Gesunder Narzissmus
Ein gesunder Narzissmus ist die Grundlage für erlebten Selbstwert und gelebtes Selbstvertrauen. Die empfundene Selbstliebe ist das Ergebnis durch Zuwendung, Einfühlung, Bestätigung und Befriedigung individueller Bedürfnisse erfahrener Liebe. Selbstliebe ist also in ihrem Ursprung von Fremdliebe abhängig. Das Kind braucht Eltern, die in der Lage und bereit sind, gemessen an den Bedürfnissen des Kindes, ausreichend Zeit für das Kind aufzubringen, sich in die Bedürfniswelt des Kindes einzufühlen und angemessen erfüllend und befriedigend auf die Äußerungen des Kindes zu antworten. Der feine, aber entscheidende Unterschied liegt darin, ob man wirklich willens und in der Lage ist, die Innenwelt des Kindes empathisch wahrzunehmen, oder eher geneigt ist, dem Kind die eigenen Vorstellungen und Erwartungen, wie es denn sein soll, zu vermitteln. Das Letztere geschieht am häufigsten und zumeist auch unreflektiert mit der Überzeugung, dass man als Eltern schon wisse, was für das Kind am besten und richtig sei, und im Glauben, dass man doch nur das Beste für das Kind wolle. Dazu bedarf es in einer aufgeklärt-liberalen Gesellschaft keiner autoritären Gewalt mehr, sondern nur der Macht manipulierender Suggestion, für die jedes kleine Kind in besonderem Maße anfällig ist. So wird das Kind über Blickkontakt, Mimik, Gestik, Tonfall und Stimmungen mehr beeinflusst als über alle klugen Worte und vernünftigen Argumente. Gute Eltern und erfolgreiche Erzieher brauchen weniger pädagogisches Wissen als Selbsterkenntnis und ein damit übereinstimmendes Handeln. Das Kind benötigt klare Ansagen, Führung und auch Begrenzung, um sich in der Welt allmählich zurechtzufinden und dabei sich und andere unterscheiden zu lernen. Dafür sollten die elterlichen Mitteilungen authentisch sein; Aussage und echtes Gefühl sollten übereinstimmen und nicht angelernt wirken oder mit der Absicht der Manipulation verknüpft sein.
Alle meine psychotherapeutischen Erfahrungen weisen darauf hin, dass sich dem Kind die Einstellung und Haltung der Eltern – selbst wenn sie ihnen unbewusst sind – viel stärker übermitteln als ihre Worte, vor allem wenn diese nicht wirklich aus dem Herzen kommen. Die Praxis zeigt immer wieder, dass selbst redlich um ihre Kinder bemühte Eltern narzisstische Defizite bewirken, weil sie nicht wirklich in der Lage sind, ihre Kinder empathisch wahrzunehmen und zu verstehen. Bei einer Differenz zwischen der elterlichen Aussage und der unausgesprochenen Haltung der Eltern wird beim Kind immer die stillschweigend übermittelte Einstellung der Eltern in der seelischen Tiefe wirken. Das Kind empfindet mehr, als es versteht. Gefühle und Wahrnehmungen sind unabhängig von jedem erklärten pädagogischen Einfluss die wesentlichen Wirkfaktoren der kindlichen Entwicklung. Deshalb können in scheinbar besten Verhältnissen aufgewachsene Kinder unerwartet kriminell oder gar zu Amokläufern werden, weil die elterliche Zuwendung nicht echt war; Kinder aus ärmlichen Verhältnissen hingegen oder solche, die in einer Umwelt mit erheblichen sozialen Problemen aufgewachsen sind, können durchaus hochanständige Menschen werden, wenn die elterliche emotionale Versorgung ausreichend gut war.
Über Wohl oder Wehe des Kindes entscheidet nicht die Erziehungsform, sondern die Beziehungsqualität, das heißt die zumeist unbewussten Überzeugungen, Einstellungen und Motive des elterlichen Handelns. Diese lassen sich nicht durch Ratgeber oder Kurse erfassen und optimieren, sondern nur durch Selbsterfahrung. Die Selbstliebe, Zufriedenheit, Ehrlichkeit und Authentizität der elterlichen Psyche ist die Basis für einen gesunden Narzissmus der Kinder. Ist sie vorhanden, wird das Kind unverzerrt gespiegelt; es erfährt nicht nur echohafte Zuwendung, vielmehr werden durch eine originäre und unverfälschte Kommunikation Bestätigung, Anregung, Auseinandersetzung, Begrenzung und Andersartigkeit übermittelt. Das Selbst bildet und entfaltet sich im Spiegel freilassender, liebevoller Bestätigung, akzeptierender und erklärbarer Verschiedenheit und verstehbarer Begrenzung. So erfährt der gesunde Narzisst im Laufe seiner Entwicklung immer besser, wer er wirklich ist, wie er sich von allen anderen unterscheidet, worin er verbunden ist mit anderen und worin er anders ist.
Begrenzung wird nicht als leidvolle Schmach oder Schuld erlebt, sondern als unvermeidliche Realität. Sie wird nicht zum unheilvollen Antreiber sinnloser Bemühungen, sondern ist Anlass, die eigenen Möglichkeiten zu nutzen und Stolz auf die individuelle Einmaligkeit zu erleben. Lebenslust erwächst aus der Selbstverwirklichung und nicht aus erfolgreicher Nachahmung und fremdbestimmter ehrgeiziger Leistungssteigerung. Der gesunde Narzisst lebt aus sich heraus und für sich stets in Beziehung zur sozialen Gemeinschaft und in kritischer Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten. Ist die persönliche Verantwortung für alle Entscheidungen akzeptiert und besteht Einsicht in unvermeidbare Abhängigkeiten, so kann der fortwährende potentielle Konflikt zwischen Abhängigkeit und Autonomie dynamisch und nicht stereotyp – gemäß Vorschriften, Regeln und Gewohnheiten – gelöst werden. Dann fließt Lustgewinn aus verantworteter Autonomie und zugelassener Abhängigkeit.
Die lustvolle Spannung des Lebens entsteht aus der Wahl- und Entscheidungsfreiheit zwischen originärer Lebensgestaltung und Einsicht in die Notwendigkeit. In der akzeptierten und frei gewählten Abhängigkeit begegnen uns die Wirkungen gesunder Mütterlichkeit, in der lustvollen Gestaltung der Selbständigkeit die positiven Folgen unterstützender und ermutigender Väterlichkeit. «Alternativlosigkeit» kennt ein gesunder Narzissmus nicht; sie ist Ausdruck erheblicher narzisstischer Einengung. Gesunder Narzissmus findet immer Alternativen und dynamische Antworten in den unvermeidbaren Lebenskonflikten, für die es niemals die stets gleichen, einzig richtigen Antworten gibt.
Einem Menschen mit gesundem Narzissmus fällt es nicht schwer zu sagen, wer er wirklich ist, und zugleich zu realisieren, dass er sich dynamisch verändern kann. Er kann sich als liebenswerter Mensch sehen, kann seine Fähigkeiten entfalten und wird seine Begrenzungen ohne besondere Klagen akzeptieren. Er ist zufrieden mit der Fähigkeit, Bedürfnisse zu erkennen und diese sich im Rhythmus natürlicher Anspannung und Entspannung zu erfüllen. Der erlebte Selbstwert und die vorhandene Selbstliebe ermöglichen auch die Fremdliebe («Liebe deinen Nächsten wie dich selbst») und die Wertschätzung anderer mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Begrenzungen. Die eigene Zufriedenheit ist die Basis für eine abgestimmte Partnerschaft, in der nichts selbstverständlich ist, sondern alles empathisch verhandelt wird. Nur die eigene Selbstgewissheit ermöglicht auch Freundschaften und soziale Beziehungen, die nicht durch Übertragungen und Projektionen, also durch Erwartungen und Enttäuschungen, geprägt, sondern durch individuelle Möglichkeiten wechselseitig ergänzt und erweitert werden. Innerhalb der Gesellschaft wäre ein gesunder Narzissmus bei der Mehrheit der Bevölkerung Garant für einen sozialen Zusammenhalt, der nicht durch Erwartungs- und Leistungsdruck, Stärkekult, Karrierestreben, Profit- und Wachstumssucht unmöglich gemacht und zerstört wird.