10 Der Schatten des Narzissmus

Die narzisstische Regulationsnotwendigkeit

Das frühe Liebes- und Bestätigungsdefizit bleibt eine schmerzhafte Wunde das gesamte Leben lang. Eine wirkliche Ausheilung gibt es nicht. Jeder mit einem narzisstischen Mangel behaftete Mensch ist gezwungen, nach Ersatz zu suchen, für die nicht abgeführte Bedürfnisenergie andere Ausdrucks- und Abfuhrmöglichkeiten zu finden. Deshalb lässt sich ein gesundheitsschädigendes Verhalten, wie es etwa durch falsche Ernährung oder Rauchen, durch Arbeits- oder Spielsucht entsteht, nicht einfach aufgeben. Wer dies versucht, wird sehr bald die Ergebnislosigkeit seines Bemühens erfahren oder sich in einem ähnlichen Teufelskreis wiederfinden, nur dass das schädigende Verhalten oberflächlich ein anderes geworden ist. Unterm Strich bleibt das Elend gleich, es wechselt nur seine Form.

Die Regulation durch Kompensationsbemühungen und Ersatzbefriedigung will vor allem das Wiederauftreten der Symptomatik des frühen Schmerzes verhindern. Deshalb bedeutet jedes Nachlassen der Abwehrkräfte, wie es etwa durch Enttäuschung, durch Erschöpfung, durch Krankheit und Berentung, durch Verluste und Trennungen geschehen kann, ein hohes Risiko für schwere Krisen, Konflikte und Symptome. Wird dem Narzissten die «Spielwiese» seiner Eitelkeit entzogen, ist er in seinem Überlebenskampf schwer bedroht und sieht sich zu einem raschen Wechsel des «Objekts seiner Begierde» gezwungen. Deshalb ist das Altern mit den bekannten Einschränkungen an Schönheit, Gesundheit, Attraktivität, erotischer Ausstrahlung und sexueller Aktivität für viele eine schwere Belastung und kann von ihnen nicht als ein natürlicher Vorgang gestaltet werden. Da einem Menschen mit narzisstischer Störung die Überzeugung fehlt, dass er grundsätzlich in Ordnung ist und das nicht erst beweisen muss, hat er nicht gelernt, einfach so zu leben, sondern nur, wie er überleben kann. Deshalb erzeugt eine Veränderung oder gar ein Verlust der eigentlichen Überlebensmöglichkeiten eine solche Verunsicherung. Im Grunde steht er mit dem Verlust der Kompensationschancen nackt und selbstunsicher vor der Realität.

Es ist deshalb immer risikoreich, sein Leben zu verändern, selbst wenn dies notwendig sein sollte. Kommt es aufgrund der angestrebten Verhaltensänderung zu einer wesentlichen Einbuße an narzisstischer Regulation, so bleibt der Versuch erfolglos oder führt bald zu neuen Belastungen und Krisen. Wir wissen inzwischen etwa, dass Diäten meistens das Gegenteil von dem bewirken, was sie verheißen: Sie machen letztlich noch dicker und krank dazu. Neue Forschungen und Erkenntnisse zu Stoffwechselprozessen erklären, weshalb sich der Körper nicht einfach in ein Ernährungskorsett zwingen lässt. wie er diätetische Empfehlungen untergräbt und gezielt gegensteuert. Der Wille kann den Körper nicht einfach besiegen.

Versteht man allerdings den Willen als einen geistig-körperlichen Vorgang, so müsste die modifizierte Aussage lauten: Ein kranker Körper lässt sich nicht durch einen kranken Willen heilen. Diäten sind an sich schon Symptome einer narzisstischen Illusion, aber höchst profitable Suggestionen in einer narzisstischen Gesellschaft. Der adipöse Körper ist sehr häufig – selbst bei Berücksichtigung genetischer Veranlagung – ein seelischer Schutzmantel durch Fett. Die Körperdicke schützt vor allzu großer Nähe, sowohl in der ästhetisch-erotischen Anziehung als auch unmittelbar körperlich – Fett schafft Distanz. Und mit der Selbstabwertung infolge des Übergewichts und dem ewigen Kampf um die Kilos ist für ständige – aber letztlich sinnlose – Ablenkung vom eigentlichen Leid im «Körperkern» gesorgt. Der Kern ist «wohlverpackt».

Ernährung und Körpergewicht spielen eine zentrale Rolle bei der narzisstischen Regulation. Es leuchtet auch ein, dass der Mangel an Liebeszufuhr durch Nahrung ersetzt wird, vor allem wenn sie so vielgestaltig, verführerisch lecker und preisgünstig überall zu haben ist, wie es in der westlichen Welt der Fall ist. Nahrung und Alkohol bieten deshalb auch die häufigsten, schnell und leicht zu beschaffenden Ersatzbefriedigungen bei narzisstischer Bedürftigkeit. Wer wirklich abnehmen will, muss nicht beim Essen anfangen und auch nicht mit anstrengenden Bewegungen, sondern bei dem durch narzisstische Defizite verursachten Stress. Solange diese Defizite nicht erkannt und die damit verbundenen Spannungen abgeführt sind, wird man auch nicht abnehmen können. Der Narzissmus nährt sich von Fett.

Die Zunahme der Adipositas (Fettleibigkeit) ist eine verhältnismäßig sichere Indikation für das zunehmende narzisstische Problem vieler Menschen. Aber auch die besonders Schlanken sind nicht frei von narzisstischer Not. Sie werden zwar häufig ob ihrer Figur bewundert und gelobt, aber die Qual der eingeschränkten Ernährung oder der Fitnesssucht wird dabei zumeist übersehen. Die Schlankheit kann eben auch das Ergebnis eines narzisstischen Ringens um das äußere Erscheinungsbild sein. Das Größenselbst fordert den schlanken Körper, während sich das Größenklein dem Leid der Adipositas ergibt.

Beim Rauchen geht es ebenfalls um orale Zufuhr, um die Inhalation eines «Dunstes» und um eine dann betonte Ausatmung. Als wenn man sich der Lebendigkeit vergewissern möchte: sich das Leben – tief einatmend – nehmen. Die sprachliche Doppelbedeutung von «sich das Leben nehmen» – als das Recht auf Leben und als Ausdruck des Todeswunsches bei behinderter Lebendigkeit – wird im Rauchen besonders deutlich: als einatmende Lebensgier und inhalierte Lebensbedrohung.

Wer mit dem Rauchen aufhören will, ist also gut beraten, sich eine andere orale Ablenkung zu organisieren. Man kann vieles tun, um von der Zigarette zu lassen und trotzdem auf das bedeutungsschwere (narzisstisch betonte) Ausatmen nicht verzichten zu müssen: intellektuelles Gerede, politische Phrasen, externales Geschwätz, aber auch Vorträge, Gesang, Musizieren, Geschichten erzählen, Witze reißen.

Das Rentenalter bringt für viele nicht die ersehnte Entlastung, sondern führt zu einem wesentlichen Verlusterleben, das zuweilen Krankheiten auslöst oder sogar zu einem raschen Tod führt. Dass Politiker an der Macht «kleben», ist in aller Regel ebenfalls auf einen narzisstischen Regulationszwang zurückzuführen, damit das Erlebnis der eigentlichen inneren Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit nicht wiederkehrt. Der politische Gegner dient der Stabilisierung, indem man sich kämpferisch mit ihm auseinandersetzt, der Konkurrent vermittelt Halt, indem er einem Anstrengung und Erfolg abverlangt, der Termindruck löscht alle Gefährdungen aus, die durch Besinnung auf tief verborgene Ängste und Unsicherheiten entstehen könnten. Pflicht, Disziplin und Ordnung sind die Taktgeber einer Lebenslast, die die verhinderte und fehlende Lebenslust vergessen machen.

Großartige Gelegenheiten, den tiefen Lebensfrust vermeintlich zu erklären, bietet ein «undankbarer», «dummer», «böser» Partner. Der Narzissmus erweist allen Zwängen, Schwierigkeiten, Ungerechtigkeiten, Bedrohungen und Feinden seine Reverenz. Sie geben ihm die Chance zu überleben. Gäbe es keine Probleme, der Narzisst müsste sie erfinden. Das ist für ihn selbst schon schlimm genug, aber wenn er darüber hinaus dazu beiträgt, Liebe in Konflikte zu verwandeln, Frieden zu verhindern und Versöhnung auszuschließen, wird das schmerzhafte narzisstische Defizit zur Quelle großer Schuld, mit der auch andere auf schwerwiegende Weise belastet werden.

Der Narzisst braucht stets ein Feld, auf dem er sich beweisen und hervortun kann. Oder er muss Konflikte schüren, um der Ablenkung und des Ersatzleides willen. Der Narzisst im Größenselbst schafft sich Anstrengung und provoziert das Böse. Der Narzisst im Größenklein benötigt negative Erfahrungen, er fühlt sich auf tragische Weise nur im Leid «wohl» – darin kennt er sich aus, das bestätigt sein Weltbild –, und er wird deshalb stets für unglückliche Beziehungen, schlechte Arbeitsverhältnisse und ungerechte soziale Bedingungen sorgen. Menschen mit narzisstischen Störungen brauchen problematische und leidvolle gesellschaftliche und soziale Verhältnisse, die ihnen helfen, ihr wirkliches Leid zu vertuschen und zu vergessen.