13 Männlicher und weiblicher Narzissmus

Bereits in der frühen Entwicklungsphase können geschlechtsbezogene Unterschiede bei der Annahme eines Kindes eine Rolle spielen. Bringt etwa eine Frau mit negativen Männererfahrungen oder eine von ihrem Partner verlassene schwangere Frau einen Jungen zur Welt, dann können Vorurteile gegenüber dem anderen Geschlecht dazu führen, dass das Kind von Anfang an Ablehnung zu spüren bekommt. Von jungen Müttern, die gegenüber dem männlichen Geschlecht Gefühle der Unsicherheit, Unerfahrenheit oder Minderwertigkeit hegen, habe ich häufig erfahren, dass sie verunsichert und irritiert davon waren, einen Jungen geboren zu haben.

Die Vorstellung, als Frau einen Jungen zur Welt zu bringen, ist für manche verwirrend, für andere hingegen faszinierend. In den Umgang der Mutter mit einem Jungen werden stets ihre Einstellungen und Erfahrungen gegenüber Männern einfließen und unbewusst den Selbstwert des Sohnes beeinflussen. In einem Mädchen dagegen kann sich die Mutter leichter selbst spiegeln und, je nachdem, das Kind nach ihrem Bilde formen oder ihm die eigenen schlechten Erfahrungen ersparen wollen. Die Zuwendung zum Mädchen ist dann aber nicht kindbezogen, sondern seitens der Mutter «selbstobjekthaft», mit der Folge, dass sich das Mädchen nicht um seiner selbst willen geliebt erfährt, sondern nur, wenn es dem Bild der Mutter von Weiblichkeit entspricht. Nicht selten erlebt eine Mutter ihre Tochter auch als Konkurrentin, was Jugend, Vitalität, Schönheit und Liebreiz anbelangt. Das mag ihr anfangs gar nicht bewusst sein und erst im Laufe der weiteren Entwicklung für sie spürbar werden, aber es beeinflusst dennoch von Anfang an als ein narzisstisches Defizit der Mutter die Einstellung zur Tochter. So kann sich das Selbstwertproblem der Mutter «vererben», ohne dass dafür Gene zuständig wären.

Die Einstellung der Eltern zum Geschlecht ihres Kindes ist eine wesentliche Quelle für einen geschlechtsbezogenen Narzissmus. Dabei hat die Mutter eine größere Verantwortung, weil sie auch in den prägenden ersten Monaten und – schon pränatal, wenn sie bereits das Geschlecht des Fötus kennt – in besonderer Weise den primären Narzissmus des Kindes bestätigen oder verunsichern kann. Der Vater kann alles noch verschlimmern, indem er das Geschlecht eines Kindes ablehnt, was häufiger der Fall ist, wenn er keinen Jungen, sondern ein Mädchen bekommt. Mädchen, die eigentlich ein Junge werden sollten, gibt es viele; oftmals leiden sie an einer geschlechtsbezogenen narzisstischen Verunsicherung oder einer Selbstabwertung ihrer Geschlechterrolle. Sie fühlen sich dann gedrängt, sich wie Jungen zu verhalten und zu kleiden, lieber mit den Jungen als mit den Mädchen zu spielen und mitunter sich noch «männlicher» zu gebärden als die gleichaltrigen «Brüder». Im Laufe der Entwicklung kann der Vater die narzisstische Geschlechtsverwirrung noch verstärken, wenn er die von der Mutter wenig geliebte Tochter besonders mag und sie zu einer Vatertochter erzieht. Später sind solche Frauen die beliebtesten Mitarbeiterinnen von Chefs, weil sie fortgesetzt alles gerne und beflissen tun, was dem Vorgesetzten (dem «Vater») gefällt.

Hingegen kann es ein von der Mutter emotional missbrauchter Sohn schwer haben, einen guten Zugang zum Vater zu finden, da er auf die Bedürfnisse der Mutter «abgerichtet» ist. In diesem Fall wird der Vater («der Mann») von der Mutter meistens abgewertet, verachtet und bekämpft: «Werde ja nicht wie dein Vater!», «Du gleichst ja jetzt schon deinem Vater!» Die Mutter agiert auf diese Weise ihren unbewältigten Männerhass aus, indem sie versucht – und das gelingt bei der großen Abhängigkeit des kleinen Jungen meistens sehr gut –, den Sohn auf ihre Seite zu ziehen, ihn mit ihren Negativerfahrungen und Vorurteilen zu vergiften. Der Sohn bleibt dann muttergebunden und vaterverachtend und erleidet damit eine doppelte narzisstische Verletzung: Die notwendige Ablösung von der Mutter hin zur Selbstbestimmtheit gelingt ebenso wenig wie die Identifikation mit einem guten männlich-väterlichen Vorbild.

Der von der Mutter abhängig gehaltene Junge kann aber auch vom Vater gerettet werden. Die Hauptaufgabe des Vaters liegt in der Ermutigung und Unterstützung des Kindes, sich aus der Situation der Geborgenheit und der Versorgung durch die Mutter allmählich zu entfernen und die befreiende Erfahrung von selbstbewusster Autonomie zu gewinnen. Der Vater ist (idealerweise) der beste Begleiter des Kindes beim notwendigen Verlassen des «Nestes» und für die selbst zu verantwortende Gestaltung des eigenen Lebens und der Welt. Damit diese so wichtige väterliche Funktion als Retterfunktion für das Kind wirksam werden kann, muss der Vater seine eigene Mutterbindung gelöst und mithin auch den Mut entwickelt haben, seiner Frau gegebenenfalls zu widersprechen und sich entsprechend abzugrenzen, um so für den Jungen einen Freiraum zu schaffen, in dem er eigene Erfahrungen machen und Entscheidungen treffen kann. Leider ist viel häufiger das Gegenteil der Fall, dass der Vater nämlich den Sohn verrät, ihn im Stich lässt, weil er die Auseinandersetzung mit seiner Frau scheut, was Ausdruck seiner eigenen Mutterabhängigkeit ist.

Zugegeben: Wenn eine solche konfliktreiche Unterstützung des heranwachsenden Sohnes durch den Vater nötig ist, dann ist meistens auch die Beziehung der Eltern schon schwer belastet und in Gefahr auseinanderzubrechen. Für das Kind ist die Trennung der Eltern immer eine traurige Erfahrung, doch bei chronischem Streit und Kampf der Eltern gegeneinander kann ihre Scheidung auch zu einer Befreiung aus dem emotionalen Sumpf der elterlichen Verstrickungen und Projektionen werden und die notwendige Aufgabe des Kindes, zwischen Mutterwelt und Vaterwelt unterscheiden zu lernen, wesentlich erleichtern. Gelingt es dem Kind, sich einer Manipulation zur Parteilichkeit zu entziehen, und lernt es, gute wie schlechte Seiten bei Mutter und Vater zu identifizieren und auseinanderzuhalten, dann ist ein wichtiger Schritt zur eigenen Positionierung erreicht. Dann gilt nicht länger: gute Mutter – böser Vater oder, seltener: böse Mutter – guter Vater, sondern es gibt Eltern, deren unterschiedliche Eigenschaften, Stärken und Schwächen dazu herausfordern, eigene Positionen zu finden, indem mütterliche und väterliche Beeinflussungen überwunden und aufgegeben oder als nützliche Möglichkeiten übernommen und weiterentwickelt werden. Jeder narzisstisch halbwegs gesättigte und freie Mensch wird alle Gepflogenheiten, Regeln und Rituale seiner Familie, seiner Kultur und der gesellschaftlichen Gebote auf ihre Tauglichkeit für das eigene Leben hin überprüfen und entsprechend verändern, ablegen oder übernehmen. Die Einstellung der Eltern zum Geschlecht ihrer Kinder ist also eine wesentliche Ursache für narzisstische Bestätigung oder Verunsicherung. Über die Auswirkungen der typischen Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen auf die narzisstische Regulation äußere ich mich im nächsten Kapitel.

Die elterliche Prägung verfestigt sich später unter dem Einfluss der geschlechtsspezifischen Rollen, die die Gesellschaft für Frauen und Männer vorsieht; bisweilen wird sie dadurch auch konfliktreich modifiziert. Eine Vatertochter etwa wird in aller Regel von feministischen Schwestern kritisiert und abgelehnt werden. Töchter, die mit Hilfe des Vaters dem emotionalen Missbrauch oder der Abwertung durch die Mutter entronnen sind, wissen davon ein Lied zu singen. Männerfeindliche Feministinnen eignen sich indessen sehr gut zur Übertragung negativer Mutterbilder. Die beinahe regelmäßige Ablehnung guter Mütterlichkeit bei Feministinnen bietet eine hervorragende Projektionsfläche, um die schlechten Erfahrungen mit der Mutter dort unterzubringen und stellvertretend zu bekämpfen. Muttersöhnchen dagegen bleiben die besten Frauenversteher und -bediener; stets sind sie versucht, alle Mütter und Frauen – auch und gerade, wenn diese im Unrecht sind – gegen Angriffe zu verteidigen und ihre Geschlechtsbrüder dabei zu verraten. Sie werden nicht müde, den Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts alle Wünsche von den Augen abzulesen und sie von vorn und hinten bis zur Selbstaufgabe und Erschöpfung zu bedienen. Vatertöchter finden ihre narzisstische Regulation durch die Bestätigung von Männern, denen sie hilfreich sind, Muttersöhne durch die Anerkennung der von ihnen bedienten Frauen. Die Tragik ist dabei immer die gleiche: Die beschriebene geschlechtsspezifische Regulation ist hilfreich und führt doch nie zur wirklichen Befriedigung des ursprünglich narzisstischen Defizits. Der Preis für diese Regulation ist allerdings auch hoch: Die Entwicklung guter Männlichkeit und Weiblichkeit wird auf diese Weise verhindert.

Die Gesellschaft hält typische geschlechtsspezifische Möglichkeiten zur narzisstischen Kompensation und Abwehr des nagenden Mangelgefühls bereit. Wir müssen dabei ein komplexes System religiöser, kultureller, ökonomischer, sozialer sowie politischer Einflüsse auf die Geschlechter, aber auch biologisch-körperliche und psychologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen berücksichtigen. Die Grenzen zwischen den Geschlechtern können zwar verschwimmen, doch niemals ganz aufgelöst werden. Wir müssen aber auch verstehen, wie Geschlechtsunterschiede wesentlichen Einfluss auf die soziokulturelle und ökonomische Ausgestaltung der Gesellschaft nehmen. Die Triebenergien für Fortpflanzung und «Brutpflege», die komplexe Wirkung der geschlechtsdominanten Hormone wie Testosteron und Östrogen mit Wirkung auf Körperbau und Psyche fordern ihren Tribut. Männer und Frauen sind nicht gleich. Gesellschaftsverhältnisse können männliche und weibliche Rollen und Funktionen zwar überbetonen oder nivellieren, aber es bleiben entscheidende Unterschiede, die auch die Entwicklung der Gesellschaft mitprägen.

So findet der männliche Narzissmus vor allem in Machtfunktionen eine gute Kompensationsmöglichkeit, der weibliche Narzissmus im Schönheitskult. Die Übername von Führungsfunktionen gibt Männern narzisstische Zufuhr – wenn sie sich als wichtig und unentbehrlich erleben können, wenn sie entscheiden dürfen, wenn ihre Meinung und ihr Rat gefragt sind und wenn es nur noch einer Unterschrift bedarf, um die Welt zu bewegen. Führung ist notwendig und kein Makel, keine Störung, solange sie auf der Grundlage von Kompetenz und gesichertem Selbstwert ausgeübt wird. Wer jedoch am Stuhl der Macht «klebt», wer immer mehr Einfluss anstrebt, wer die eigene Karriere über alle anderen Interessen stellt, Konkurrenten «wegbeißt», abwertet und bekämpft, Mitarbeiter mobbt und die Familie vernachlässigt, der lässt in seiner Führungsfunktion eine narzisstische Störung erkennen.

Der Narzisst an der Macht redet in Phrasen, stellt die eigenen Leistungen auffällig heraus und wertet andere Menschen, Erfolge oder Positionen grundsätzlich ab, gibt nie Fehler oder Schwächen zu oder nur, wenn diese nicht mehr zu verbergen sind – und dann wird aus einem Schuldbekenntnis sofort eine ehrenhafte Heldentat. Die Konarzissten lassen natürlich kein Versagen ihres Verehrungs-«Objektes» zu, weil sie dann ihren eigenen Irrtum eingestehen und sich selbst in Frage stellen müssten. So entstehen die grotesken Bilder von Claqueuren und fanatischen Anhängern, die bis zum letzten «Blutstropfen» an ihrer Illusion festhalten und die Realität bis hin zur Absurdität verzerren und verleugnen. Ich habe mich als Heranwachsender oft gefragt, wie Menschen einem Hitler folgen oder wie die offenkundigen propagandistischen Lügen im real existierenden Sozialismus geglaubt werden konnten – so dumm und ungebildet kann doch die Mehrheit eines Volkes nicht sein –, bis ich die enorme Wirkkraft der narzisstischen Abwehr und Kompensation begriffen habe. Die narzisstische Störung macht tatsächlich «blöd», engt erheblich den Erkenntnisspielraum ein und ist den Betreffenden, darunter erfolgreiche Wissenschaftler, rhetorisch versierte Politiker und Manager, nicht anzumerken. Erst im Nachhinein, bei eingetretenem Desaster, in der Krise und nach der «bedingungslosen Kapitulation» oder den zerstörerischen Auswirkungen bisher angepriesener Erfolgsmodelle, wie wir sie zurzeit etwa bei der Atomenergie erleben, fällt der narzisstisch verursachte Nebel und für kurze Zeit wird Klarsicht möglich, bevor eine neue verleugnende Kompensation gefunden wird. So muss etwa auch ein Land wie Italien erst kurz vor dem finanziellen Staatsbankrott stehen, bis erkannt und zugegeben wird, dass das Land viele Jahre von einer narzisstisch schwer gestörten Persönlichkeit, nämlich Berlusconi, geführt worden ist. Doch man sollte Berlusconi nicht allzu schnell zum alleinigen Sündenbock erklären. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass er mehrheitlich in die Führungsfunktion gewählt worden ist. Sein Rücktritt allein beseitigt deshalb noch lange nicht die Gefahren und Folgeschäden einer narzisstisch geprägten Gesellschaft.

Machogehabe, Stärkekult, Zwang zum Siegen, gnadenloser Konkurrenzkampf, Wachstumsfetischismus und eine gierige Finanzwirtschaft sind Ausformungen narzisstisch-männlicher Kompensation. Dies gilt natürlich auch im Kleinen: Der Familienpascha, der autoritäre Vater, der dominante Partner sind «klassische» Rollen für männliche Narzissten. Die berufliche Karriere, die neueste Technik, das größere Auto, die besondere Wohnung oder das Eigenheim, weite Reisen und ein gut gefülltes Bankkonto sind häufige männliche Attribute und Ziele, um narzisstische Minderwertigkeit zu übertünchen. Die männlich gestaltete Gesellschaft hat zwangsläufig Suchtcharakter.

Der von den gesellschaftlichen Verhältnissen geförderte weibliche Narzissmus bezieht sich vor allem auf ein Schönheitsideal, das sich hervorragend für alle Ersatzbemühungen eignet, da es kaum wirklich zu erreichen ist. Sehr viele Frauen tragen ihr narzisstisches Defizit zu Markte: Mode, Kosmetik und Diäten sind ein Milliardengeschäft mit der narzisstischen Not der Frauen. Die erhoffte Anerkennung klebt an Markenklamotten, sie wird vom kosmetisch erreichten Schein erhofft und in aller Regel im hoffnungslosen Kampf um die Idealfigur gesucht. Dabei ist das Irrationale ausschlaggebend: als ob allein die Kleidung eine Frau attraktiv machen würde. Die aktuelle Mode definiert das Aussehen, ob sie nun der einzelnen Frau steht oder nicht. Die Falten werden mit Botox weggespritzt, die Brüste mit Silikon operativ aufgepolstert und die Haare wegrasiert in der Illusion, auf diese Weise schöner auszusehen. Im ewigen Kampf um die Figur wird um jedes Pfund gerungen, als ob das Körpergewicht Lebensfreude bringen oder sogar Lebensberechtigung bedeuten würde. Diätwahn, Anorexie, Bulimie und Adipositas sind Ausdrucksformen des hilflosen narzisstischen Kampfes um Selbstwert und Selbstbestätigung. Egal, wie das reale Gewicht ausfällt, es ist zu viel oder zu wenig, aber nie richtig. Hauptsache, man kann einen ständigen Kampf mit kurzen Erfolgen und häufigen Misserfolgen führen, um eine Beschäftigung zu haben, die von der eigentlichen Störung ablenkt.

An Nachhaltigkeit ist der Misserfolg dem Erfolg in dieser Hinsicht sogar überlegen, denn Erfolg macht müde und wird allmählich langweilig, Misserfolg hingegen bleibt ein ewiger Stachel für weitere Bemühungen, ein sicherer Hort für Ärger und eine Abschussrampe für Schuldprojektionen. Unaufhörliche Anstrengung, Scheitern und Stellvertreterkrieg – das ist die Trias narzisstischer Abwehr.

Wir haben vergessen, dass Schönheit, Attraktivität und sexuelle Ausstrahlung auf innerseelische Prozesse zurückgehen und mit narzisstischer Sättigung zu tun haben. Der Mensch, der mit sich im Reinen ist, der sich – ohne Hysterie – als liebenswert empfindet, der mit sich selbst zufrieden ist, der strahlt auch von innen, zieht Aufmerksamkeit auf sich und provoziert geradezu Zuwendung. Aber ein solcher Mensch wird für andere auch leicht zur Bedrohung, er ist eine Erinnerung an den eigenen Makel und wird deshalb gerne gemieden und, wenn es sein muss, bekämpft.