzustimmen, da sie ihren Bruder nicht mehr rechtzeitig erreichen und sich ohne seine Erlaubnis nicht verweigern konnte. Elizabeth war hochzufrieden angesichts des verblüfften Murmeins der Menschen, als diese sahen, wer ihr aufwartete.

Die Königin und Lady Margaret von England saßen also gemeinsam neben der Herzogin von Warwick und Williams Frau Catherine, die zu diesem Ereignis aus dem Norden angereist und deren Schwangerschaft noch weiter- fortgeschritten war als die der Königin. Sie erweckten den Eindruck, als wären sie alle die besten Freundinnen. In den Augen der Zuschauer sahen sie aus wie Göttinnen oder Gestalten aus dem Märchen, die aus Gründen, die nur sie allein kannten, London einen huldvollen Besuch abstatteten.

Die Damen des Hofes kannten sich mit den Turnierregeln bestens aus und sahen dem Wettkampf gespannt entgegen.

Verstohlen wurden hinter dem Rücken der Königin Geldbeträge auf mögliche Sieger gesetzt. Elizabeth, die mit den Regeln nicht weniger vertraut war, war zwischen Erregung, Stolz und Furcht hin- und hergerissen.

Am ersten Turniertag sollten ausgewählte Krieger beider Seiten gegeneinander antreten, ehe für den folgenden Tag ein Fußkampf vorgesehen war. Die nächsten Tage waren verschiedenen Kampftechniken gewidmet - Axtwerfen, Lanzenstechen, Bogenschießen, Kolbenkampf und sogar Ringkampf. Am letzten Tag sollte der große Massenkampf zwischen beiden Parteien stattfinden.

Abends würden in festlichem Rahmen die Preise verliehen und der Hofgesellschaft ein Unterhaltungsprogramm geboten werden. Und am Ende würde die Königin der Liebe dem von den Damen ihres Liebeshofes erwählten, tapfersten Ritter des Turniers eigenhändig eine Auszeichnung verleihen.

Die Menschenmenge wurde bereits unruhig, als William endlich seinen Platz auf der Tribüne einnahm und den Ehrenstab erhob. Sogleich ertönte das Schmettern der Fanfaren, und am Eingang zum Turnierplatz war ein lautes Krachen zu hören. Kurz darauf wurde mit lauter Stimme verkündet, ein fremder Ritter und seine Mannen begehrten Einlass zum Turnier. William senkte feierlich seinen Stab, worauf sich die Tore langsam öffneten.

Ein Seufzen entwich der Menge. Auf einem weißen Pferd ritt ein stattlicher Ritter in schwarzer Rüstung und schwarz lackiertem Schild herbei. Das Pferd war mit versilbertem Zaumzeug und einer Satteldecke aus schwarzem Samt geschmückt, und an seinem Kopf war ein perlenbesetztes Horn befestigt. Wie durch Zauber stieg eine Rauchwolke auf, und schlagartig war der Ritter von zwölf Reitern auf schwarzen Rössern umgeben, die weiße Rüstungen und weiße Schilde trugen. Ein weiterer, diesmal roter Rauchstoß, und ein Zwerg in grünem Wams und Kniehosen erschien. Er ritt einen Esel, dessen Zaumzeug und Sattel aus rotem Leder waren.

Die Menge applaudierte begeistert, als der Zwerg die unbekannten Ritter zum Klang der Musik auf den Kampfplatz führte, wo sie unter der Loge der Königin im Halbkreis Stellung bezogen. Die Musik verstummte, als der Zwerg mit ungewöhnlich lauter Stimme anhob.

Er richtete das Wort an William. »Lord, der Ihr der Richter dieses edlen Wettstreits seid, dieser unbekannte Ritter hat mich beauftragt«, verkündete er, worauf der schwarze Ritter sich vor William verneigte, der seinerseits die Verbeugung erwiderte, »Euch um Eure Gunst zu bitten. Er hat ein Schweigegelübde abgelegt und darf erst sprechen, wenn er und seine Mannen der Königin der Liebe und ihren schönen Begleiterinnen einen großen Dienst erwiesen haben. Er hat zwölf Krieger bei sich, die ihnen zu Ehren kämpfen wollen, doch er bittet, sich als Erster im Kampf mit jedem edlen Widersacher zu messen, der sich ihm entgegenstellt.« Die Menschen jubelten, da sie wussten, dass es der König war, der sich unter der schwarzen Rüstung verbarg. Dass er als Erster zum Kampf antrat, war eine ehrende Geste an sie alle.

Der Zwerg hatte kaum zu Ende gesprochen, als am Eingang zum Kampfplatz erneut die Fanfaren schmetterten. Diesmal erschien ein gänzlich in Gold gekleideter Ritter, der von zwölf Jungfern in grünen Gewändern und Schneeglöckchen im Haar in die Arena geführt wurde. Die Mädchen waren mit langen grünen Bändern mit dem Streitross verbunden. Sie tanzten beim Einzug und streuten Narzissen.

Der goldene Ritter verneigte sich vor der Königin und vor William und verkündete, er sei entsandt, an diesem Festtag die Ehre des heiligen Valentin zu verteidigen. Er wolle, unterstützt von seinen Mannen, gegen den schwarzen Ritter antreten. Auf einen weiteren Fanfarenstoß stürmten zwölf Ritter in silberner Rüstung durch das Tor, umringten ihn und schwenkten weiße Straußenfedern.

Es war ein sehr ansehnliches Schauspiel, das Elizabeth großes Vergnügen bereitete, besonders als der »unbekannte« schwarze Ritter von seinem Streitross sprang, vor ihrer Loge niederkniete und sie um ein Zeichen ihrer Gunst bat. Das war das Stichwort für den Auftritt der Königin, den sie in vollen Zügen auskostete. Gemächlich erhob sie sich und wartete, bis sie die volle Aufmerksamkeit der Menge hatte. Dann löste sie von ihrem Kleid den größten Smaragd von einer speziell für diesen Anlass angefertigten Schließe und warf ihn in anmutigem Bogen dem Ritter zu. »Hier, edler Ritter, ein Zeichen meiner Liebe. Grün wie die Königin der Liebe, allen starken und rechtschaffenen Streitern gewidmet, auf dass Ihr tapfer die Ehre des heiligen Valentin verteidigt.«

Der Ritter sprang auf und hielt den Stein in die Morgensonne, worauf er, für alle sichtbar, leuchtend grün aufblitzte. Dann bestieg der Ritter wieder sein weißes Pferd und sprengte vom Platz, um mit seinen Kameraden das Signal für den Beginn des Kampfes abzuwarten.

William stieß unbemerkt einen Seufzer der Erleichterung aus. Bis jetzt war alles gut gegangen. Die Königin strahlte und freute sich, und seine kleine, höfische Komödie war auch bei den Zuschauern gut angekommen. Die eigentliche Gefahr aber stand noch bevor. William senkte seinen Stab und gab das Zeichen für den ersten Kampf.

Voller Stolz und Sorge zugleich beobachtete er, wie der schwarze Ritter das Kampffeld in Begleitung von acht berittenen, weiß gekleideten Edelknaben betrat. Der große Smaragd der Königin war an seinem Helm befestigt und glitzerte und blinkte, als er sich nach allen Seiten verneigte. Zwei Schildknappen reichten ihm die Turnierlanze mit der abgestumpften Spitze. Edward streichelte den Hals seines Streitrosses Mallon. Er kannte sein Pferd bis ins Innerste, kannte seine Kampfeslust, die in jeder Muskelfaser des Hengstes zu spüren war, der nun nervös unter seiner schweren, bis zum Boden reichenden Decke tänzelte.

Wieder ertönte ein Fanfarenstoß, und der goldene Ritter, Warwick, kam auf den Platz, umringt von sechs Knappen und Edelknaben. Mit seinem vergoldeten Helm sah er so fremd aus wie ein Götzenbild, wobei ihm sein lustig wippender Federbusch und die flatternden Bänder jedoch zugleich etwas Spielerisches verliehen. Trotzdem unterschätzte Edward den Grafen nicht, denn sein Kampfstil war alles andere als spielerisch.

Die beiden Männer hatten nun jeder auf seiner Seite Stellung bezogen, und William hob seinen Stab. Der König hatte den Vorteil, dass die aufsteigende Sonne seinen Gegner blendete. Der Kammerherr wartete, bis völlige Stille eingetreten war, dann ließ er den Arm sinken - die Fanfaren schmetterten, und die Pferde stürmten aus den hölzernen Kampfschranken aufeinander zu. Schneller und immer schneller wurden sie, näher und immer näher kamen sie sich, höher und immer höher wirbelte der Sand unter ihren Hufen auf. Edward richtete sich im Sattel auf, stemmte die Füße in die Steigbügel, senkte den Kopf und zielte mit der Lanze auf Warwicks rechte Seite: Getroffen!

Warwick Lanzenhieb streifte ihn nur, was nicht als Treffer zählte. Edward aber hatte seinem Gegner einen gezielten Schlag unterhalb der Schulter versetzt und seine Lanze dabei regelrecht zersplittert. Zwei Punkte! Die Menge jubelte ihrem Favoriten, dem »unbekannten Ritter«, zu. Die beiden zogen sich an den Rand des Turnierplatzes zurück, wo sie neue Waffen erhielten.

Wieder ritten sie gegeneinander, wobei dieses Mal Edward die Sonne gegen sich hatte. Kampflustig riss Malion mit schäumendem Maul an den Zügeln. Edward hätte die Zügel loslassen können, wenn er gewollt hätte, denn das Tier kannte seinen Weg ganz genau.

Warwicks Pferd war nicht weniger gut geschult. Da er diesmal nicht geblendet wurde, schlug er sich besser. Die beiden Männer trafen sich in der Mitte des Feldes, und Warwick errang einen Punkt, als er seine Lanze im rechten Winkel unmittelbar unterhalb von Edwards Kinn aufsetzte. Edward wiederum verlor einen Punkt, denn sein Lanzenhieb ging kläglich daneben und streifte nur Warwicks Schulterstück. Als die Ritter wieder zum Rand des Turnierplatzes kanter- ten, stand der Kampf unentschieden, und beide hatten einen schmerzhaften Hieb einstecken müssen.

Die letzte Runde begann. Vollkommene Stille herrschte, als die Zuschauer beobachteten, wie die Ritter ihre neuen Lanzen entgegennahmen. Die Königin saß unbeweglich da, ebenso die Herzogin von Warwick. Beide Frauen hatten die Fingernägel in ihren Handflächen vergraben.

Wie in Trance sah Elizabeth Williams Arm sinken, sah den Stab in der Sonne aufblitzen und die Pferde losgaloppieren. Sie hörte das dumpfe Schlagen der Hufe, sah den Sand aufwirbeln, hörte das Brüllen der Menge so fern wie Meeresrauschen und dann ... ein Krachen. Der goldene Ritter flog in hohem Bogen durch die Luft, während sein Pferd mit einem Schrei zu Boden stürzte.

Beide Frauen waren vor Schreck wie erstarrt, während die Hofdamen aufsprangen und vor Begeisterung jubelten. Der schwarze Ritter saß wie aus Stein gemeißelt auf seinem Schimmel unterhalb der Loge der Königin, Schneeglöckchen und Narzissen regneten auf ihn herab. Schildknappen stürzten auf den Platz, um dem Grafen Warwick aufzuhelfen, der hilflos in seiner schweren Rüstung am Boden lag. Andere versuchten, sein Streitross einzufangen, das zum Entzücken der Menge wild durch die Arena stob.

Die Königin wandte sich der Herzogin zu. »Kommt, dort ist Euer Gemahl. Der unbekannte Ritter hat ihn vom Pferd gestoßen, aber er lebt.« Elizabeth mochte die Herzogin, konnte den triumphierenden Ton in ihrer Stimme jedoch nicht unterdrücken. Ihr Mann hatte wieder einmal gesiegt. Sie waren gerettet, das Königreich war gerettet. Unwillkürlich streichelte sie über ihren Bauch. Heute Nacht würde sie vielleicht dafür sorgen können, dass der König in ihr Bett kam ...

Plötzlich schmetterten die Fanfaren erneut, als begehrte noch jemand Einlass auf den Kampfplatz. Das war gegen die Regeln, die besagten, dass das Feld erst geräumt werden musste, bevor weitere Kämpfer auftreten durften.

Alle Augen richteten sich auf das Tor, das sich langsam öffnete. Ein seltsamer Anblick präsentierte sich der Menge. Eine verschleierte Frau, in schlichtes Schwarz gekleidet, kam auf einem grauen Esel geritten, der von einem Mann in der langen, pupurroten Robe der Ärzte geführt wurde. Mit ernster Miene näherten sie sich dem Podest, auf dem William als Turnierrichter saß. Wie ein Lauffeuer gingen wilde Gerüchte durch die Menschenmassen. Doktor Moss führte den Esel an dem unbekannten Ritter vorbei, bis er unmittelbar vor William und der Königin stand. Mit einer tiefen Verbeugung fragte er, ob es erlaubt sei, den Turnierrichter- zu sprechen, um ihn um eine Gunst für die verschleierte Lady zu bitten.

Die Zuschauer waren begeistert. Schon wieder wurde ihnen ein Theaterspiel geboten. Sie spitzten die Ohren, um ja kein Wort zu verpassen. William bedeutete Doktor Moss mit einem Nicken, näher zu treten, und erkundigte sich nach dem Namen der Lady. »Sir, das ist nicht möglich. Ich kann Euch nur so viel sagen, dass sie in den vergangenen Tagen unter dem Schutz der Abtei stand und nun Eure Hilfe und die der Königin erbittet.«

Nur die Menschen in den beiden angrenzenden Reihen konnten ihn hören, aber die Spannung, die von der reglosen, schwarzen Gestalt auszugehen schien, ließ die Menge verstummen.

William sah hilflos zur Königin, die starr und unsicher dasaß. Dann warf er einen Blick auf Edward, der sein Streitross näher an die Lady dirigiert hatte, ohne jedoch sein Visier hochzuklappen. Auch er schwieg.

»Sir, wie können wir dieser Lady helfen?«, rief William laut.

Moss sah zu der verschleierten Gestalt, die ihm einen versiegelten Umschlag reichte. Er nahm ihn und gab ihn an William weiter, der ihn mit einer Verbeugung entgegennahm. »Sir, meine Herrin bittet Euch, diesen Brief laut vorzulesen.«

Wieder warf der Kammerherr einen verzweifelten Blick in Edwards Richtung. Nach kurzem Zögern forderte ihn der behelmte König mit einem Nicken auf, den Brief zu verlesen. Hilflos saß die Königin, blass vor Angst und Wut, auf ihrem Ehrenplatz und biss sich auf die Lippen. Sie wusste ganz genau, wer diese Frau dort unten war. Es war Anne, ihre einstige Kammerjungfer.

Es herrschte eine vollkommene Stille, als William den Umschlag brach und zu lesen begann. »Gnädige Königin und Dame des unbekannten Ritters. Ich, Eure unglückliche Dienerin, bitte Euch um Hilfe und Unterstützung für mich und die meinen. Ich habe bis jetzt den Schutz der Kirche genossen, doch nun muss ich Eure Hilfe erbitten, um meinen sicheren Zufluchtsort und dieses Königreich für immer zu verlassen.«

Das Pferd des Königs wurde unruhig, als es ein abruptes Ziehen an seinen Zügeln spürte. Anne saß in stolzer Haltung auf ihrem Esel, und niemand sah den Schweiß, der an ihrem

Leib herunterrann. Das Atmen fiel ihr schwer, so schrecklich schwer.

»Ich möchte meinen Namen nicht offenbaren, doch ich kann versichern, dass es ein ehrenhafter Name ist und dass mein einziges Vergehen in der Tatsache meiner Geburt liegt ...« Die Menschen stießen ein mitfühlendes Aaah aus. »Euer König hat mir einst versprochen, dass ich alles bekäme, worum ich ihn bitte, wenn ich an dem heutigen Tag zu ihm käme. Ich bitte Euch also darum, dass meine Freunde nichts befürchten müssen, weil sie sich für mich eingesetzt haben, und dass sie von heute an unter seinem persönlichen Schutz stehen. Euer Ritter hat nur eine einzige Bedingung gestellt, und ich sage hier, in aller Öffentlichkeit, dass ich seine Bedingung nicht erfüllt und damit das Recht auf seine Gnade verwirkt habe. Doch bei seiner Ritterehre mag er es für recht erachten, dass mir diese Hilfe zusteht und ich dieses Königreich in Frieden verlassen kann.«

Es war gesagt. Es gab kein Zurück mehr - weder für Anne noch für den König.

Die Königin überlegte fieberhaft, dann wandte sie sich an den unbekannten Ritter. Ihre Stimme klang glasklar, doch es schwang ein eisiger Unterton mit. »Edler Ritter, Ihr scheint dieser Lady einen Gefallen zu schulden. Ich gebe Euch die Erlaubnis zu sprechen. Ihr mögt ihr antworten.«

Der Ritter schwieg einen Augenblick, ehe er unvermittelt in Gelächter ausbrach. »Gütige Königin, ich habe dieser Lady in der Tat mein Wort als Ritter gegeben. Sie soll meinen Schutz erhalten und ihre Freunde ebenso. Ich verpflichte mich, dafür zu sorgen, dass sie von nun an frei und in Wohlstand leben können. Und da diese Lady die Freiheit ihrer Freunde mit ihrem Opfer teuer erkauft hat, werdet Ihr als ihre Königin nicht weniger Hochachtung für sie empfinden als ich. Sie soll frei und in Frieden ziehen können.«

In seiner Stimme lag eine Schärfe, die keinem der atemlos lauschenden Höflinge entging. Die Königin presste die Lippen aufeinander und wagte keine Erwiderung. Sie hatte die Verzweiflung hinter seinen sorgsam gewählten Worten gehört. Vor Angst stieg Übelkeit in ihr auf. Liebe war bei Edwards Bettgeschichten bisher nie mit im Spiel gewesen.

Der König verneigte sich zuerst vor seiner Frau, dann vor der Lady auf dem Esel, ehe er ihr ein Zeichen gab, mit Doktor Moss vorauszureiten.

War es tatsächlich nur ein winziger Augenblick, ehe Anne die Verbeugung erwiderte? Ein winziger Moment, in dem sich ihr ganzes früheres Leben zu verflüchtigen schien. Und ein neues, unbekanntes Leben begann.

Außerhalb des Kampfplatzes sprach keiner ein Wort. Aber Warwicks Schildknappe sah, wie Doktor Moss dem »unbekannten« Ritter drei Briefe überreichte. Dann ritten er und die Lady von dannen.

Lange Zeit blickte der Ritter ihnen nach, doch Anne sah nicht zurück, und er machte auch keine Anstalten, ihnen zu folgen.

Später an diesem Tag trat er noch gegen drei weitere von Warwicks Männern an und tötete sie fast im Kampf.