Kapitel 1
Die Entbehrungen der Fastenzeit hatten die Faschingsvöllerei in Vergessenheit geraten lassen, und auf dem Fluss brach das Eis. Vom Schmelzwasser aus den weit entfernten Bergen im Westen schwoll die Themse an, und London erwachte aus einem langen, kalten Winterschlaf. Vor der Stadtmauer reckten die ersten Schneeglöckchen ihre Köpfe empor, und die Menschen warteten ungeduldig auf den Frühling und die Karwoche, denn kurz darauf kam der erste Mai und mit ihm die Wärme.
Anne war zu durchgefroren und aufgeregt, um von der langen Reise müde zu sein. Die Erinnerung an den stillen Winterwald, aus dem sie gekommen war - war es wirklich erst sechs Tage her? -, erschien ihr beinahe unwirklich angesichts des Lärms und des Gedränges inmitten dieses Gewirrs aus Häusern und Straßen.
In der Morgendämmerung des siebten Reisetages ging sie mit Deborah über die London Bridge. Mit ihnen strebte eine lärmende Menschenmenge auf die Stadt zu, wo alle etwas zu erledigen hatten. Die zwei Frauen kamen nur langsam voran. Sie versuchten, sich nicht von dem zerfallenen, steinernen Gehweg drängen zu lassen, der sich eng an die Mauern der überhängenden Häuser und Läden schmiegte. Nur auf dem Gehweg waren sie vor den Reitern und Fuhrwerken auf der von Schlamm, Urin und Mist verunreinigten Straße sicher.
Der Gestank und der Lärm setzten Anne sehr zu. Nie zuvor hatte sie so viele Bettler mit in Lumpen gewickelten Füßen, offenen Wunden und verstümmelten Körpern gesehen. Auch war sie noch nie einem Fremden so nah gekommen, dass ihr der Gestank seiner fauligen Zähne in die Nase stieg, wenn er einem Kumpanen in der Menge etwas zurief. Anne hatte keine Angst vor Krüppeln - es gab wohl kaum einen Menschen, der in seiner Kindheit nicht Bekanntschaft mit Narben und Verletzungen gemacht hätte -, doch hier schien fast jeder Dritte in irgendeiner Weise missgestaltet zu sein. Deborah erklärte ihr, viele von ihnen seien Veteranen aus den Kriegen in England und Frankreich.
»Kümmert sich denn niemand um sie? Vielleicht der König?«, fragte Anne erstaunt.
Deborahs Antwort ging im Lärm einer bewaffneten Reiterschar unter, die sich fluchend einen Weg durch die Menge bahnte und die Menschen zwang, sich mit einem Sprung vor den trampelnden Hufen zu retten. Anne wunderte sich über ihr derbes Benehmen und die gefühllose Art, mit der sie die Leute mit Peitschen auseinander trieben, um Platz für ihre Pferde zu schaffen. Wurden gewöhnliche Leute wie Vieh behandelt, nur weil sie arm aussahen?
Bis zu diesem Tag hatte sie sich nie als arm betrachtet. Doch als sie die Londoner betrachtete, sah sie, dass ihre eigenen Kleider - die Stadtkleidung, die Deborah mit so viel Liebe und Mühe geschneidert hatte - schlicht und trist aussah im Vergleich mit den juwelenbesetzten Samtröcken, den üppigen Fellmänteln und Seidengewändern der Männer und Frauen, die erhobenen Hauptes in die Stadt ritten.
Dort, wo sie herkam, gab es kaum Münzgeld, doch es spielte keine Rolle, da es ohnedies nicht viel zu kaufen gab. Die Menschen bauten ihre Nahrung selbst an, webten ihre eigenen Stoffe und nähten ihre Kleidung selbst. Keiner musste auf den anderen neidisch sein. Alle besaßen ungefähr gleich viel. Doch London war eine andere Welt, und Anne spürte zum ersten Mal in ihrem Leben ein Verlangen nach den hübschen Dingen, die andere besaßen.
Schlimmer als die Art und Weise, wie die Menschen miteinander umgingen, empfand sie den Gestank. Die Stadt roch wie ein Misthaufen. Der Gestank von Tierexkrementen vermischte sich mit einer unsichtbaren Wolke säuerlichen Menschenschweißes, der der ungewaschenen Wollkleidung der Leute entströmte.
Sie, die saubere Waldluft und die Reinheit unberührter Schneeflächen gewöhnt war, musste sich förmlich zum Atmen zwingen. Sie musste Luft holen und sich daran gewöhnen. Und sie musste versuchen, nicht auf die Blicke fremder Männer zu achten, die sie keck anstarrten und von oben bis unten musterten in der Hoffnung, die Formen ihres Körpers unter dem Mantel auszumachen. Einer zog ihr sogar die Kapuze vom Kopf, um ihr ins Gesicht zu sehen. Als sie ihm auf die Hand schlug, lachte er über ihre Bestürzung - und über ihr Temperament.
Nach diesem Vorfall hatte Anne stets Angst, Deborah aus den Augen zu verlieren. Wie ein Kind hielt sie sich am Mantel ihrer Ziehmutter fest, während diese geduldig auf das andere Ende der Brücke zusteuerte.
Die Häuser auf der Brücke standen so dicht beisammen, dass das Mädchen den darunter liegenden Fluss nicht sehen konnte. Doch sie hörte das Tosen des Wassers, das gegen die Brückenpfeiler schlug, und sie hörte das Ächzen des Eises, das unter den reißenden Wassermassen zerbarst. In diesem Augenblick überkam sie die Angst.
Was, wenn die Brücke, so mächtig sie auch sein mochte, unter der Last der vielen Menschen und Häuser einbrach und sie in das strudelnde Wasser stürzten? Als wollte sie die unausgesprochene Frage beantworten, drehte Deborah sich um und lächelte sie zuversichtlich an.
»Es braucht mehr als ein wenig Schmelzwasser, um diese alte Brücke zum Einstürzen zu bringen. Keine Angst, meine Kleine. Noch eine Stunde müssen wir es hier aushalten. Bleib so dicht hinter mir, wie du kannst.«
Aber auch die Geräusche der Stadt waren überwältigend. Sie strömten mit solch einer Macht auf sie ein, dass sie sie fast körperlich wahrnahm. Tags zuvor hatte sie sie zum ersten Mal gehört, noch bevor sie zur Stadtmauer und dem Kloster der Armen Klarissen gekommen waren, wo sie die Nacht verbracht hätten. Es war wie ein kommendes und gehendes Murmeln im Wind gewesen, als sie über die lehmigen Straßen zur Stadt wanderten - ein stetes Summen, das keinem Geräusch glich, das das Mädchen je gehört hatte. Als sie neben den anderen Frauen auf der rauen Strohmatte lag, stellte sie sich vor, es wäre die Stimme eines wilden Tieres, das selbst in den dunkelsten Stunden der Nacht nie ganz verstummte. In diesen Stunden war sie noch glücklich und aufgeregt gewesen, nach London zu gehen.
Nun schob sie sich hinter Deborah über die Brücke und schaute zu den Wolken hoch, um nach dem Wetter Ausschau zu halten, doch zwischen den Häusern war nur ein winziges Fleckchen Himmel zu erkennen. Tiefe Traurigkeit übermannte sie.
Anne hatte ihr ganzes Leben, beinahe fünfzehn Jahre, zwischen den Bäumen ihres und Deborahs Waldes gelebt. Aber Himmel und Wolken waren über ihrer kleinen Hütte aus Lehm und Flechtwerk stets zu sehen gewesen.
Wenn es warm war, saß Anne auf der höchsten Stelle des strohgedeckten Häuschens. Von dort konnte sie das Wetter beobachten, konnte sehen, wo ihr Wald endete und wo das Dorf mit seinen verstreuten Hütten begann. Auf der Lichtung, auf der ihre Hütte stand, war es immer still, nur das Rauschen des Windes, das Schreien der Vögel oder das Ächzen des Rotwilds im Dickicht des Waldes waren zu hören. Hier jedoch war die mächtige Stimme dieses fremden Ortes allgegenwärtig, sie dröhnte in ihrem Kopf und erlaubte ihr kaum zu denken.
Bald würden sie und Deborah sich trennen müssen, und sie würde allein in der summenden, brausenden, stinkenden Masse zurückbleiben.
Und alles nur wegen des letzten Samhains, jenes Festtages, an dem sich die Pforten zwischen der Dieswelt und der Anderswelt öffnen und der Winter beginnt, Sie hatten sich, wie jedes Jahr, mit den Dörflern auf der Gemeindewiese versammelt und Blutwürste zum Fest mitgebracht, da sie ihr Schwein, das sie das Jahr über gemästet hatten, gerade geschlachtet hatten. Es war der Blutmonat, in dem die Tiere, die nicht über den Winter gefüttert wurden, geschlachtet wurden. Als die letzten Tropfen des Sommerbiers getrunken waren, hatte Deborah die Dorfleute damit unterhalten, jedem die Zukunft vorauszusagen, der es wollte. Sehr zum Missfallen des Pfarrers. Er war ein braver Mann, der sich redlich bemühte, die Leute von ihren düsteren, althergebrachten Denkweisen abzubringen, doch an einem Tag wie Samhain war dies ein fruchtloses Unterfangen. Dieser Tag, an dem bis spät in die Nacht geschlemmt und getrunken wurde, besaß eine urtümliche Kraft, die stärker war als jede Predigt. Da der Pfarrer ein vernünftiger Mann war, dem das Wohlergehen seiner Schafe am Herzen lag, schloss er sich den Festlichkeiten an und hoffte, durch seine Gegenwart die schlimmsten Auswüchse zu verhindern.
An Samhain war es jedoch auch Brauch, sich die Zukunft vorhersagen zu lassen. Und dieses Mal hatte Anne Deborah gebeten, auch ihr die Zukunft zu deuten.
»Dafür bist du noch zu jung. Das ist kein Spiel, Anne. Der Pfarrer wird es nicht gerne sehen.« Deborah hatte das Mädchen beiseite genommen, fort von der langen Tafel, wo die lauten, fröhlichen Dörfler miteinander scherzten. Das Mädchen war verwirrt über den ernsten Gesichtsausdruck ihrer Ziehmutter.
»Warum willst du in deine Zukunft schauen?«
»Ich möchte nur wissen, ob ich auch einen Mann bekomme. Den anderen erzählst du es doch auch ...«
Deborah wandte sich ab, als sie den Blick des Pfarrers bemerkte, der unmerklich den Kopf schüttelte. Dann blickte sie zurück zum Wald, wo ihre Hütte stand. Es sah aus, als würde sie auf etwas lauschen, etwas, das lange Zeit zurücklag. Schließlich seufzte sie tief und nickte, sorgsam darauf bedacht, dass der Pfarrer nichts sehen konnte. »Du hast Recht. Setz dich hin.«
Anne lehnte sich gegen einen Eichenstamm und sank in das trockene, braune Herbstlaub, während Deborah ihre Schale vom Tisch holte. Die Strahlen der untergehenden Sonne verbreiteten immer noch etwas Wärme, in der Luft lag der Duft von Gebratenem und von frischem Bier. Das Mädchen döste ein.
Deborahs Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. »Hier, Kind. Schau ins Wasser und sag mir, was du siehst...«
Das Mädchen blickte sie erstaunt an. »Ich? Willst du denn nicht wahrsagen, Deborah?«
Die Stimme ihrer Ziehmutter war zu einem leisen Summen geworden. »Schau in die Schale, Anne ... Konzentrier dich. Schau einfach ins Wasser ... Was siehst du? Was zeigt dir die Zukunft?«
Vielleicht war es die Erinnerung an einen Traum, der ihr immer noch durch den Kopf ging, vielleicht der Klang von Deborahs Stimme, jedenfalls fühlte sich das Mädchen wohlig warm und sicher, wie ein Kind, das in seinem warmen Bettchen in seinen Träumen versinkt, während draußen die Winterstürme toben ...
»Ich sehe ein Gesicht...«
»Beschreibe mir, was du siehst.« Wieder hatte Deborahs Stimme diesen eigentümlichen, summenden Klang.
Anne zögerte, ehe sich ihre Miene erhellte. »Sieh nur! Da ist er. Ich sehe ihn. Aber seine Augen kann ich nicht erkennen ... wegen des Helmes. Oh!« Das Mädchen setzte sich so rasch auf, dass ihr die glasierte Keramikschale entglitt und das Wasser über ihr Kleid spritzte. »Blut! Überall Blut!«
Ihr Schrei schnitt durch das Stimmengewirr der Feiernden. Die Dörfler verstummten und starrten zu den beiden Frauen unter der großen Eiche hinüber. Deborah winkte ihnen fröhlich zu. »Zu viel Bier! Diese jungen Mädchen!«, rief sie, worauf Anspannung allgemeinem Lachen wich - einem unsicheren Lachen. Samhain war eine unheimliche Zeit, das wusste jeder.
Trotzig tauschte Deborah einen Blick mit dem Pfarrer, als er Anne auf die Füße half.
»Keine Sorge, Vater, sie ist nur müde. Es war ein langes Fest.«
Von dieser Stunde an war alles anders.
Einige Zeit später erklärte Deborah Anne, im Frühjahr sei es an der Zeit, dass sie nach London ginge, um in einem frommen Haushalt Dienst zu tun. Dort könne sie ihre Ausbildung vollenden, denn sie, Deborah, könne ihr in ihrer kleinen, behüteten Welt nichts mehr beibringen. Nächtelang weinte sich das Mädchen in den Schlaf, aber Deborah war unerbittlich, obwohl es beiden das Herz brach. Und so kam es, dass das Mädchen, unglücklich und niedergeschlagen ob der bevorstehenden Trennung, ihrer Ziehmutter immer weiter in die Stadt folgte, bis sie zur geschlossenen Pforte eines großen, dunklen Hauses gelangten.