22 Liebe versus Narzissmus

Die schwierigste Frage in der Beurteilung oder Bewertung der Beziehung zu Kindern ist das Motiv der Betreuung. Liebe zum Kind setzt Liebe zu sich selbst voraus. Nur wer sich selbst wirklich mag, wer also im besten Sinne narzisstisch in seinem Selbstwert, in der Selbstliebe gesättigt ist, kann sich auch einem anderen liebend zuwenden. Liebe ist die Fähigkeit, einfühlend beim anderen sein zu können, ihn freilassend so zu verstehen und anzunehmen, wie er wirklich ist (und nicht, wie er sein soll). Liebe ist also übertragungsfrei – es werden an den anderen keine Erwartungen gestellt und keine Enttäuschungen übermittelt.

Natürlich weiß ich, dass alle Eltern Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen und auch Ängste und Sorgen hinsichtlich der Entwicklung ihrer Kinder haben und dass diese auch aus Liebe zu ihnen resultieren können. Der entscheidende Unterschied liegt hier in der Motivation der emotionalen und auch fordernden Zuwendung an die Kinder: Brauchen die Eltern für ihre narzisstische Regulation, für das Gefühl, gute Eltern zu sein, oder für die Anerkennung «der Leute» («Was sollen die Leute sagen?») brave, fleißige, erfolgreiche, anständige, «wohlerzogene» Kinder, oder gilt das elterlich liebende Interesse dem Wohlergehen des Kindes, dem Entdecken und Fördern seiner Möglichkeiten und der Akzeptanz seiner Begrenzungen – auch wenn es nicht der familiären oder sozialen «Norm» entspricht. Der Grat zwischen den Motiven ist sicher schmal, aber er lässt sich immer wieder zugunsten freilassender Liebe begehen.

Eltern werden natürlich nie ihren Ärger, ihre Enttäuschung, ihre Angst und ihren Stolz über die Entwicklung des Kindes verbergen können – und warum auch? Auf diese Weise entsteht immer ein manipulativ-suggestiver Einfluss, der gar nicht expressis verbis ausgedrückt werden muss, um Wirkung bei den Kindern zu erzielen. Hier ist es entscheidend, ob die Eltern in der Lage sind, ihre Gefühle und Reaktionen auf das Kind als ihr Erleben verständlich zu machen, gerade auch wenn es um elterliche narzisstische Bedürfnisse geht, etwa: «Ich ängstige mich um dich, weil ich es schwer aushalten könnte, wenn dir etwas zustoßen würde», «Ich bin stolz auf dich, weil ich mich dann als gute Mutter/guter Vater fühlen kann», «Ich ärgere mich über dich, weil ich mit deinem aggressiven Verhalten viel Arbeit und Stress habe», «Ich würde gern besser verstehen, warum du meine Bitten und Forderungen nicht mehr erfüllst». Ein solcher Kommunikationsstil («Ich-Botschaften») macht dem Kind deutlich, was die Eltern bewegt und wie sie fühlen. Das ist eine ganz andere Basis für die unvermeidbare Auseinandersetzung mit den elterlichen und den eigenen Bedürfnissen, als wenn das Kind zum Beispiel hören muss: «Ich ängstige mich um dich, weil du so unbeherrscht bist», «Ich bin stolz auf dich, weil du der Sieger bist», «Ich ärgere mich über dich, weil du so unordentlich und frech bist».

Liebe ist das Bemühen um ein möglichst gutes Verstehen, wie der andere ist, wie er denkt und fühlt – eine derart gelingende Empathie ist die entscheidende Quelle für die narzisstische Sättigung. Aber Empathie lässt sich nicht machen, nicht erlernen, sondern nur freisetzen. Empathisch wird, wer sich selbst gut versteht und nichts mehr (vor sich selbst) verbergen, verleugnen, sich zurechtbiegen und beschönigen muss. Eine solche Selbsterfahrung wäre die wichtigste Aufgabe für «Elternschulen», um die narzisstische Schädigung von Kindern auf ein möglichst niedriges Niveau zu senken. Einfühlendes Verstehen ist das Gegenteil von Erziehung gemäß bestehenden Regeln, Normen und Empfehlungen. Empathie schließt per se alle natürlichen Regungen und die daraus folgenden notwendigen Reaktionen ein. So bedeutet Liebe Freilassen und Begrenzen, Bestätigen und Kritisieren – abhängig von der Situation, in der sich das Kind befindet, und davon, welche Antwort es für sein jeweiliges Problem braucht. Dies wird nie optimal gelingen, weil es schon schwierig ist, das eigene Empfinden wahrzunehmen und dessen Motive zu verstehen. Erst recht ist es schwierig, mitfühlend zu erkennen, was im Kind wirklich vorgeht – eigentlich eine unlösbare Aufgabe, aber umso mehr bedarf sie der kontinuierlichen Aufmerksamkeit und Anstrengung.

Die Realität sieht leider häufig anders aus. Die Verleugnung, Verzerrung und Beschönigung innerseelischer Zustände ist soziale Gepflogenheit und bildet die übliche Erziehungsnorm. Wir wissen, dass die Lüge die Basis für sozialen Frieden ist, aber das ist und bleibt ein sehr labiler Frieden. Jedes Stück Wahrheit bedeutet Kränkung und Erschütterung der Beziehung, führt aber in aller Regel lediglich zu neuen Anstrengungen in Sachen Wahrheitskosmetik. Trotzdem: In der Kinderbetreuung bleiben Wahrheit und Ehrlichkeit entscheidend für die gute seelische Entwicklung, weil das Kind weniger auf die Worte als auf die Beziehung reagiert. Am Anfang des Lebens, wenn die Sprachsymbolik noch nicht ausgebildet ist, ist die Beziehungsqualität für das Kind die prägende Orientierung: Tonfall, Mimik, Gestik, emotionale Befindlichkeit der Bezugsperson, die Art, wie das Kind angeblickt, berührt und gehalten wird, vermitteln ihm Zuneigung, Verständnis oder Ablehnung und Unverständnis. Das Kind spürt, ob es geliebt wird oder nicht. Bei einer narzisstisch bedürftigen Mutter kann sich das Kind schwerlich «im Glanz der Augen» seiner Mutter spiegeln, es verhält sich geradezu umgekehrt: Eine solche Mutter möchte sich in den Augen des Kindes spiegeln. Da sie selbstunsicher ist, erhofft sie eine Aufwertung durch das Kind und durch ihre bemühte Mutterschaft: Sie braucht ihr Kind als Selbstobjekt. Sie erlebt das Kind als ein Teil von sich und nicht als ein eigenes, abgegrenztes Subjekt.

Schwangerschaft, Geburt und Stillen befördern einen solchen Missbrauch des Kindes zur narzisstischen Regulation und Selbstaufwertung durch Mutterschaft («mein Kind» – als wenn es die Mutter selbst geschaffen hätte). Deshalb haben narzisstisch gestörte Mütter größte Schwierigkeiten, ein Kind loszulassen. Wenn es sich nicht mehr wie ein Säugling und Kleinkind versorgen lässt, geht dem mütterlichen Narzissmus mit der (unvermeidbaren) Verselbständigung des Kindes und dessen Entfernung von der Mutter eine wesentliche Kompensation verloren. Solche Mütter kommen deshalb zunehmend in eine Krise, die depressiv bzw. psychosomatisch abgewehrt wird, oder sie verschärfen die Anstrengungen, das heranwachsende Kind an sich zu binden (eine wesentliche Quelle der «pubertären» Konflikte). Narzisstische Mütter sind immer im Begriff, ihre «gute Mütterlichkeit» herauszukehren, aber der Eindruck, dass das nur bemüht, angelernt und angestrengt ist, bleibt dem Kind nicht verborgen. Viele Mütter klagen dann, dass ihre beflissenen Bemühungen um das Kind nicht mit erwarteter Dankbarkeit (durch leuchtende Kinderaugen und glückseliges Lächeln) quittiert werden. Sie neigen dazu, sich darüber zu beklagen, dass ihr «redliches» Bemühen nicht anerkannt wird und der erwünschte Erfolg (Bestätigung guter Mütterlichkeit) ausbleibt («undankbares Kind», «schwieriges Kind»), oder sie führen Angriffe gegen den Vater, die Schule etc.

Natürlich ist das Bemühen um gute Mütterlichkeit höchst ehrenwert und unbedingt zu unterstützen, aber die verborgene narzisstische Bedürftigkeit der Mutter (oder auch des Vaters) lässt sich nun einmal nicht über das Kind erfüllen. Die Borderline-Mütter spielen «erwachsen» und sind in ihrem realen Erwachsensein ständig auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Die narzisstischen Mütter spielen die besonders gute Mutter und laufen dabei Gefahr, das Kind mit verlogener, falscher Mütterlichkeit zu «vergiften». Welche Störung bei einer Mutter vorliegt, ist nicht so entscheidend wie die Struktur der Lüge, die dem Kind vermittelt wird. Wenn die Borderline-Mutter etwa sagt: «Du bist böse, geh weg!», müsste die Aussage in Wahrheit lauten: «Ich habe große Schwierigkeiten, Mutter zu sein, und brauche deshalb Hilfe.» Oder wenn die narzisstische Mutter erklärt: «Ich liebe dich ganz und gar», so müsste sie in Wahrheit sagen: «Ich bin in meiner Liebesfähigkeit begrenzt, das tut mir leid, das liegt nicht an dir.»

Bei der Beratung von Müttern sollte die begrenzte Mütterlichkeit[8] thematisiert werden. Das eigene narzisstische Defizit zu erkennen, zu verstehen und emotional zu verarbeiten ist die beste Voraussetzung, wirklich gut Mutter oder Vater sein zu können. Das Kind reagiert viel mehr auf die Qualität der Beziehung, auf die unbewussten Motive der erfahrenen Zuwendung als auf die formale Versorgung. Reichliche Geschenke und großzügige materielle Ausstattung sättigen ein Kind eben nicht wirklich narzisstisch, können aber den Konflikt des Kindes verstärken, wenn ihm vorgehalten wird, dass es doch alles, was es wolle, auch bekomme und dennoch so undankbar und schwierig sei.

Eltern stehen in der Verantwortung, ihre eigene narzisstische Problematik so gut wie möglich regulieren zu lernen, ohne sie über die Kinder auszuagieren. Und sie können natürlich auch bemüht sein, dem Kind die eigene Not und Begrenzung zu vermitteln. Es ist ein entscheidender Unterschied für die Entwicklung des Kindes, ob es lernen kann, was bei den Eltern gut und schlecht ist, oder ob es sich verantwortlich und schuldig für das Befinden der Eltern erleben muss. In zwei Sätzen: Alle Eltern sind begrenzt und fehlerhaft. Kinder sind nicht verantwortlich und tragen keine Schuld an dem Befinden der Eltern.

Die sehr schwierige Differenzierung zwischen falscher, aus narzisstischer Bedürftigkeit begründeter «Liebe» und echter Liebe will ich an einem kleinen Beispiel illustrieren. Wir können immer wieder miterleben, wie kleine Kinder für etwas, das sie gerade gelernt haben oder ausprobieren, auffällig stark gelobt werden: «Ja, ganz toll – das hast du ganz fein gemacht!» Der Tonfall ist dabei meist etwas lauter, mitunter auch schrill – und das Kind freut sich. Aber eigentlich würden ein freundlicher Blick und eine bestätigende Geste genügen, ohne großes Getue. Wenn das Lob des Kindes vor allem der narzisstischen Bestätigung von Mutter und Vater dient, lernt das Kind ungewollt und unbewusst, seine Leistungen an die Bedürfnisse des Erwachsenen zu knüpfen, und wird so allmählich, aber sicher ins falsche Leben geführt; das heißt, am Ende ist es nicht für sich, sondern für andere erfolgreich. Ohne eine solche elterliche Bedürftigkeit bleibt das Kind im Mittelpunkt. Freude und Sorge der Eltern müssen dann nicht besonders herausgestellt werden: Sie übermitteln sich mit Blicken und Gesten und ruhigen, erklärenden, kommentierenden Worten, die sich auf die Realität des Geschehens beziehen und nicht auf die elterlichen Erwartungen.

Die Qualität der elterlichen Reaktionen auf das Kind ist sicher nicht einfach zu analysieren und lässt sich nur durch die genaue Erforschung der jeweiligen Motive erhellen. Der gesunde Erwachsene braucht nicht die Erfolge des Kindes, er kann sich über etwas bestätigend freuen oder auch etwas bedauern – und das ist etwas anderes, als wenn das eigene Wohlgefühl oder Unwohlsein vom Verhalten des Kindes abhängt. Der gesunde Erwachsene hat Kinder, für die er ganz selbstverständlich die elterliche Funktion und Verantwortung übernimmt, lebt sein eigenes Leben aber auch in relativer Unabhängigkeit vom Kind. Narzisstisch gestörte Eltern brauchen ihr Kind, um sich zu bestätigen; sie betonen in übertriebener Weise jeden Erfolg des Kindes und leiden übermäßig unter dessen Problemen, weil sie kein eigenes befriedigendes Leben führen können. Selbst das Leiden an ihren Kindern dient dann der Ablenkung von den eigenen narzisstischen Lebensschwierigkeiten.