3 Die Symptome der narzisstischen Störung

Der narzisstisch gestörte Mensch leidet an einem grundsätzlichen Minderwertigkeitsgefühl, das im Selbsterleben jede erdenkliche Form annehmen kann:

  • Ich bin nicht liebenswert.

  • Ich bin nicht gut genug.

  • Ich bin nicht berechtigt, ich bin es nicht wert.

  • Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht.

  • Das ist zu viel für mich.

  • Ich bin ein Versager, ein Verlierer.

  • Ich bin nicht schön genug.

  • Mich will sowieso keiner.

  • Ich genüge nicht.

  • Ich habe eh keine Chance.

  • Ich bleibe draußen, ich gehöre nicht dazu.

Das Verhängnisvolle am basalen Minderwertigkeitsgefühl ist, dass es sich auch durch Erfolge, durch großartige Ich-Leistungen nicht wirklich beruhigen lässt. So wird der durch Fleiß zustande gekommene Erfolg durch den Vergleich mit dem Ideal abgewertet. Perfektionismus verhindert jeden natürlichen Stolz und erlaubt keine wirkliche Entspannung und Erholung. Das Körperselbstbild ist durch keine Diät, keine Kosmetik und vor allem durch keine «Schönheits»-Operation wirklich zu befriedigen. Jeder Sieg provoziert die Angst der potentiellen Niederlage. Jeder Preis, jede Trophäe, jede Medaille verlieren ihre Wirkung mit dem Erlöschen der Scheinwerfer. Lob, Anerkennung und Dank gleiten letztendlich ab wie der Regen an einer wetterfesten Jacke. Das Minderwertigkeitsgefühl ist wie eine Festung der Schmach, die jeden echten Glanz abweist.

Die Selbstunsicherheit ist die Schwester der Minderwertigkeit. Alles Handeln, vor allem das neue, noch nicht erprobte Tun, bleibt angstbesetzt, jede ungewohnte Situation wird möglichst gemieden. Rückzug, Passivität oder Vermeidung werden hingegen bevorzugt und in Wechselwirkung damit Phobien, vor allem soziale Phobien gezüchtet. Die Selbstunsicherheit lässt zögern, verhindert das Zugreifen und erschwert die Selbstbehauptung. Die eigenen Wünsche bleiben versteckt, die individuelle Position wird verschwiegen, Durchsetzung und Führung sind so gut wie ausgeschlossen. Selbstunsicherheit und Minderwertigkeit sind die Quellen des Mitläufertums und der Mittäterschaft – der delegierten Verantwortung; sie bilden das zerbrechliche Rückgrat des Untertanen und ermöglichen der Werbung unbegrenzten Profit. Die suggestiven Verheißungen von Schlankheit, Schönheit und Gesundheit, von Erleichterungen, Fortschritt und Verbesserungen sind das Futter, mit dem die Minderwertigkeit und die Selbstunsicherheit unendlich, weil zwangsläufig erfolglos, genährt werden. Die Hoffnung, die aus Selbstwertstörungen gespeist wird, ist stärker als alle Vernunft.

Minderwertigkeit und Selbstunsicherheit sind die Folgen früh erlebter Abwertung, Ablehnung oder mangelnder Bestätigung. Eltern, die sich keine Zeit lassen, ihre Kinder zu erkennen, zu verstehen und sie in ihrer spezifischen Art zu bestätigen, erschweren, verzerren oder verhindern die Ausbildung eines gesunden Selbst. Die mangelnde Liebe ist die Hauptquelle narzisstischer Störungen. Wer nicht ausreichend gespiegelt und bestätigt wurde, der bleibt ein Leben lang abhängig von der Zustimmung anderer. Kein Wunder also, dass bei narzisstischen Defiziten eine permanente (später meist unbewusst gewordene) Angst vor Beziehungsverlust bleibt. Angewiesen auf äußere Bestätigung, neigt der selbstwertgestörte Mensch dazu, sich anzupassen, die Erwartungen anderer abzuspüren und sie um der ersehnten Bestätigung willen dann auch zu erfüllen. Da dieses Verhalten aber bestenfalls eine sekundäre Befriedigung (eine Ersatzbefriedigung) für ein primäres Bestätigungsdefizit vermitteln kann, entsteht weder wirkliche Zufriedenheit noch Entspannung. Das ist die energetische Voraussetzung für Suchtentwicklungen aller Art. So bleibt der narzisstisch gestörte Mensch eine abhängige Persönlichkeit, die ihre Autonomie nicht zu entwickeln und zu leben wagt. Nur in der betonten Abwehr dieser Gefangenschaft, im Grunde als überschießende Gegenreaktion zur belastenden Abhängigkeit, wird eine Unabhängigkeit demonstriert, die aufgesetzt daherkommt und eine Pseudoautonomie bedeutet. Dabei erhalten alle Entscheidungen größtes Gewicht, alles Handeln bekommt eine aufgeblasene Bedeutung – es wird um Zustimmung gebuhlt, die die Anhänger und Fans, die konarzisstischen Partner und Mitarbeiter gerne zur Verfügung stellen, wenn die Nähe zum blendenden Akteur nur die eigenen narzisstischen Wunden überstrahlt. Die Idealisierung der Person, die Aufwertung einer Aktion bzw. die betonte Bedeutung eines Geschehens sind die notwendigen Drogen des Narzissmus.

Wenn ein narzisstisch gestörter Mensch andere braucht und sie dazu bringt, ihn zu bestätigen und zu bewundern, um dadurch das labile Selbstwertgefühl zu stabilisieren, so sprechen wir von einer Selbstobjekt-Verwendung. Dies spielt etwa bei jeder Verliebtheit eine große Rolle und erklärt auch die Verzweiflung bis hin zur suizidalen Not, wenn man von einem Partner (als Selbstobjekt) verlassen wird. Dass es unendliche Möglichkeiten partnerschaftlicher Beziehung gibt, kann in der narzisstischen Kränkung nicht wahrgenommen werden. Angesichts der Irrationalität der Verzweiflung wird die emotionale Gebundenheit des unerfüllten frühen Bestätigungswunsches erkennbar. Es geht dann nicht mehr um den Partner, der einen verlassen hat, sondern um die schon längst erlebte, in ihrer Qualität allerdings lebensbedrohliche Verlassenheit in den frühen Beziehungen, vor allem in jenen mit der Mutter.

Überlebt der verlassene Verliebte das gegenwärtige Trauma, folgt fast regelmäßig die Entwertung des vordem so idealisierten «Objektes». Es geht dann nicht mehr um die Person des anderen, um dessen Beweggründe für die Trennung, sondern um einen Sündenbock, dem man alle Schuld aufladen kann, um die narzisstische Regulation wieder zu sichern. Auch da helfen rationale Argumente wenig. Der Narzissmus akzeptiert keine Wahrheit. Erst später, wenn ein neues narzisstisches Stabilitätsniveau erreicht worden ist, sind vielleicht Einsichten in die eigene schuldhafte Beteiligung am Trennungskonflikt möglich. Aber auch das ist eher selten, weil es viel bequemer ist, die Schuld prinzipiell andere tragen zu lassen.

Idealisierung und Entwertung sind das Geschwisterpaar narzisstischer Lebenskultur. Das Eigene hochloben oder ein Idol – bis zur kreischenden Verblödung – verehren, dabei aber alle Kritik abwehren und alle Gegner und Konkurrenten abwerten – das ist die Dynamik, in der alles Geschehen in Gut und Schlecht eingeteilt wird.

Jede Idealisierung ist gefährlich, weil sie die Realität verzerrt, und jede Entwertung ist der Anfang von Gewalt und Krieg, weil Schuldige gebraucht werden, gegen die man bei Bedarf auch kämpfen kann, um das eigene brüchige, abgewertete und gekränkte Sein nicht spüren zu müssen. Es entstünde niemals Krieg, wäre eine ausreichend große Anzahl von Menschen primär narzisstisch gesättigt, statt dem Zwang zu unterliegen, den bitteren Opferstatus in Täterschaft zu verwandeln.

Ein wesentliches Symptom des Narzissmus ist die Unfähigkeit zur Empathie. Der narzisstisch gestörte Mensch ist nur mit sich selbst beschäftigt, um die Wunden zu lecken, die durch Liebesmangel geschlagen wurden, da bleibt kein Raum für andere. Die Beziehungsangebote eines narzisstisch gestörten Menschen werden gerne missverstanden. Der Narzisst braucht «Objekte» – also Menschen, die für ihn da sind, die sich für die eigenen Bedürfnisse verwenden lassen, die auf jeden Fall bestätigen, zustimmen und bewundern müssen und auf keinen Fall substantielle Kritik üben dürfen. Dafür bekommen die Bestätiger und Bewunderer Anerkennung und wohlwollende Gesten, die aber der konarzisstischen Funktion gelten und nicht der Person. Ein Narzisst liebt nicht, er will geliebt werden, er meint den Nächsten nicht, er braucht ihn, er spürt nicht, was mit dem anderen ist, er nimmt nur wahr, wie der andere zu ihm steht: brauchbar oder nutzlos, Freund oder Feind.

Jede Führungspersönlichkeit lebt mehr oder weniger von der narzisstischen Kollusion zwischen Dominanz und Abhängigkeit. Jeder andere stellt eine potentielle Gefahr dar, bis er als Bewunderer eingemeindet oder durch irgendeine Schwäche oder einen Fehler abgewertet werden kann. Um das mühsam aufgebaute Selbstwertgefühl zu schützen, das trotz aller sekundären Ich-Leistungen immer labil bleibt, müssen alle Konkurrenten um Einfluss und Bedeutung schlecht gemacht werden, selbst wenn die betreffenden Personen oder die von ihnen vertretenen Inhalte gar nicht wirklich bekannt sind.

Ein Narzisst verträgt keinen anderen in seiner Nähe, es sei denn kollusiv, unter der Voraussetzung, dass der vorliegende innerseelische Mangel durch Huldigung kompensiert wird. Das Größenselbst entwickelt sich zum Vampir, das Größenklein hingegen zum Schmarotzer. So berauben sich beide der Energie, die als Liebe nie da war und jetzt nur noch als Gebrauchs- und Tauschwert zu haben ist. Das «Geschäft» ist notwendig, aber es ist nie wirklich erfüllend, ganz abgesehen von der ständigen Angst, zu kurz zu kommen, nicht genug zu bekommen, nicht ausreichend gewürdigt zu werden, Ungerechtigkeit zu erleiden.

Die Kränkbarkeit ist die Achillesferse jeder narzisstischen Störung. Die Abhängigkeit von der von außen gegebenen Bestätigung begründet die hohe Empfindlichkeit. Da ein Selbstwert nicht basal erlebt werden kann, bedarf es der Fremdbestätigung. Der Narzisst tut alles, um die Bestätigung, die er zum Leben braucht, zu erhalten: Anstrengung, Fleiß, Perfektionismus, Leistung, Aussehen, Manipulationen, Suggestionen, Geschenke, Bestechung, Versprechungen, Teilhabe, Führung – alles, alles aus nur einem Bedürfnis heraus: dafür «geliebt» zu werden. Was im Innersten nicht vorhanden ist, muss von außen zugeführt werden – es bleibt aber alles nur Falschgeld, weil sich der erfahrene Liebesmangel nicht mehr «auffüllen» und somit ungeschehen machen lässt. So zwanghaft abhängig das narzisstische Defizit von entgegengebrachter Anerkennung ist, so wenig lässt es sich wirklich heilen. Deshalb tendiert alles narzisstische Streben zur süchtigen Steigerung und quält sich und andere mit irrationalen Bewertungen. Mögen hundert Personen eine Arbeit, einen Vortrag oder ein Ergebnis auch loben und findet sich nur eine einzige, die Kritik übt, dann nagt diese einzelne Kritik hundertmal mehr am fragilen Selbst, als die mehrheitliche Zustimmung es zufriedenstellt. Deshalb werden Kritiker gerne gemieden und aus dem Arbeits- oder Lebensbund «weggebissen».