Kapitel 9
Selbst mitten im Sommer war es in der Kapelle von Blessing House kühl, und nun, im tiefsten Winter, glich der Raum einer Eishöhle. Um Platz für die Kapelle zu schaffen, war die Decke zwischen einem unbenutzten Hängeboden und einem geräumigen Kellerverlies herausgebrochen worden. Der Raum war groß und dunkel, doch über dem aufwändig gefliesten Boden erhob sich eine hübsche, kleine Chorempore, und im Hauptraum der Kapelle standen mehrere geschnitzte Eichenbänke für Mathew und seine Familie. Dahinter befanden sich mehrere Reihen einfacher Holzbänke für die Bediensteten: die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite.
Mathew war es ein großes Anliegen gewesen, seine Familienkapelle der heiligen Mutter Gottes zu widmen, und er hatte keine Kosten gescheut, ihr zu Ehren diesen schönen, farbenprächtigen Raum zu schaffen. Besonders stolz war er auf die modischen, teuren Fresken in flämischem Stil, die die Wand hinter dem Altar zierten. Sein Lieblingsgemälde zeigte die Vertreibung aus dem Garten Eden mit der bußfertigen Eva, die vom Satan in Gestalt einer verschlagenen Schlange verfolgt wurde. Bei dem anderen Fresko war er sich nicht sicher, ob er es wirklich mochte - es war so lebensecht gemalt, dass ihm unbehaglich wurde, wann immer er es betrachtete. Es stellte den leichten Weg der Erlösten und den schweren Weg der Verdammten am Tag des Jüngsten Gerichts dar. Mit unerbittlicher Miene warf der Herr die schreienden, nackten Gestalten - Männer, Frauen und Kinder - in die Arme der wartenden Teufel, wogegen die heilige Mutter, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Margaret aufwies, mitleidig versuchte, sich bei ihrem Sohn für die Verdammten zu verwenden.
Wie in Flandern und Italien üblich, hatte Mathew auch sich selbst und seine Familie in das Gemälde einarbeiten lassen. Es erfüllte ihn jedes Mal mit einem Anflug schuldbewusster Freude, wenn er sein Abbild und das seiner drei Frauen sowie das Gesicht von Piers und seiner im Norden verheirateten Tochter Alicia betrachtete. Sie alle knieten zu Füßen der Mutter Gottes und hatten die Augen auf Christus den Allmächtigen gerichtet, der in all seiner Herrlichkeit über ihnen thronte. Er hatte sich gefragt, ob es Gotteslästerung war, sich und seine Familie so nah vor Christus zu setzen, doch Vater Bartolph, sein Beichtvater und Familienkaplan, hatte ihn beruhigt.
Die Gemälde sollten darstellen, wie die Bußfertigen durch Vermittlung der heiligen Mutter Gottes in den Himmel kamen. Bestimmt würde die heilige Mutter verstehen, dass sein demütiger Wunsch, sich kniend vor ihrem Sohn zu sehen, allein Ausdruck seines dankbaren, ihrer Anbetung gewidmeten Herzens war. Zudem gab er als Hausherr ein erstrebenswertes Vorbild für die Dienstboten ab, wenn er und seine Angehörigen der heiligen Familie so nahe waren. Vater Bartolph meinte, die Gunst der heiligen Mutter gegenüber diesem Raum und seinem Besitzer zeige sich auch in den Farben, die trotz des Weihrauchs und des Qualms der Kerzen und Ollampen frisch geblieben waren.
Piers und Aveline knieten vor dem Altar, dazwischen Lady Margaret, die auf das Eintreffen ihres Gatten wartete und die Perlen ihres kostbaren Rosenkranzes aus Onyx abbetete.
Aveline zitterte vor Kälte und Anspannung und flehte stumm zur Mutter Gottes, sie möge ihre Gebete erhören. Sie würde verstehen, wie es war, sich allein in einer herzlosen Welt behaupten zu müssen. Das Leben war so ungerecht. Warum konnte sie keine Lady mit feinen Kleidern und einem zufriedenen Ehemann sein? Stattdessen war sie das uneheliche Kind eines kleinen Landedelmanns aus dem Westen. Ihr Vater hatte alles in seiner Macht Stehende getan und sie als Kind in Lady Margarets Elternhaus untergebracht. Sie war sehr anstellig gewesen und hatte sich über alle Maßen gefreut, als Margaret sie mit nach London nahm, als sie Master Mathew heiratete. Um ihrer Herrin zu gefallen, hatte sie sich mit den Jahren auch vornehmere Umgangsformen angeeignet. Und sie hatte bereits früh bemerkt, dass die Männer sie begehrten, aber nicht um ihrer guten Manieren, sondern um ihres Körpers willen. Mit Schläue und manchmal auch unter Einsatz körperlicher Kraft hatte sie sich die Männer vom Leib gehalten - was nicht immer leicht gewesen war -, bis Piers sie eines Tages mit Gewalt in sein Bett genommen hatte. Die ersten Male hatte sie sich verzweifelt gewehrt und
Bisswunden an den Brüsten und zerrissene Strümpfe davongetragen. Doch irgendwann änderte sich die Art ihres Kampfes, und wenn sie sich ihm heute unterwarf, hatte sie bei aller Pein und Angst auch lustvolle Empfindungen. In ihrem Herzen jedoch herrschten tiefe Verwirrung und Scham - aber sie musste ihr Schamgefühl unterdrücken, wollte sie überleben. Zudem ertrug sie die Vorstellung nicht, London verlassen zu müssen. Sie würde nicht zulassen, dass sie aufs Land zurückgeschickt wurde, um dieses Kind in Schande zu gebären. Dann würde sie als Schlampe gebrandmarkt werden und könnte sich in Zukunft in irgendeiner abgelegenen Stadt als Prostituierte durchschlagen.
Ihr Entschluss stand fest. Ja, mit Hilfe der heiligen Mutter Gottes würde sie einen Weg finden, Piers zu heiraten, auch wenn sie schwanger und ohne Mitgift war, aber sie hatte nichts zu verlieren. Sie würde eine Lady werden und dieses Kind behüten. Und sie würde für die Todsünden büßen, die Piers ihr aufgezwungen und an denen sie zum Schaden ihrer Seele Vergnügen gefunden hatte.
Aveline kniff die Augen zusammen und sprach eilig ein weiteres Ave Maria, um den Gedanken zu verdrängen, auf welches mörderische Unternehmen sie sich eingelassen hatte. Piers hasste sie aus vollem Herzen - würde sie ihn umstimmen können? Konnte Hass, wenn nicht in Liebe, dann wenigstens in Nachsicht verwandelt werden? Besaß sie die Kraft dazu? Unwillkürlich legten sich ihre Hände auf ihren Bauch und verweilten dort. Maria würde sie verstehen.
Leise trat Vater Bartolph ein und zündete die beiden großen Kerzen am Altar an. Dann öffnete der Priester das verzierte kleine Kästchen, das den Leib des Herrn barg. Mathew kam, kniete sich in seine Bank, bekreuzigte sich und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Piers bemerkte entsetzt, dass der Pfarrer in vollständiger Amtstracht erschienen war, als wollte er eine Messe abhalten. Er spürte den ernsten Blick von Vater Bartolph auf sich, als dieser sich der kleinen Gemeinde zuwandte.
»In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.«
Automatisch sprach Piers das Amen mit, während sich sein Magen aus Nervosität und Angst verkrampfte. In Margarets Sonnenzimmer hatte er Avelines Behauptung spontan von sich gewiesen, doch nun war er unsicher geworden. Er wusste, dass sein Vater nichts mehr verachtete als eine Lüge aus seinem Mund. Vielleicht hätte er seine Beziehung zu Aveline zugeben sollen - dann hätte er es hinter sich gehabt -, aber die Vaterschaft anzuerkennen, war ausgeschlossen. Das Mädchen war ein Luder, sonst hätte sie sich ihm gegenüber nicht so verhalten. Ihr gefiel, was er mit ihr anstellte, und es gab bestimmt genug andere im Haus, die sich bereits mit ihr vergnügt hatten.
Die Worte des Pfarrers unterbrachen Piers unruhiges Grübeln. »Aveline und Piers, bitte tretet vor den Altar.«
Das Mädchen erhob sich anmutig und stieg mit zierlichen Schritten die drei Stufen zum Altar hinauf, wo Vater Bartolph sie mit der Hostie in der Hand erwartete.
Piers, der die Blicke seines Vaters im Rücken spürte, blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls vor den Altar zu treten und sich neben Aveline zu stellen. Trotz seiner rasenden Wut entging ihm die zarte, weiße Schwellung ihres Brustansatzes nicht. Die Erinnerung an ihre letzte Begegnung, als sie mit weit gespreizten Beinen nackt vor ihm gelegen hatte, lenkte ihn einen Moment lang von der Ansprache des Pfarrers ab.
»Ich fordere euch auf, auf Gott und den Leib seines kostbaren Sohnes zu schwören. Lügt ihr, wird eure unsterbliche Seele zu Schaden kommen, und ihr werdet am Tag des Jüngsten Gerichts unweigerlich den Weg der Verdammnis nehmen und im ewigen Höllenfeuer schmoren.«
Unwillkürlich blickten Aveline und Piers zu dem Fresko auf und senkten beide eilig wieder die Augen angesichts dieser gar zu anschaulichen Darstellung.
»Aveline, du stehst hier vor Gott und der heiligen Mutter. Und du, Piers, stehst vor deinen irdischen Eltern, den Vertretern Gottes auf Erden.«
Das Mädchen zitterte und spürte erneut eine Welle der Übelkeit aufsteigen, obwohl sie seit dem Morgenmahl nach der Messe nichts mehr zu sich genommen hatte. Sie konnte das verbrannte Fleisch der im Höllenfeuer schmorenden Sünder förmlich riechen, ihre Schreie hören. Allein ihr eiserner Wille hielt sie auf den Beinen. Sie presste die Lippen zusammen, obwohl sie vor Verzweiflung am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Sie wusste, dass sie diese Schlacht gegen Piers gewinnen musste, sonst würde sie bereits hier auf Erden zu den Verdammten gehören.
Vater Bartolph hielt Aveline den Schrein mit der Hostie entgegen und bedeutete ihr, ihre rechte Hand darauf zu legen. »Aveline, du hast den Sohn deines Herrn der Vergewaltigung bezichtigt und behauptest, sein Kind unterm Herzen zu tragen. Im Namen Gottes und der heiligen Jungfrau und in Sorge um die Unsterblichkeit deiner Seele frage ich dich nun - bleibst du bei deiner Beschuldigung?«
Aveline starrte in die ernsten, braunen Augen des Pfarrers und sagte ohne Zaudern: »Ich schwöre bei der heiligen Mutter Gottes, bei ihrem kostbaren Sohn und bei Gott dem Herrn, dass Piers der Vater meines Kindes ist und dass er mich gegen meinen Willen genommen hat.«
Nun hielt der Pfarrer Piers den Hostienschrein entgegen, der widerwillig die rechte Hand auf das kalte Metall legte. »Piers, du hast Avelines Schwur vernommen. Sagst du immer noch, vor deinem Vater auf Erden und deinem Vater im Himmel, dass sie lügt?«
Piers war kein religiöser Mensch, aber er war abergläubisch. Als er nun vor dem Altar stand, über ihm die nackten Männer und Frauen, die in die Hölle stürzten, wo sie von Dämonen mit Mistgabeln empfangen wurden, stellte er entsetzt fest, dass er die Worte der Verleugnung nicht über die Lippen brachte.
»Piers, ich frage dich noch einmal. Im Namen des Vaters, seines Sohnes und seiner heiligen Mutter, bist du der Vater von Avelines Kind?«
»Wenn sie schwanger ist, könnte das Kind von mir sein, denn ich habe sie beschlafen. Aber sie ist ein Luder und ist freiwillig zu mir gekommen, nachdem viele andere arme Narren sie gehabt haben. Auf den Knien hat sie mich angefleht ...«, stieß er gequält hervor.
»Genug! Dies ist ein Gotteshaus.« Mathews angewiderter Aufschrei ließ Piers verstummen. Bevor der Pfarrer es verhindern konnte, trat Mathew zum Altar und begann auf seinen Sohn einzuschlagen. In diesem Augenblick verlor Aveline das Bewusstsein und kam mit der Stirn so hart auf den Steinstufen auf, dass das Blut über den hellen Marmor spritzte.
Der Pfarrer war wie gelähmt von dem Szenario, das sich vor seinen Augen abspielte, während Lady Margaret die Fassung behielt. »Mathew!«, sagte sie scharf, worauf alle drei Männer sich zu ihr umwandten. Lady Margaret kniete neben dem ohnmächtigen Mädchen und sprach mit ruhigem Ton weiter.
»Piers, du gehst hinauf ins Sonnenzimmer und bittest Anne herunter. Sie soll Leintücher und Wasser mitbringen.« Der junge Mann wandte sich zum Gehen. »Und dann wartest du auf deinem Zimmer, bis du gerufen wirst. Vater Bartolph, Euch bitte ich, für uns alle zu beten«, fügte sie hinzu.
Schweigend nickte der Pfarrer, ehe er erleichtert bemerkte, dass sich das Mädchen rührte.
»Mathew, es gibt eine Menge zu besprechen. Darf ich Euch in Kürze in Eurem Arbeitszimmer aufsuchen?«
Nicht zum ersten Mal bewunderte Mathew die Umgangsformen seiner Frau. Schon als Kind hatte sie gelernt, schwierige Situationen mit Fassung und Takt zu meistern. Sie gab ihm die Sicherheit, das Richtige in Würde zu tun, wenn er sie am nötigsten brauchte. »Ich werde Euch erwarten«, erwiderte er. Dann strich er sein Gewand glatt und verließ die Kapelle, ohne das bleiche Mädchen, das von seiner Frau gestützt wurde, eines weiteren Blickes zu würdigen.
Einen Augenblick später hastete Anne mit einer Waschschüssel den Flur entlang. Sie knickste und drückte sich an die Mauer, um Mathew vorbeizulassen, sorgsam darauf bedacht, kein Wasser zu verschütten. Doch Mathew nahm sie nicht einmal wahr, als er tief in Gedanken versunken seinem Arbeitszimmer zustrebte.
Mit der Messingschüssel im Arm klopfte Anne an die Tür zur Kapelle, die ihr leise von Vater Bartolph geöffnet wurde. Er deutete auf die zwei Frauen zu Füßen des Altars. Anne war zutiefst entsetzt, als sie Aveline mit totenbleichem und blutverschmiertem Gesicht daliegen sah. Schnell eilte sie an die Seite ihrer Herrin, während der Pfarrer sich in die Sakristei zurückzog.
Anne kniete neben Lady Margaret auf dem kalten Steinboden nieder und begann unaufgefordert, Avelines Gesicht mit einem feuchten Tuch abzutupfen. Lady Margaret war überaus erleichtert, dass sie nichts sagen und keine Fragen beantworten musste, und beobachtete die stille, sachkundige Art, mit der Anne vorging.
Aveline konnte weder weinen noch sprechen. Sie lag in Lady Margarets Schoß und zeigte keinerlei Regung, als Anne das Blut wegwischte und das Tuch fest auf die Platzwunde auf ihrer Stirn drückte.
»Lady Margaret, soll ich Aveline ins Sonnenzimmer bringen? Ich könnte dort das Tuch wechseln und ihr einen Verband anlegen. Die Blutung wird bald aufhören.«
Lady Margaret nickte erschöpft. Die beiden Frauen fass- ten das Mädchen um die Taille und hoben sie hoch. Aveline schwankte ein wenig, als trügen ihre Beine sie noch nicht richtig, deshalb legte Anne einen Arm um ihre Hüfte, um sie zu stützen. Dankbar lehnte Aveline sich an ihre Schulter, und die beiden gingen langsam hinaus.
Im Sonnenzimmer lag Aveline mit offenen Augen auf ihrem Lager, ohne ein Wort zu sagen. Mit Annes Hilfe hatte sie es bis nach oben geschafft, ehe sie zusammengebrochen war. Sie war nicht dumm, aber nach diesem Vormittag war ihr klar, wie naiv sie gewesen war. Gewiss, Mathew Cuttifer war ein gerechter Mann, doch er würde sie wohl kaum als Schwiegertochter akzeptieren. Das hatte ihr seine Miene deutlich verraten. Sie und das Kind stellten ein Problem für ihn dar, das sich mit seinem Gewissen und seiner Ehre schlecht vertrug. Aber Mitleid hatte sie nicht erkennen können, nur Zorn über das Verhalten seines Sohnes. Ihre einzige Hoffnung auf eine Heirat und einen Namen für ihr Kind lag nun bei Lady Margaret. Sie schloss die Augen und fühlte sich so verlassen wie nie zuvor. Sie war entschlossen, in Annes Gegenwart keine Schwäche zu zeigen, deshalb drehte sie sich zur Wand und versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Bald darauf schlief sie vor Erschöpfung ein.
Vorsichtig legte Anne eine zusätzliche Decke über das schlafende Mädchen, das im hellen Licht des Spätvormittags sehr jung und verletzlich aussah. Gerührt beobachtete sie, wie Aveline sich im Schlaf umdrehte und kurz lächelte, wobei die Spannung aus ihrem Gesicht wich und sich ihre Augenbrauen einen Moment lang glätteten.
Für Piers gab es keinen seligen Schlaf. Er ging in seinem Zimmer auf und ab und versuchte, sich über die Situation klar zu werden. Was würde sein Vater beschließen? Für Mathew Cuttifer gab es nichts Schlimmeres, als seinen Gott zu beleidigen. Seine krankhafte Angst, sich zu versündigen, war in Piers' Kindheit immer bedrückend gegenwärtig gewesen. Außereheliche Fleischeslust war für Mathew ganz besonders verabscheuenswürdig, möglicherweise weil er sie sich selbst versagte.
Schon seit vielen Jahren war Piers einer Verheiratung erfolgreich aus dem Weg gegangen und hatte es verstanden, seinen fleischlichen Vorlieben im Verborgenen zu frönen. Dies war sein einziges Aufbegehren gegen den Vater, der den Lebensweg seines einzigen Sohnes strikt festgelegt hatte.
Vor Aveline hatte er bereits zwei andere Mädchen gehabt, beides ehemalige Mägde in seines Vaters Haus, und er beglückwünschte sich dafür, wie elegant er sie aus seinem Leben verbannt hatte, als das Unvermeidliche geschehen war. Das war einer der Gründe, warum er ganz junge Jungfrauen bevorzugte. Sie waren ihm niemals gewachsen, was Willenskraft und Klugheit anbetraf, und verliebten sich regelmäßig in ihn. Er ermutigte sie sogar noch dazu, weil es somit weniger wahrscheinlich war, dass sie sich mit anderen Männern einließen, was das Risiko schmälerte, sich eine Krankheit zu holen und ihn damit anzustecken.
Doch Aveline war anders gewesen. Wäre er jetzt nicht so wütend und ängstlich, bewunderte er sie beinahe dafür, mit welcher Berechnung sie ihren einzigen Trumpf ausgespielt hatte. Er war sich fast sicher, dass sie nicht mit anderen Männern zusammen gewesen war, seit er sie das erste Mal genommen hatte.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. »Was ist?«, fauchte er. Nach kurzem Zögern ging die Tür auf, und John, sein Leibdiener mit der Zahnlücke, stolperte herein.
»Sir, Euer Vater bittet Euch in sein Arbeitszimmer.«
Ein sorgfältig gezielter Zinnkrug traf John prompt seitlich am Kopf. Der junge Mann schnappte nach Luft und stürzte, eine Hand am Ohr, zu Boden. Er spürte Blut heraussickern, sagte aber nichts. Wenn sich sein Herr in einer solchen Stimmung befand, war das Schlimmste zu befürchten.
»Idiot! Geh mir aus den Augen und richte meinem Vater aus ... sag ihm ...«
Der kniende Knabe machte Piers nur noch wütender. Er änderte seine Meinung und ging zur Tür, wobei er dem Knaben noch einen kräftigen Tritt versetzte. »Wenn ich wiederkomme, ist dieses Zimmer makellos aufgeräumt. Makellos! Hast du gehört? Sonst kannst du was erleben.« Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
John holte tief Luft und stand auf. Er rieb sich den Rücken und suchte einen Lappen, um sich das Blut abzuwischen. Er würde das Zimmer aufräumen und gründlich putzen - und jede Sekunde daran denken, wie er dieser verfluchten Anstellung beim Sohn des Hauses entkommen könnte.
Auch Mathew Cuttifer durchmaß sein Zimmer, während er sich anhörte, was seine Frau zu sagen hatte. Lady Margaret saß auf einem kunstvoll geschnitzten Hocker und analysierte die Situation zwischen Piers und Aveline.
»Seit mindestens acht Jahren suchen wir nach einer Braut für Piers, Mathew, aber es ist nie ein Ehevertrag zustande gekommen. Ich weiß, dass das erste Mädchen starb und das zweite sich für das Klosterleben entschied. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass eine Reihe ehrbarer Familien nicht gewillt waren, ihre Töchter Eurem Sohn anzuvertrauen. In jedem anderen Fall hätte ich gesagt, es war Pech oder das Ergebnis übler Nachrede - doch nun frage ich mich, ob es nicht Gottes Wille war.«
Mathew runzelte die Stirn, als ihm klar wurde, worauf seine Frau hinauswollte. Er war wenig geneigt, sich den Schlussfolgerungen ihrer Überlegungen zu stellen. Diese Eheverträge - sie verursachten so viel Kummer, doch in unsicheren Zeiten waren familiäre Verbindungen eine wichtige Waffe im Kampf ums Überleben. Er hatte für seinen Sohn stets eine exzellente Partie im Auge gehabt, die seinem Haus Ehre und Vermögen einbringen sollte. Doch nun ...
»Mathew?«
Er drehte sich zu Margaret um und war einen Moment lang von ihrer Schönheit so geblendet, dass er vergaß zu antworten.
Sie lächelte. »Mein Lieber, ich bin wahrlich eine glückliche Frau.«
Er seufzte tief. »Und du glaubst, dass das Kind von ihm ist?«
»Ja, mein Gemahl. Und nun musst du entscheiden, was Gott von uns erwartet.«
Mathew seufzte wieder. Margaret hatte Recht, er musste Gott um Rat fragen. Unwillig kniete er auf seinem Betstuhl nieder - würde er Gottes Willen annehmen können?
Piers trat vor die Tür des Arbeitszimmers und wartete einen Moment, ehe er klopfte. Er musste sich überlegen, was er sagen wollte. Sein Vater brauchte seine Unterstützung bei seinen Geschäften in Blessing House, trotzdem machte er sich keine falschen Hoffnungen. Einer Strafe würde er wohl kaum entgehen, sollte Mathew Avelines Worten Glauben schenken. Die Frage war nur, welche Art von Strafe er zu erwarten hatte.
Die vom Alter geschwärzte Tür vor ihm glänzte. Wie oft hatte er mit einem Stein im Magen hier gewartete, bis sein Vater ihn hereingerufen hatte? Angst, vermischt mit Wut, das bedeutete diese Tür für ihn. Er zögerte einen weiteren Augenblick, dann klopfte er entschlossen an. Er war ein Mann, kein Kind mehr.
Margaret öffnete und bedeutete ihm leise einzutreten, da sein Vater noch im Gebet verharrte. Missmutig ging Piers zum Kohlebecken, hielt seine Hände über die schwache Glut und wartete, dass sein Vater seine Gebete beendete.
Margaret saß mit geradem Rücken auf ihrem Stuhl, nahm das kleine Stundenbuch zur Hand, das der König ihr geschenkt hatte, und blätterte behutsam durch die Seiten, um nach den passenden Gebeten für schwierige Zeiten wie diese zu suchen. Es war für alle Beteiligten eine höchst unerfreuliche Situation, und sie musste ihre Seele besänftigen, um sich auf die Auseinandersetzung einzustellen, die unweigerlich folgen würde.
Das Schweigen breitete sich aus. Es gab keinen Platz, wo Piers sich hätte setzen können, und er wurde immer ungeduldiger und unruhiger - wie lang wollte sein Vater denn noch beten?
Mathews regloses Profil zeichnete sich gegen das winterliche Licht ab, das durch die kleinen Scheiben fiel. Ganze fünfzehn Minuten waren vergangen, und obwohl Mathew noch tief ins Gebet versunken war, drangen die Glocken der Abtei an sein Ohr und ermahnten ihn, dass sein Zwiegespräch mit dem Erlöser beendet war. Er wusste nun, was er zu tun hatte. So rasch es ihm der brennende Schmerz in seinen Knien erlaubte, erhob er sich, nickte seinem Sohn beinahe freundlich zu und trat vor seinen Schreibtisch. Er fühlte sich seltsam ruhig.
»Piers, ich habe Gott um Rat gefragt in dieser Angelegenheit mit... Aveline« - seltsam, wie sich dieses Mädchen von einer Dienerin zu einer Frau von Belang gewandelt hatte - »und dem Kind. Und ich denke, Gott hat mir den richtigen Weg gewiesen.«
Trotz der Kälte im Zimmer brach Piers der Schweiß aus.
»Es ist Gottes Wille, dass du und das Mädchen heiraten. Nein ...« Er hob die Hand, als Piers zum Sprechen ansetzte. »Ich behaupte nicht, dass dieses Mädchen die Braut ist, die ich für dich ausgesucht hätte. Eine Dienerin ohne Mitgift, aber haben sich nicht auch Ruth - und selbst Hagar - vor Gott würdig erwiesen, obgleich sie nur einfache Frauen waren? Unser Herr hat mir gesagt, dass dieses Kind von dir ist. Es ist an der Zeit, dass du dich deiner Verantwortung stellst. Als Vater dieses Kindes und als mein Sohn.«
Margaret sah die unerbittliche Miene ihres Gatten und Piers' zornig gerötetes Gesicht, und obwohl sie die Entscheidung guthieß, hatte sie Angst. Piers war kein Knabe mehr - auch wenn Mathew ihn so behandelte. Was sie sah, war der Zorn eines Mannes, eines rachsüchtigen Mannes.
Doch Mathew war so darum bemüht, Gottes Willen zu übermitteln, dass er den Ausdruck auf dem Gesicht seines Sohnes nicht sah. »Diese ... Aveline und du, ihr werdet miteinander auskommen. Das hat Gott mir gesagt. Ihr seid seelenverwandt, und ich glaube, sie ist ein kluges Mädchen.« Er sah seine Frau Zustimmung heischend an. Margaret nickte. »Und sie wird dir eine gute Stütze sein. Sie wird mit der harten Arbeit in einem Kaufmannshaus besser zurechtkommen als manche der vornehmen jungen Damen vom Hofe, die wir für dich in Betracht gezogen haben. Außerdem wäre es für mich und die meinen eine Schande, wenn ein Bastard meines Hauses auf die Straße geworfen werden würde.« Wieder versuchte Piers zu sprechen. »Nein! Du wirst mich zu Ende anhören!«, fuhr Mathew fort.
»Du hast gesündigt und musst dafür Buße tun. Ich werde deine Stiefmutter bitten, Aveline meine Entscheidung mitzuteilen. Ihr müsst euch auf die Hochzeit vorbereiten. Heute Abend werde ich vor dem versammelten Haushalt eure Verlobung bekannt geben, und wir werden Vater Bartolph ersuchen, die Verlobungsmesse noch heute abhalten zu dürfen.«
Jetzt endlich gelang es Piers, seinen Vater zu unterbrechen. »Vater, ich werde dieses Luder niemals heiraten. Woher weiß ich überhaupt, dass das Kind von mir ist?«, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Schweig! Du gibst deine unsterbliche Seele dahin, wenn du Gottes Willen missachtest! Dies ist mein Haus, ich bin dein Vater auf Erden, aber dein höherer Vater ist im Himmel. Wenn du meinem Willen trotzt, wirst du auf ewig verdammt sein. Ich werde dich meines Hauses verweisen und dieses Kind an deiner Statt aufziehen.«
Die beiden Männer starrten einander an, bis Piers wie gewohnt als Erster die Augen senkte. Margaret jedoch war zutiefst beunruhigt, denn die Miene des jungen Mannes verriet nicht Angst, sondern Hass. Und plötzlich sah ihr energischer Gemahl alt und hilflos aus. Eilig sprang sie in die Bresche.
»Piers, ich schlage vor, du gehst wie üblich deinen Geschäften in Blessing House nach. Es gibt viel zu tun. Wir werden später noch einmal darüber sprechen, nach dem Abendgebet, wenn wir uns alle ein wenig beruhigt haben.«
Ohne ein weiteres Wort verließ Piers das Zimmer und schlug mit einem gewaltigen Krachen die Tür hinter sich zu, während Mathew sich erschöpft auf seinen Arbeitsstuhl sinken ließ. Margaret trat zu ihm und berührte sanft seinen Arm.
»Nun, das Schlimmste ist überstanden. Natürlich wird es böse Zungen geben, aber die werden bald ein anderes Thema gefunden haben. Wir müssen stolz sein und schweigen. Keine unnötigen Erklärungen.«
Wortlos nickte er, ohne die Augen zu öffnen. Er spürte ihren zarten Kuss auf seinen Lippen und schlang die Arme um sie, ohne sich zu schämen, dass sie seine Bestürzung und Unsicherheit sah.
In einem großen Haus machen Neuigkeiten schnell die Runde. Vielleicht hatte der Pfarrer eine Bemerkung fallen lassen, als er nach der Messe seinen Krug Bier in der Küche trank, oder es lag an Piers Gesichtsausdruck und seinem boshaften Verhalten gegenüber dem jüngsten Stallknecht - jedenfalls waren alle gespannt, ob sich die Gerüchte bestätigen würden, als sich die Hausgemeinschaft am Ende eines betriebsamen Tages zum Abendgebet in der Kapelle versammelte.
Für Anne war der Tag nicht leicht gewesen, denn sie war von allen Seiten neugierig bedrängt worden, selbst Jassy hatte sich herabgelassen, sie nach den Ereignissen in der Kapelle zu fragen. Doch aus Mitleid für Aveline und aus Angst vor Piers hatte sie eisern geschwiegen.
Aveline hatte den Nachmittag wie in Trance verbracht. Als sie nun, nach dem Abendsegen von Vater Bartolph, Mathew ihren Namen sagen hörte, erhob sie sich schwankend von ihrem Platz neben Anne und ging, der gaffenden Blicke der Dienerschaft bewusst, mit unsicheren Schritten auf Piers zu.
Auch Piers hatte sich erhoben und stand neben seinem Vater und Lady Margaret vor dem Altar. Er stand mit dem Rücken zur Gemeinde da, das Gesicht starr wie Stein. Nachdem das Mädchen seinen Platz neben Piers und seinen Eltern eingenommen hatte, räusperte sich Vater Bartolph nervös und wollte gerade mit der Verlobungszeremonie beginnen, als Mathew ihn mit erhobener Hand unterbrach.
»Ihr Leute von Blessing House, heute Abend haben wir Grund zum Feiern. Hier stehen mein Sohn Piers und Aveline, die Leibzofe eurer Herrin, Lady Margaret. Wir haben beschlossen, dass die zwei den Bund der Ehe eingehen sollen, und Vater Bartolph wird gleich die für diesen Anlass entsprechenden Gebete sprechen und das Aufgebot verlesen. Die Hochzeit wird in Kürze stattfinden und die beiden als Mann und Weib vereinen. Wir bitten Gott um seinen Segen für diese Verbindung.«
Ein Murmeln erhob sich unter den Versammelten, doch die strenge Miene Mathews brachte sie im Handumdrehen zum Verstummen. Dann gab er dem Pfarrer ein Zeichen. Hastig bedeutete Vater Bartolph Aveline und Piers niederzuknien und brabbelte mit zitternder Stimme unverständliche lateinische Worte.
Im rückwärtigen Teil der Kapelle saß Anne und presste die Hände so fest zum Gebet zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie holte tief Luft. Dies war doch der Augenblick, der sie von ihrer Angst vor Piers befreien sollte, warum also empfand sie trotzdem so ein Entsetzen und wurde von so düsteren Gedanken geplagt? Sie senkte den Kopf, damit die anderen ihre Erregung nicht sehen konnten, und konzentrierte sich auf die Worte des Pfarrers.
Alsbald waren die Gebete gesprochen, und die Gemeinde erhob sich. Das frisch verlobte Paar fasste sich an den Händen und verließ hinter Mathew und seiner Frau die Kapelle. Dann folgten nach ihrer Stellung die Angestellten und Dienstboten, die nichts zu sagen wagten, bis sie den privaten Trakt des Hauses hinter sich gelassen hatten.
Avelines Finger waren kalt, Piers' Hand hingegen warm. Doch kaum hatten sie die Kapelle verlassen, ließ er ihre Hand los und warf ihr einen Blick zu, bei dem sich ihr Magen zusammenkrampfte. Er ging auf sein Zimmer und ließ sie allein in der großen Empfangshalle zurück, wo sie den gehässigen Blicken der vorbeieilenden Hausangestellten ausgesetzt war.
Anne, die als Letzte aus der Kapelle kam, erkannte die Verzweiflung, die sich hinter Avelines stolzer Miene verbarg. Ihr starrer Gesichtsausdruck machte das volle Ausmaß ihrer Erniedrigung deutlich, die sie empfand, und doch lag eine einsame Größe in ihrer Weigerung, sich umzudrehen und sich den spöttischen Blicken der anderen zu entziehen. Stattdessen reckte sie ihr gerötetes Gesicht und erwiderte sie mit unbeugsamen Trotz.
Anne eilte zu Aveline. Sie deutete einen kurzen, aber unmissverständlichen Knicks an, nahm vorsichtig den hinteren Saum ihres Kleides und hielt ihn wie ein Schleppe. Wohlwollend beobachtete Lady Margaret diese freundliche Geste.
»Aveline, Master Mathew und ich bitten dich, uns ins Sonnenzimmer zu folgen. Wir haben viel zu bereden. Anne wird dir aufwarten.« Margarets Stimme war wie ein Tau, das einem Ertrinkenden zugeworfen wird. Trotzdem besaß Aveline genug Einfühlungsvermögen und Würde, sich anmutig vor ihrer zukünftigen Schwiegermutter zu verneigen. Dann führte ihre einstmalige Herrin sie die Treppe zum Sonnenzimmer hinauf, während Anne die »Schleppe« ihres Kleides hielt, als handelte es sich um ein Krönungsgewand. In der Ferne war ein dumpfes Grollen zu hören. Es würde eine kalte, stürmische Nacht geben.