Kapitel 8
Mathew Cuttifer war nervös und beunruhigt. Die grauen Regenwolken am Himmel verstärkten noch seine trübe Stimmung. Der Stolz auf die Gunst des Königs vom Vortag war mit der Schriftrolle, die gerade eben abgegeben worden war und die nun entrollt auf seinem Schreibtisch lag, vergangen.
Mathew war ein besonnener Mann, dessen Wohlstand zu einem großen Teil auf seinen zuverlässigen Informationsquellen beruhte. Er versuchte, möglichst wenig Zeit am Hof zu vergeuden - nur wenn seine wirtschaftlichen Interessen es erforderten, mit dem König persönlich oder einem der wichtigen Magnaten zu verhandeln. Allerdings hatte er Sorge getragen, eine Hand voll vertrauenswürdige Kontaktpersonen im Palast von Westminster zu unterhalten. Und heute hatte ihm einer dieser Vertrauten, Thomas Howe, der dem Earl of Warwick als Almosenpfleger diente, höchst beunruhigende Nachrichten zukommen lassen.
Offenbar holte Elizabeth Wydeville, die neue Königin, Mitglieder ihrer weit verzweigten Familie an den Hof, um ihre Macht auszubauen und sich eine politische Basis zu schaffen. Allerdings hatte sie verbitterte Gegner. Warwick wollte ihr nicht verzeihen, dass sie heimlich den König geheiratet hatte. Er war der mächtigste Vasall des Königs und hatte als solcher bereits eine französische Verbindung für Edward ausgehandelt. Mit ihrer unerwarteten Eheschließung hatte sie Warwick zum Gespött ganz Europas gemacht. Sie dagegen konnte Warwick nicht verzeihen, dass er aus seinem Unmut über ihre Heirat kein Geheimnis bei Hof gemacht hatte. Mathew pflegte mit beiden Parteien wichtige Geschäftsbeziehungen, und je länger er über die Situation nachdachte, desto klarer wurde sie für ihn. Sein aufblühender Wohlstand stand zwischen zwei starken, aufstrebenden Machtblöcken, und er würde mit großer Besonnenheit vorgehen müssen, um einen gangbaren Weg zwischen diesen Blöcken zu finden und Gewinn aus den üppigen Schmiergeldern zu erzielen, die er zur Sicherung seiner geschäftlichen Interessen an beide Seiten gezahlt hatte. Vielleicht schützte ihn der König ja höchstpersönlich?
In Zeiten ernster Schwierigkeiten fand Mathew stets Trost im Gebet, obwohl die Schmerzen in seinen Knien schier unerträglich wurden, wenn er längere Zeit kniete. Die Gicht, sagte der Doktor. Hört auf zu trinken. Aber Mathew fühlte sich zu alt, um dem Wein zu entsagen. Schmerzen hin oder her, er wollte zu seinem Gott beten, und aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass er auch eine Antwort bekommen würde, wenn er sich nur darauf konzentrierte.
Das Kohlebecken in seinem Arbeitszimmer erwärmte die klamme Luft nur dürftig, deshalb war er dankbar für den dicken, mit Pelz gesäumten Wollumhang, den er sich sorgfältig um die Beine wickelte, als er auf dem harten, hölzernen Betstuhl niederkniete. Das gute Eichenstück war in der Tat eine Konzentrationshilfe - sein Beichtvater war der Meinung, die fehlende Polsterung fördere die Meditation über die Leiden des Herrn.
Während er nun zur Mutter Maria betete, die er besonders verehrte und der er auch seine Kapelle gewidmet hatte, dachte er gleichzeitig an die enorme Summe, die ihn dieser Betstuhl gekostet hatte. Die Eiche stammte aus seinen Ländereien im Norden, die Schnitzereien von dem flämischen Holzschnitzer Maitre Flamand und die Einlegearbeiten aus Elfenbein und dem Holz des Lebensbaums aus Afrika. Alles in allem hatte der Betstuhl weit mehr gekostet, als er zuzugeben bereit war. Doch er war eine gute Geldanlage, wie ihm die Blicke seiner Geschäftspartner verrieten. Der Betstuhl sprach für seine Frömmigkeit - und für seine Bedeutung als Geschäftsmann. Den Unachtsamen mochte er glauben machen, dass er auch in Geldangelegenheiten nicht von dieser Welt sei, doch das war ein Irrtum.
Er lächelte. Es bereitete ihm Vergnügen, für weltfremd gehalten zu werden. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass seine Gedanken abgeschweift waren. Er sammelte sich mit einem weiteren Ave Maria, dann einem dritten und schließlich einem vierten. Doch selbst die vertrauten Worte konnten ihm die Furcht nicht nehmen, die in seinem Kopf lauerte. Was er brauchte, war ein Zeichen der Mutter Gottes, ein Zeichen, dass sie ihn hörte und bereit war, sich bei ihrem Sohn für ihn zu verwenden, damit ihm der richtige Weg gewiesen werde.
Es klopfte an der Tür. Er versuchte, es zu ignorieren und sich in seine Andacht zu versenken, doch es klopfte erneut, und Mathew wurde sich der bohrenden Schmerzen in seinen Knien bewusst. Unter Qualen erhob er sich - zu schnell, denn die Schmerzen wurden schlimmer. »Was gibt's«, bellte er ärgerlich.
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, und das ängstliche Gesicht der Haushälterin erschien. Es sah so bleich aus, dass Mathew sich wieder etwas beruhigte. Wenn Jassy zweimal anklopfte, musste es sich um etwas Wichtiges handeln.
»Nun, Weib? Was gibt es so Wichtiges, dass ich in meinen Gebeten gestört werde?«
Die Haushälterin knickste nervös. »Sir, Lady Margaret bittet Euch, sie aufzusuchen. Es geht um eine Sache ... um - Eure Frau, Sir, sie meint, dass ...« Sie geriet ins Stocken.
Unwillkürlich erwachte Mathews Neugier. Jassy war die Dienerin, der er am meisten vertraute. Sie war im Haushalt seiner Eltern aufgewachsen und während seines ganzes Erwachsenenlebens - und während seiner drei Ehen - seine Haushälterin gewesen. Manchmal, wenn niemand in der Nähe war, nannte sie ihn in Erinnerung an ihre gemeinsame Kindheit Mathew und er sie Phillipa oder sogar Pip. Oft lachte er darüber, dass seine Dienstboten sie so grässlich fanden, denn er hatte sie immer noch als das ungelenke, dünne Mädchen im Gedächtnis, das mit ihm Apfel stehlen ging, und als die junge Frau, die aus ihrer Liebe zu ihm keinen Hehl machte. Manchmal hatte er den Verdacht, dass sie ihn noch immer liebte. Aber er hatte seine Stellung als Sohn des Hauses ihr gegenüber nie ausgenutzt, was ihm, wie er fand, zur Ehre gereichte.
»Nun, Pip, was ist los?«, fragte er etwas sanfter.
»Sir, ich glaube, Lady Margaret möchte Euch wirklich dringend sprechen.« Sie weigerte sich, mehr zu sagen, presste die Lippen zusammen und vermied seinen Blick.
Mit einem Brummen bedeutete er ihr, das Zimmer zu verlassen, und folgte ihr. Die Unterbrechung kam ihm nicht ungelegen, vielleicht bekam er durch die Beschäftigung mit einer trivialen Haushaltsangelegenheit wieder einen klaren Kopf. Während er Jassy folgte, registrierte er zufrieden das geschäftige Treiben und die ruhige Ordnung im Haus. Er freute sich auf den Besuch im Sonnenzimmer seiner Frau, vor allem da sie nun nicht mehr ans Bett gefesselt war. Bald würde sie wieder ganz die Leitung des Haushalts übernehmen, und er konnte sich wie früher ihrer Gesellschaft und ihrer weisen Ratschläge erfreuen. Dafür konnte er seiner Schutzheiligen, der heiligen Mutter Maria, gar nicht genug danken.
Die Atmosphäre im Zimmer seiner Frau war jedoch weit entfernt von der friedlichen Stimmung, die er erwartet hatte. Margaret saß auf ihrem Stuhl vor dem Feuer. Sie trug ein Gewand aus dunklem Samt und hatte eine schlichte Haube aus edlem Leinen auf. Der Stuhl neben ihr war leer. Seine Frau sah so ernst aus, dass sie ihn fast an ein Heiligenbild erinnerte oder an einen Engel, der dem richtenden Gott zur Seite saß. Selten hatte er sie so gesehen und war überrascht, dass ihn ihr Anblick einen Moment lang einschüchterte. Ihre Herkunft war nicht zu verleugnen - sie war in mehr als einer Beziehung die Lady dieses Hauses. Trotzdem war er froh, sie wieder bei blühender Gesundheit zu sehen.
Zu seiner Verwunderung verbeugte er sich und küsste Margaret förmlich die Hand, wie damals, als er als Freier in ihres Vaters Haus kam. Sie beantwortete die Geste mit einem unmerklichen Lächeln und erhob sich, um ihn zu begrüßen.
»Danke, Jassy, du kannst jetzt gehen. Halte dich aber bereit, falls ich dich noch benötigen sollte«, sagte Margaret, worauf die Haushälterin hastig aus dem Zimmer stolperte, was bei einer Ehrfurcht einflößenden, gestandenen Frau wie Jassy ein ungewöhnlicher Anblick war.
»Mein lieber Gemahl, ich habe dich rufen lassen, weil ich bestürzt und besorgt bin.«
»Sprich, Frau«, erwiderte Mathew und setzte sich neben sie. Sie richtete sorgfaltig den Wurf ihres Gewands, während sie nach den richtigen Worten suchte. Mathew wartete geduldig.
»Mathew, ich muss mit dir über deinen Sohn sprechen. Wie es scheint, hat er Aveline verführt, und falls es sich als wahr erweisen sollte, müssen wir uns Gedanken über die Zukunft dieses unglücklichen Mädchens und ihres Kindes machen. Und auch über den Zustand seiner unsterblichen Seele.«
Mathew war ein Mann, der sich gewöhnlich nicht von Gefühlen leiten ließ, aber das war zu viel. Sein heimlicher Neid auf die Jugend seines Sohnes, seine Missbilligung von Piers' ausschweifendem Spielen und Trinken und die nagende Sorge angesichts der jüngsten Nachrichten aus dem Palast ließen ihn außerordentlich zornig reagieren. »Wo ist Piers? Was sagt er dazu?«
Beschwichtigend berührte Margaret, überrascht von seinem heftigen Ausbruch, seinen Arm. »Ich habe zuerst mit dem Mädchen gesprochen. Wir kennen bis jetzt nur ihre Seite. Ich dachte, es wäre das Beste, du sprichst mit Piers, nachdem du sie dir angehört hast.«
Mathew versuchte sich zu fassen, während Margaret zur Kleiderkammer ging und die Tür öffnete. Sie winkte Aveline heraus, die mit gesenktem Blick und ineinander verkrallten Händen das Gemach ihrer Herrin betrat. Margaret nahm wieder neben ihrem Mann Platz.
»Nun, Aveline, wiederhole vor deinem Herrn, was du mir heute Morgen erzählt hast.«
Aveline räusperte sich und öffnete den Mund. Zweimal versuchte sie vergeblich, einen Ton herauszubekommen. Sie brach in Tränen aus und sank zu Boden - ein Bild des Jammers für jeden, der bereit war, sich rühren zu lassen.
Margaret wartete, obwohl ihr bewusst war, dass Mathew seine Ungeduld kaum zügeln konnte. Als das Schluchzen versiegte, sagte sie: »Wir wollen hören, was du zu sagen hast, Aveline.«
»Oh, Sir, Madam, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Du wirst schon einen Anfang finden, Mädchen.« Der drohende Unterton in Mathews Stimme zeigte augenblicklich Wirkung.
»Er hat mir Gewalt angetan, Sir, und ich hatte Angst. Er hat mich zu Dingen gezwungen ... und geschworen, ich würde aus der Stadt gepeitscht werden, wenn ich irgendeiner Menschenseele davon erzählte. Aber jetzt...«
Wieder liefen Tränen über ihr hübsches Gesicht. Mathew bemerkte, dass sie zu jenen glücklichen Frauen gehörte, die das Weinen nicht entstellte - eine höchst nützliche Eigenschaft.
»Und nun, Aveline?« Margaret sprach freundlich, aber bestimmt.
»Madam, ich bin seit mehr als vier Monaten überfällig.« Die Worte kamen in einem entsetzten Flüstern.
Mathew .empfand eine Spur von Mitleid für sie. Er hatte sie nie besonders gemocht, aber Aveline war im Alter von elf oder zwölf mit seiner Frau ins Haus gekommen, und Margaret hatte sie stets geschätzt. Er hatte nie Anlass gehabt, Aveline zu tadeln, doch das spielte jetzt keine Rolle.
»Wo ist mein Sohn?«
Aveline sah entsetzt auf, und Margaret beruhigte sie eilig. »Shhh, Kind. Er wird dir nichts tun. Mathew, du musst mit ihm sprechen.«
»Sir und Madam, ich habe ihm nichts gesagt. Vielleicht weigert er sich, die Vaterschaft anzuerkennen.« Ihre Stimme klang so hoffnungslos, dass Mathew für den Bruchteil einer Sekunde Erleichterung verspürte. Ja, das Mädchen wollte sich nur seinen Sohn angeln - vielleicht, ja, sogar sehr wahrscheinlich, war das Kind nicht einmal von Piers.
Piers hielt sich in den Stallungen von Blessing House auf und führte auf Geheiß seines Vaters ein ermüdendes und ergebnisloses Gespräch mit Perkin Wye, dem Stallmeister, um herauszufinden, warum die Futterkosten für den Londoner Betrieb in jüngster Zeit so gestiegen waren. Mathew hatte den Verdacht, dass seine Diener in London auf seine Kosten Geschäfte machten, und das Gespräch mit dem altgedienten Stallmeister sollte Aufklärung bringen.
Die Stallknechte beobachteten die Unterhaltung mit verhohlenem Interesse. Die meisten von ihnen mochten Piers nicht, freuten sich jedoch, dass Perkin, der ein strenges Regiment führte, endlich einmal das Nachsehen hatte.
»Master Piers, Euer Vater hat immer wieder betont, dass meine Abrechnungen die tadellosesten im Hause sind. Sauber wie der Tag, klar wie das Wasser und für alle durchschaubar!«
»Dennoch hat mein Vater Bedenken und ich ebenso. Da ist zum Beispiel der Preis für die Gerste, die du letzte Woche gekauft hast.«
»Sir, der letzte Sommer war nass, das Getreide ist schon am Halm verfault. Was angeboten wird, ist von schlechter Qualität und teurer denn je zuvor.«
In diesem Augenblick kam Anne auf den Hof gelaufen. Jassy hatte sie und einige andere Dienstboten losgeschickt, Piers zu suchen und ihr keine Zeit gelassen zu protestieren. Als Piers sie erblickte, lächelte er charmant, doch seine Augen waren hart und kalt. Sie sah ihm trotzig ins Gesicht und holte tief Luft, um das Zittern ihrer Stimme unter Kontrolle zu bringen. Dann erklärte sie, seine Mutter und sein Vater erwarteten ihn im Sonnenzimmer.
»Und wirst du meinen Weg erhellen, liebste Anne?«
»Nein, Sir, ich werde an anderer Stelle gebraucht, aber Mistress Jassy sagte, es sei dringend.«
Er runzelte kurz die Stirn, ehe er eine übertriebene Verbeugung vollführte, als wäre sie eine vornehme Dame, die ihm die Gunst ihres Besuchs geschenkt hatte. »Glaub nur nicht, ich würde vergessen, dass wir unser Gespräch noch beenden müssen, Perkin. Ich bin gleich wieder hier«, sagte er im Gehen.
Doch Piers dachte weder an Gerste noch an Anne, als er die Tür zum Turmzimmer öffnete, denn es geschah selten genug, dass er mitten an einem Arbeitstag von seinem Vater und Margaret gerufen wurde. Sein Argwohn war geweckt. Zu Recht, denn der Anblick, der sich ihm beim Betreten des Zimmers bot, hätte von den Fresken der Klosterkirche stammen können. Sein Vater auf einem thronartigen Stuhl, seine Stiefmutter, gefasst und königlich, die Falten ihres Gewands so sorgfältig gelegt, als wären sie aus Marmor gemeißelt, und Aveline neben der Mutter mit züchtig niedergeschlagenen Augen wie -? Wie konnte man sie beschreiben? Er trat näher und sah die Tränenspuren auf ihrem hübschen Gesicht und die weißen Knöchel ihrer verkrampften Hände. In diesem Moment wusste er es - sie sah aus wie Magdalena die Büßerin.
»Aveline. Wiederhole, was du mir und deiner Herrin erzählt hast«, hob sein Vater an.
»Ich bin schwanger. Euer Sohn ist der Vater«, sagte das Mädchen mit kaum hörbarer Stimme, ohne aufzusehen.
Die Stille im Raum breitete sich aus, während alle darauf warteten, dass er etwas sagte. Er wollte sprechen - ihm lag schon eine schlagfertige Antwort auf der Zunge, doch er unterdrückte sie. Die Zeit zog sich quälend dahin, während er um seinen Fassung rang. Er zitterte. »Vater ... ich ...«
»Piers, ich bin bereit, dich anzuhören, aber bedenke deine Worte reiflich. Deine Mutter und ich wollen die Wahrheit hören.« Die Stimme seines Vaters klang überraschend gefasst. Die beiden Frauen schwiegen.
»Vater - und Ihr, Mutter -, ich kann nicht der Vater des Kindes sein, denn ich habe das Mädchen nie angefasst.«
»Lügner.« Aveline sprach das Wort ruhig, aber bestimmt aus und sah ihm dabei in die Augen.
Mathew Cuttifer fasste einen Entschluss - er wusste, wie er das Problem lösen konnte. Er wandte sich an Margaret. »Bitte geh mit Aveline und Piers in die Kapelle. Ich komme gleich nach. Und du, mein Sohn, und du, Mädchen« - er sah beiden ins Gesicht -, »ihr werdet auf Knien vor euren Gott treten.« Er erhob sich mit vom langen Sitzen schmerzenden Knien und verließ das Turmgemach.
Aveline sah zu Piers hinüber. Sie wirkte gefasst und distanziert. Nun, da sie ihr Gewissen erleichtert hatte, fühlte sie sich seltsam losgelöst von allem.
Piers beachtete sie nicht. »Mutter, was immer Aveline dir erzählt haben mag, bitte glaub mir, dass ich unmöglich der Vater ihres Kindes sein kann.«
»Ich bin nicht deine Mutter, Piers.« Margaret schlug einen neutralen Ton an, doch der ernste Ausdruck ihrer Augen brachte ihn zum Schweigen. »Aveline, wasch dir das Gesicht, bevor wir gehen.«
Ein hastiges Klopfen ertönte an der Tür zur Küchentreppe. Anne huschte herein und sah etwas, was sie noch nie zuvor erlebt hatte - eine verletzbare, schwache Aveline. Sie warf Anne einen Hilfe suchenden Blick zu und stürzte zur Kleiderkammer. Kurz darauf hörten sie die unmissverständlichen Geräusche, wenn sich jemand erbricht.
»Piers«, sagte Margaret, »du wirst mich zur Kapelle begleiten. Und du, Anne, bringst Aveline nach, wenn es ihr wieder besser geht.« Piers würdigte Anne keines Blickes, als er wütend an ihr vorbeistapfte, gefolgt von Margaret, die ihr neues Stundenbuch anmutig in den Händen hielt.
In der nachfolgenden Stille hörte Anne, dass Aveline sich erneut übergab. Geistesgegenwärtig tauchte sie ein Tuch in die Messingschüssel und trat schweigend neben das ältere Mädchen, das sich über das stinkende Loch in der Kleiderkammer beugte.
Aveline hob das Gesicht und sagte verbittert: »Du wirst es sowieso bald erfahren, Anne. Ich bekomme ein Kind von Piers.« Ihr Magen rebellierte aufs Neue, doch es kam nur noch dünner, grünlicher Schleim. Anne tupfte Avelines Stirn mit dem kühlen, feuchten Tuch ab, bevor diese protestieren konnte.
Anne schauderte. Sie selbst hätte jetzt in dieser Klemme stecken können - wie dicht sie beide am Rand des Abgrund standen! Und all das nur wegen Piers. Wahrlich, diese Stadt war ein wüster Ort, viel Furcht erregender als die unbefestigten Wege und wilden Tiere ihrer Heimat. Die töteten, weil sie Hunger hatten, aber sie vernichteten nicht Leben aus reinem Vergnügen wie Piers. Aveline befand sich in einer schrecklichen Situation, ihre eigene Zukunft und die ihres Kindes waren völlig ungewiss. Vielleicht jagte man sie davon, wie Piers gesagt hatte, und wer sollte ihr dann helfen?
Mitfühlend küsste Anne Aveline sanft auf die Stirn. »Ich werde für dich und das Baby beten, Aveline. Irgendwo gibt es immer Hilfe.«
Arme Aveline. Es war bestimmt lange her, dass jemand aufrichtig freundlich zu ihr gewesen war. Ihre Fassade des Stolzes, hinter der sie sich bisher versteckt hatte, begann zu bröckeln, und Anne bemerkte, zum ersten Mal, dass Aveline kaum älter war als sie - und viel unsicherer.