Die Träger gesellschaftlicher Fehlentwicklung
Die narzisstische Störung eignet sich hervorragend als psychosoziale Grundlage einer auch gesellschaftlich ausgeprägten Abwehrstruktur. Fast regelmäßig – nahezu zwingend, um sich vor seelischer Erschütterung zu schützen – wird die allzu menschliche, die psychische Dimension menschlichen Verhaltens bei der Analyse gesellschaftlicher Vorgänge vergessen, geleugnet oder als unbedeutend – als purer Psychologismus – abgewertet. Das ist bereits ein Symptom narzisstischer Abwehr. Aber alle machtpolitischen, ökonomischen, militärischen und kulturellen Einflüsse und Zwänge sind schließlich von Menschen gemacht und ausgestaltet, deren Entscheidungs- und Handlungsmotive von unbewussten seelischen Vorgängen beeinflusst werden. Es ist mit Sicherheit falsch, etwa auf ökonomische Zwänge zu verweisen, ohne zu berücksichtigen, welche seelischen Bedürfnisse oder Defizite sich in den gegebenen Verhältnissen und Entwicklungen abbilden oder ausagiert werden. Allerdings lässt sich auf der Symptomebene unterschiedlicher Auffassungen vortrefflich streiten, auf diese Weise kann man sich affektiv abreagieren und sich unendlich ablenkend beschäftigen. Dies würde sich nur ändern, wenn jede persönliche Position nicht allein durch Sachargumente begründet, sondern aus den innerseelischen Motiven analysiert und verstanden würde. Dann würde so manche im Brustton der Überzeugung vorgetragene Position zusammenschrumpfen wie ein Ballon, aus dem die Luft herausgelassen wird.
Da es keine wirkliche Entscheidungsfreiheit bei narzisstischen Defiziten gibt, sondern immer nur Bestrebungen, vom psychosozialen Elend abzulenken und sich irgendeinen Ersatz zu schaffen, sind der «freie Markt» ebenso wie «freie Wahlen» in vieler Hinsicht eine Illusion. Auch das Wirtschaftssystem wird – nach Überwindung kollektiver Not und Armut – stets zum Tummelfeld narzisstisch begründeter Begehrlichkeiten. Werbung, Reklame, Mode, Status und Gruppendruck sind so wirkungsvoll, weil sie zu suggerieren verstehen, was Menschen mit narzisstischen Defiziten brauchen: was sie glücklich machen soll, wie man es schafft, anerkannt zu werden und dazuzugehören. Denn aus sich heraus wissen sie das nicht, konnten sich nicht entwickeln und herausfinden, wer sie wirklich sind und werden können, was sie wirklich brauchen und begehren.
So gestalten die narzisstischen Störungen auch die Gesellschaften aus, wobei die typische Kollusion von Größenselbst und Größenklein ein weitgehend reibungsloses Zusammenspiel – jedenfalls bis zum Kollaps – ermöglicht. Dabei nehmen die Führer und Bosse die Position des Größenselbst und das Volk und die Belegschaften die Rolle des Größenklein ein. Daran können auch oppositionelle Kräfte, intellektuelle Kritiker, wissenschaftliche Warner, die Gewerkschaften, Bürgerproteste, Aussteiger und Nichtwähler nicht viel ändern. Sie gehören eher ins System der Verleugnung und symptomatischen Kosmetik. Wird die zugrunde liegende narzisstische Reife der Bevölkerung nicht berücksichtigt, bleibt jeder wertende Vergleich eines demokratisch gewählten Systems mit einer autoritären Diktatur ohne Aussagekraft.
Im deutschen Nationalsozialismus fanden die individuellen narzisstischen Störungen ihre kollektive Abwehr in einem Weltherrschaftswahn, der sogar Krieg und Völkermord rechtfertigte. Ohne die überzeugte bis begeisterte Kriegs- und Mordlust einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung wäre das nationalsozialistische Regime nicht bis zum bitteren Ende aufrechtzuerhalten gewesen. Die historische Entwicklung wirft ein Licht auf die innerseelische Bedeutung narzisstischer Kränkung und erfahrener Bestätigungsdefizite, die sich in den ausagierten Verbrechen manifestieren.
Im real existierenden DDR-Sozialismus dann bekamen die unerkannten und unaufgelösten narzisstischen Störungen der Nazidiktatur neues Abwehrfutter durch die Suggestion einer antifaschistischen Tradition und der angeblich angestrebten friedlichen und sozial gerechten Zukunft. Das hat lange die Kollusion zwischen einer peinlichen Obrigkeit und willfährigen Jublern ermöglicht, bis die Utopie vom besseren Leben an der materialisierten Überlegenheit des Westens kollabierte. Das System ist nicht durch eine «friedliche Revolution» abgeschafft worden. Vielmehr ist die narzisstische Kollusion zwischen der Partei und ihren Mitläufern mit der Suggestion einer besseren Zukunft an der Realität zerbrochen. Dabei musste die illusionäre Hoffnung auf ein besseres Leben nicht einmal aufgegeben werden, sondern es wurden nur die Fahnen gewechselt. Einer neuen Obrigkeit, die Konsum und Wohlstand («blühende Landschaften») versprach, wurde die schon verloren geglaubte Rolle des Größenselbst untergeschoben, um die Position des Größenklein nicht verlassen zu müssen – was ja schmerzhafte Erkenntnis hätte auslösen können. Dass die demütigende Arbeitslosigkeit, die Abwicklung von Positionen, Funktionen, Kompetenzen und Erfahrungen im Osten ohne größere Proteste hingenommen wurden, ist ein Symptom der narzisstischen Störung: Der wirkliche Aufstand wurde aus Unsicherheit und Selbstabwertung nicht gewagt, es gab keine eigenständige Orientierung, und in der neuen Herabwürdigung im deutschen Vereinigungsprozess erfüllte sich nur die sattsam bekannte innerseelische Erfahrung früher Abwertung.
Die Wende in der DDR wurde rasch zum Systemwechsel nach narzisstischem Muster: eine Herrschafts-Unterwerfungs-Kollusion zwischen westdeutschem Größenselbst und ostdeutschem Größenklein. Die deutsche Vereinigung verkam zum bloßen Beitritt, was voraussetzte, dass auf beiden Seiten die Mehrheit eine solche Entwicklung für richtig hielt.
Um das zu verstehen, muss man auch die westdeutsche Entwicklung nach dem Kriegsende aus narzisstischer Perspektive betrachten: Tod, Zerstörung, Schmach und Schuld sollten hier auf keinen Fall seelisch realisiert werden. Im manischen Wiederaufbau, der zu einem «Wirtschaftswunder» führte, sollte die narzisstische Verletzung (individuell wie kollektiv) vergessen gemacht und ausgeglichen werden. Möglichst rasch versuchte man die verloren gegangene Größenselbst-Position wieder einzunehmen. Der rasant erreichte Wohlstand, der selbst eine «soziale Marktwirtschaft» erlaubte, hat die massenwirksame neue narzisstische Kollusion ermöglicht. In Schlagzeilen wie «Exportweltmeister» oder im Deutschlandfahnen schwenkenden «Sommermärchen» einer Fußballweltmeisterschaft werden Symptome des Größenwahns erkennbar.
Aber das Hauptsymptom der narzisstischen Problematik sind inzwischen die Schulden des Staates und einer großen Anzahl von Bürgern. An den Schulden wird deutlich, dass es eine Übereinstimmung gibt, über die tatsächlichen Verhältnisse zu leben. Staats-, Wirtschafts- und Finanzpolitik verführen, ja nötigen dazu, Schulden zu machen, damit Besitz geschaffen, Investitionen getätigt und materielles Wachstum gesichert werden. Ich erinnere mich genau, dass mir nach der Wende geraten wurde, Schulden zu machen, um beispielsweise eine Wohnung zu kaufen und damit Steuern zu sparen. Aber die gesparten Steuern müsse ich doch als Zinsen an das Kreditinstitut zurückzahlen, lauteten meine kritischen Bedenken; unter dieser Vorgabe würde ich lieber Steuern für das Gemeinwohl als Zinsen für Bankenreichtum zahlen. Mit dieser Einstellung wurde ich nahezu verhöhnt als einer, der im Westen nicht angekommen sei.
Die Schuldenideologie ist ein tragisches Beispiel narzisstischer Illusion. Die rationalen Begründungen dafür haben sich inzwischen als falsch erwiesen und drohen Euroland wie Dollarland in ein gefährliches Chaos zu stürzen. Die Selbstwertproblematik hat im Geld das geeignete Vehikel gefunden, um sich mit Besitz und Konsum zu betäuben. Doch wissen wir längst aus zahlreichen Untersuchungen, dass nach Befriedigung basaler Lebensbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung und Versorgung im Krankheitsfall) sich die menschliche Zufriedenheit und das subjektive Glückserleben nicht mehr durch weiteres materielles Wachstum erhöhen lassen. Die narzisstische Kompensation dagegen braucht ständige – suchtartige – Erweiterung der Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion.
Die Gier, die den Bankern und Managern mit Recht bescheinigt wird, ist aber ebenso das zeitgemäße Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit der meisten Bürger der westlichen Industrienationen. Gier ist nicht Ausdruck einer normalen menschlichen Wesensart, sondern immer ein Krankheitssymptom. Die natürliche Bedürfnisbefriedigung verläuft in Rhythmen und Zyklen, ohne Steigerungsehrgeiz, wenn die Befriedigung angemessen möglich ist. Das Suchtpotential ist immer Folge früher Entbehrungen, die nur unter ständiger Steigerung der Dosis der Ablenkungs- und Kompensationsmittel notdürftig und kurzfristig beruhigt werden können.
Die deutschen Gesellschaftssysteme des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart lassen sich wohl kaum miteinander vergleichen – ein solcher Versuch wird in aller Regel empört als unzulässig zurückgewiesen. Und doch ist die narzisstische Grundstörung der Menschen, die die jeweiligen Gesellschaften tragen und ausgestalten, durchaus vergleichbar. Wir können nicht einmal ein reiferes Störungsniveau für die real existierende Wachstums- und Konsumgesellschaft in Anspruch nehmen. Die destruktiven Folgen von Phänomenen wie Klimawandel, Umweltzerstörung, Artensterben, Zivilisationserkrankungen, krimineller Energie, Verkehrstoten, radioaktiver Verseuchung, scheinbar unvermeidbaren Kriegen zur Terrorbekämpfung und der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen werden bislang lediglich noch nicht als bedrohlich genug wahrgenommen, oder ihr Zusammenhang mit einer vom falschen Selbst geprägten Lebensweise bleibt verleugnet.
Mit den «Grünen» ist das Bewusstsein für die Folgen unserer Lebensweise gewachsen, so dass heute jeder täglich über die selbsterzeugten Krisen und die bedrohlichen Folgen informiert wird. Nichts ist mehr gesichert: weder der Euro noch der Dollar, weder die Arbeitsplätze, die Renten und die Krankenversorgung noch unsere Ersparnisse und schon gar nicht der Lebensstandard. Selbst Nahrung, Luft, Wasser bergen zunehmend und unübersehbar gesundheitsschädigende Risiken. Wir alle wissen das. Es ist faszinierend, mit welcher Menge von Wissen und Erkenntnissen die Verhältnisse analysiert und mit wie viel Ideen und Appellen Veränderungen angemahnt werden – und nichts passiert wirklich.
Ich kenne diese Situation aus der Suchtmedizin: Kein Süchtiger kann gerettet werden, keine Hilfe macht Sinn, wenn nicht vom Kranken selbst eine grundsätzliche Kapitulation des bisherigen Verhaltens akzeptiert wird. Dies aber wird in den allermeisten Fällen erst demjenigen möglich, der richtig «in der Gosse liegt». Erst das reale Ende der Abwehr und die tatsächliche Lebensbedrohung schaffen eine Chance zur Einsicht und Veränderung. Nicht die Vernunft, das Wissen oder gar die Einsicht in die Notwendigkeit lassen umsteuern, sondern die nackte Bedrohung des Überlebens. Diese schlimme Wahrheit müssen wir auch für die gesellschaftliche Fehlentwicklung der Gegenwart befürchten.
Im Verständnis der narzisstischen Störung liegt aber auch eine Erklärung für diese Irrationalität. Der Narzisst kann von seinem falschen Leben nicht lassen, ohne dass ihm Verlust und Verletzung, Demütigung und mangelhafte Entwicklung des wahren, echten Lebens bewusst werden. Geschieht dies unvorbereitet, beispielsweise durch einen Verlust, eine Trennung oder ein Unglück, begehen manche lieber Suizid, als dass sie die innere Auseinandersetzung mit ihrem schmerzvollen Schicksal annehmen.
Die Schuldengesellschaft ist eine kollektiv ausgeformte Suchterkrankung, bei welcher der Staat der Drogenproduzent, die Banken die Dealer, die Wirtschaft das Drogenkartell und die Bürger die Abhängigen sind. Schuldenmachen, das heißt mehr Geld ausgeben, als man wirklich verdient hat, verschafft geborgten künstlichen Reichtum und spiegelt exakt die narzisstische Notwendigkeit wider, sich aufzublasen, etwas herzumachen und sich selber etwas vorzumachen, um der eigentlichen Bedürftigkeit – der Beziehungssehnsucht – zu entkommen. Ein Entkommen aus der Schuldenfalle ist bei narzisstischer Störungsgrundlage nicht möglich, da die notwendige Begrenzung, die erforderliche Bescheidenheit und Sparsamkeit die seelische Ersatzstabilisierung gefährden oder sogar zusammenbrechen lassen würden. Wider alle Vernunft und trotz allen Wissens wird deshalb ein bescheideneres Leben, das sogar die Potenz hätte, entspannter und glücklicher zu machen, nicht angenommen. Denn vor dem Lustgewinn infolge des Ausbleibens von Statusstress und Geldsorgen steht die Verarbeitung des narzisstischen Elends. Die jedoch hat kaum eine Chance. Um eine Gesellschaft umzusteuern, ein Leben ohne materielles Wachstum und Schulden ausgestalten und genießen zu können, bräuchten wir eine Führungsmannschaft in Politik und Wirtschaft, die frei wäre von narzisstischer Problematik. Die erforderliche Führungsqualität wäre nur Menschen zuzusprechen, die zur narzisstischen Regulation nicht mehr Gewinn und Boni benötigen und deshalb nicht mehr in Gefahr sind, gegen die Bedürfnisse des Gemeinwohls, gegen natürliche Bedingungen und die Interessen zukünftiger Generationen zu handeln. Führungskräfte, die auf der Basis stabiler Selbstsicherheit entscheiden und handeln können, müssen nicht ihr Ego ständig bedienen, sondern fühlen sich als soziale Persönlichkeiten ohne jede weitere Bedingung der Gesamtheit, dem Gemeinwohl und auch dem armen und kranken Nachbarn verpflichtet.
Ich bin mir sicher, dass es zur Natur des Menschen gehört, in Frieden und Freundschaft zu leben, Liebe zu empfangen und zu geben, hilfsbereit zu handeln und solidarisch zu denken und zu entscheiden. Nur frühe Lieblosigkeit, Kränkung, Verletzung, Mangelversorgung, Gewalt und Verlassensein machen den Menschen übermäßig egoistisch, antisozial, brutal und süchtig. In diesen Fällen ist der Mensch aber auch schwer krank und gezwungen, eine kranke Gesellschaft auszugestalten, um seinen Störungen und Behinderungen die angemessene Bühne zu verschaffen und trotz aller Fehlentwicklung glauben zu können, gut und erfolgreich zu leben. Aber es ist eben nur das falsche Leben, das so hartnäckig verteidigt und umkämpft wird.