Kapitel 30
Als Anne am düsteren Nachmittag des darauf folgenden Tages die Wärme und Helligkeit des Schlosses hinter sich ließ und mit ihren Reisegefährten aufbrach, war sie von einem Gefühl der Einsamkeit und des Kummers erfüllt.
Die vergangenen vierundzwanzig Stunden waren sehr betriebsam gewesen, da die Königin darauf bestanden hatte, dass Anne vor ihrer Abreise noch den Vorrat an Salben und ihres Haarbleichungsmittels auffüllte.
Deshalb war es schon weit nach der Mittagsstunde - Elizabeth war angekleidet worden und empfing zusammen mit dem König Weihnachtsgäste vom Hofe Burgunds -, als Jehanne mit Anne zur Zofenstube eilte, wo diese ihre wenigen Habseligkeiten in die kleine Truhe packte, die sie aus Blessing House mitgebracht hatte.
Als sich der Hofstaat zu einer zu Ehren der ausländischen Besucher stattfindenden Bärenhatz versammelte, eilten Jehanne und Deborah mit dem Mädchen zu den Stallungen und übergaben es den verlässlichen Händen von Sergeant Cage.
Eine edle, kastanienbraune Stute und ein kleiner Zelter mit einem hübschen roten Ledersattel und Zaumzeug standen für sie bereit. Jehanne hob besorgt die Augenbrauen, als sie das kostbare Geschirr und die edlen Pferde sah. »Wem gehören diese Tiere, Sergeant?«
»Keine Angst, Mistress, ihre Besitzerin ist froh, wenn sie nach London geritten werden. Sie brauchen beide Bewegung, und niemand wird sie vermissen«, erwiderte er lachend.
Sergeant Cage hatte zwei Probleme auf einen Streich gelöst. Eine der Hofdamen der Königin wollte mehrere ihrer Pferde, darunter auch den Zelter, bereits im Voraus nach
London bringen lassen, da sie mit der Königin zurückreisen würde und in Windsor keine Verwendung mehr für sie hatte. Cage war es deshalb durchaus recht, wenn Lizotte und Minette in die Hauptstadt geritten wurden. Außerdem konnten sich die Frauen John Slaughter anschließen, der die beiden anderen Pferde der Hofdame nach London bringen sollte. Seine königliche Uniform würde ihnen unterwegs Schutz gewähren.
Da die kleine Reisegruppe die verbleibenden Tagesstunden nutzen musste, fiel der Abschied vom Schloss recht kurz aus und ließ Anne kaum Zeit zum Nachdenken. Nachdem sie auf den Rücken des Ponys gehoben und ihr die kalten Zügel in die Hände gelegt worden waren, hüllte Jehanne sie fest in einen dicken Reisemantel ein.
»Lass möglichst immer die Kapuze auf, und John Slaughter soll in der Öffentlichkeit immer für euch beide sprechen. Bei diesem Wetter wird auf den Straßen nicht viel los sein, aber ihr müsst trotzdem gut aufpassen.«
Deborah lächelte, doch ihre Ruhe war nur vorgetäuscht. »John wird uns sicher nach London bringen, nicht wahr, John?«
John grinste fröhlich, wobei er seine bis auf einen einzelnen großen Schneidezahn zahnlosen Kiefer entblößte. Er hatte sich auf einen kalten, langweiligen Ritt nach London eingestellt und war froh, wenigstens jemanden zum Reden zu haben.
Trotz ihres Mantels zitterte Anne, als die kleine Reisegesellschaft aus dem Königstor hinausritt - nicht vor Kälte, sondern weil sie sich vorstellte, wie der König reagieren würde, wenn er von ihrer Abreise erfuhr. Sie sehnte sich von ganzem Herzen und mit ihrem ganzen Körper nach ihm. Die Sehnsucht erfüllte sie mit einem heißen, brennenden Schmerz, aber gleichzeitig schalt sie sich, weil sie solche Gefühle zuließ.
Männer, und vor allem der König, waren anders als Frauen - so viel wusste sie. Sie konnten mehrere Frauen gleichzeitig begehren oder lieben, das hatte sie viele Male am Hof erlebt. Sie aber musste ihr eigenes Leben leben, musste mit ihrem seltsamen Schicksal ins Reine kommen und sich den Verlockungen des Fleisches entziehen, um einen kühlen Kopf bewahren und vernünftig handeln zu können. Vielleicht würde sie den König niemals wiedersehen, und vielleicht war das auch gut so, obwohl sich ihr Herz bei diesem Gedanken qualvoll zusammenzog.
Als sie die Stadtgrenze passierten, murmelte sie entschlossen ein Gebet. Sie betete zur Mutter des Schwertes, obwohl sie ihr Kruzifix dabei berührte. Sie bat sie um Kraft und Führung für ihre nächsten Schritte und für ihr Leben ...
Im Lauf des Nachmittags wurde es immer kälter. Die Reisenden ritten gen Süden. Ihr Ziel war ein Klarissinnenkloster in einem Dorf auf halbem Weg zwischen Windsor und London. Die Frauen wollten die Nacht in einer der Gästezellen des Klosters verbringen, während John mit den Pferden in einem Gasthaus im Dorf absteigen sollte, denn männlichen Lebewesen jeglicher Art, einschließlich männlichen Tieren, war der Zutritt zum Kloster verwehrt.
Zum Glück hatte die eisige Kälte dafür gesorgt, dass der lehmige Untergrund der Straßen gefroren war, was wenigstens das Reiten auf dieser anstrengenden Reise erleichterte. Von Osten wehte ein schneidender Wind, und Anne hatte Mühe, sich an die kurze Gangart ihres Reittiers zu gewöhnen. Das kleine Pferd liebte es offenbar zu traben, so dass sie zügig vorankamen. Aber der holpernde Gang der kleinen Hufe auf dem steinharten Boden war nach einigen Stunden fast unerträglich.
Die Zeit verstrich, die spärliche Helligkeit dieses kurzen, düsteren Nachmittags begann zu verblassen, und noch immer sahen sie keine einladenden Lichter vor sich. John
Slaughter gab sich alle Mühe, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Er war diesen Weg schon häufig geritten und kannte ihn gut, aber wegen des verspäteten Aufbruchs und ihres langsameren Tempos waren sie noch nicht so weit gekommen, wie er gehofft hatte. Seine Sorge galt vor allem dem Wald vor dem Nonnenkloster und dem dazugehörigen Dorf. Im Sommer war er ein Schlupfwinkel für Wegelagerer, die im Winter jedoch meist vor dem Wetter in ihre Häuser flüchteten.
Trotzdem war John nervös und nahm seine Aufgabe nicht leicht, vor allem jetzt, wo er die Verantwortung für zwei Frauen trug. Es machte ihm Sorgen, dass Anne auf dem kostbaren, kleinen Pferd wie ein Lady aussah. Vielleicht sollte er stehen bleiben und sie hinter sich auf seinen Wallach setzen, so dass sie nicht mehr wie ein einladendes Opfer für Raub und Erpressung wirkte. In diesem Moment hörte er das Schlagen von Hufen.
Er drehte sich um und erblickte eine kleine Reiterschar, die in scharfem Galopp auf sie zukam und den Abstand zwischen ihnen rasch verringerte. Im fahlen Abendlicht konnte er nicht erkennen, ob sie Uniformen trugen, aber er bemerkte das Glitzern einer Schwertklinge. Er spürte, wie ihn der Mut verließ.
»Ladies, reitet los - schnell! Folgt der Straße. Zum Kloster ist es nicht mehr weit. Los!« Er wendete sein Pferd und versperrte den Weg, so gut es ging. Deborah, die die Reiter ebenfalls bemerkt hatte, rammte ihre Fersen in Lizottes Seite und versetzte Annes Zelter einen Schlag auf die Flanke, sobald sie sich auf gleicher Höhe mit ihr befand.
»Mir nach!« Die beiden Tiere fielen in Galopp, als ahnten sie die Angst ihrer Reiter. Sie tauchten in die Dunkelheit ein, doch da, hinter einer Biegung, sahen sie in der Ferne einen schwachen Lichtschein. Ein Gebäude. Sie hörten die schlagenden Hufe hinter sich, und dann rief jemand Annes Namen und forderte sie auf, stehen zu bleiben.
Woher wussten sie ihren Namen? Erschrocken zogen die beiden Frauen die Köpfe ein und trieben ihre Pferde noch weiter an, obwohl sie einem Streitross im gestreckten Galopp niemals entkommen könnten.
Näher und näher kamen die Lichter, schon konnten sie eine Ansammlung von Gebäuden erkennen. Das Dorf! Aber die Männer waren ihnen dicht auf den Fersen, und das Donnern der Hufe auf der gefrorenen Erde kam immer näher. Gerade als sie aus dem Wald herauspreschten, wurde Anne von einem großen Mann auf einem noch größeren Pferd überholt. Er streckte die Hand aus, griff nach dem Zaumzeug des Zelters und schrie, sie solle stehen bleiben. Doch als er sich nach vorn beugte, versetzte sie ihm einen Schlag und traf ihn mitten ins Gesicht. Er wurde nach hinten gerissen und stürzte zu Boden. Sein Pferd stob in Panik davon und prallte mit dem Pferd eines anderen Reiters zusammen, der daraufhin ebenfalls abgeworfen wurde.
»Schnell!«, schrie Deborah. »Das Kloster!«
Anne warf einen kurzen Blick über die Schulter, sah, dass ihre Gefährtin, die dicht hinter ihr war, von zwei weiteren Reitern bedrängt wurde, und tat wie geheißen. Sie trieb ihr erschrecktes, kleines Reittier noch weiter an und stürmte auf das große Tor des Gebäudes vor ihr zu.
Und sah, dass die Nonnen in diesem Augenblick die Torflügel zuzogen!
»Nein!«, schrie Anne. »Wartet! Bei Gottes heiligen Knochen, wartet!« Gottlob schien eine der Frauen sie zu hören und schrie ihren Schwestern zu, die Torflügel wieder zu öffnen.
Anne und Deborah preschten hindurch, und die Torflügel wurden in letzter Sekunde direkt vor der Nase ihrer Verfolger zugeworfen. Mit einem lauten, dumpfen Knall fiel der mächtige Eisenriegel in seine Halterung.
Die beiden Frauen sanken lehmverspritzt und keuchend auf die Hälse ihrer Pferde. Die Nonnen scharten sich um sie, einige hielten lodernde Fackeln hoch und stießen erstaunte Rufe aus.
»Was soll dieser Aufruhr?« Die Stimme klang vornehm und kühl, ein wenig nasal und sehr beherrscht.
Anne holte tief Luft und richtete sich als Erste wieder auf. Sie kannte diesen autoritären Ton. »Wir bitten um Nachsicht, ehrwürdige Mutter ...«
»Es ist nicht an mir, Nachsicht zu gewähren, noch ist das mein Titel. Ich bin die Subpriorin. Nun?«
»Verzeiht, Schwester, aber es blieb uns nichts anderes übrig, als auf diese Weise hier einzureiten. Wir wurden angegriffen«, sagte Deborah. Sie war immer noch außer Atem, hatte ihre Fassung aber wiedererlangt.
»Von wem wurdet ihr angegriffen?«
»Das wissen wir nicht. Nur dass wir mit unserem Geleitschutz durch den Wald kamen und uns eine Gruppe von Männern auflauerte. Sie müssen noch vor dem Tor sein.«
Die Nonnen hingen wie gebannt an ihren Lippen. So etwas Aufregendes war nicht mehr geschehen, seit drei Jahre zuvor die Krankenschwester mit einem Bettelmönch auf Wanderschaft durchgebrannt war. In diesem Augenblick ertönte ein mächtiges Dröhnen. Jemand klopfte laut ans Tor und zog heftig an der Pförtnerglocke.
Alle Augen richteten sich auf die Subpriorin. »Schwester Michael, steht nicht einfach da, sondern seht nach, wer klopft. Aber schnell.« Schwester Michael war ein korpulentes Mädchen vom Land, eine Laienschwester, die ins Kloster geschickt worden war, als ihre Familie nicht länger für sie aufkommen konnte. Ihr und einer anderen Schwester oblag es, während des Tages die Pforte zu hüten und nachts das Kloster abzuschließen. Schwester Michael schluckte und ging zu einer verschlossenen Luke in der Mauer, durch die die Schwestern gewöhnlich Kontakt zur Außenwelt hielten. Das Hämmern hatte aufgehört, aber die Glocke wurde immer noch energisch geläutet.
»Wer da?«, fragte Schwester Michael und bemühte sich um einen strengen, Furcht einflößenden Ton.
»Ein Abgesandter, der mit dem Mädchen Anne sprechen möchte, das im Dienste der Königin steht.«
Neue Aufregung unter den Nonnen. Eine Dienerin der Königin? Welche war es? Schwester Michael sah die Subpriorin flehend an - was sollte sie antworten?
»Sagt uns, wer Ihr seid«, verlangte die Subpriorin.
»Ich und meine Männer stehen im Dienst von Sir Mathew Cuttifer. Wir sollen Mistress Anne nach London nach Blessing House geleiten. Ich habe eine Vollmacht dabei, Ihr mögt sie lesen.«
Anne konnte nicht an sich halten und brach in schallendes Gelächter aus. Sir Matthew hatte Wort gehalten - und sie hatte um ein Haar nicht nur einen, sondern gleich zwei seiner Leute getötet. Das war ein schöner Beginn ihrer neuen Beziehung.
»Zeigt uns die Vollmacht. Ihr könnt sie durch die Luke reichen.«
Ehrfürchtig traten die Nonnen zur Seite, als .die Subpriorin mit Anne und Deborah zu Schwester Michael ans Tor trat. Die Luke wurde einen Spalt geöffnet und eine Pergamentrolle hindurchgeschoben. Anne erkannte auf den ersten Blick das unversehrte Siegel von Sir Mathew, und als die Schriftrolle geöffnet wurde, sah sie seine sorgfältige Unterschrift »Sir Mathew Cuttifer, Baronet«. Das Schriftstück stammte tatsächlich von ihm, sie waren in Sicherheit.
Deborah nahm Anne glücklich in die Arme, dann blickte sie ein wenig schuldbewusst zur Subpriorin. »Ist es erlaubt, mit diesen Männern zu sprechen, Schwester?«
Die Subpriorin nickte unwillig. »Nun gut, Ihr mögt durch die Luke mit ihnen sprechen, aber wenn Ihr für heute Nacht Unterkunft begehrt, sollte Euer Gespräch kurz sein. Ihr könnt es morgen fortsetzen.« Sie drehte sich zu den wartenden Nonnen um und klatschte in die Hände. »Kommt, kommt, Schwestern, genug von diesem Unfug.«
Als sie mit den anderen Nonnen in der Dunkelheit verschwand, bekreuzigte sich Anne und holte tief Luft. Sie hatte Freunde! Sir Mathew glaubte ihr.
Sie sammelte sich und trat mit Deborah an die Luke. Die Anspannung fiel von ihr ab, und Ruhe und Zuversicht legten sich wie ein Mantel um sie. Trotzdem hatte ihre Stimme unter den höflichen Worten, die sie mit Mathews Männern austauschte, einen anrührenden, verletzlichen Beiklang, womit sie die Sympathie und den Respekt selbst jenes Mannes gewann, dessen Gesicht sie mit ihrer kleinen, entschlossenen Faust verwüstet hatte.
In dieser Nacht beteten die beiden Frauen gemeinsam vor ihren Lagern in der sauberen, spartanisch eingerichteten Gästezelle, die ihnen zugewiesen worden war. Anne hielt Deborahs Hand auch noch, als sie in Schlaf fiel. Sie träumte von ihrer Mutter: Ein Mädchen, jünger als sie, wandelte auf einer blumenübersäten Wiese, breitete lächelnd die Arme aus und rief sie liebevoll zu sich heim.