16 Narzissmus und Pubertät

Pubertät ist keine Krankheit. Pubertät ist auch keine normale Entwicklungskrise. In der Altersgruppe der Zwölf- bis Achtzehnjährigen eskaliert vielmehr das narzisstische Defizit. Der Mangel an Liebe und Bestätigung wird nicht mehr widerspruchslos hingenommen. Die Wahrheit über elterliches Unverständnis und emotionale Mangelversorgung dringt immer mehr ins Bewusstsein der Heranwachsenden, lässt sich durch Ausreden und verlogene Erklärungen der Eltern nicht länger beschönigen und durch Unterdrückung und Einschüchterung nicht verhindern. «Pubertät» ist eine verständliche, notwendige, eigentlich gesunde Revolte gegen das verletzende, verlogene und einengende Elternregime. In der «Pubertät» bekommen die Eltern die Rechnung für ihre Fehler präsentiert. «Pubertät» ist der Protest der Kinder gegen schlechte Behandlung. Dabei meint «schlecht» nicht nur Gewalt und offensichtliche Vernachlässigung, sondern vor allem versteckter Liebesmangel, der sich besonders gern hinter betonter Zuwendung und materieller Überversorgung verbirgt. Es geht um die Empathiefähigkeit der Eltern, nicht um ihren Bildungs- und materiellen Versorgungsehrgeiz.

Jugendliche haben wichtige Entwicklungen zu gestalten. Sie werden geschlechtsreif und haben drängende sexuelle Bedürfnisse. Sie sind dabei, erste freundschaftliche und partnerschaftliche Beziehungserfahrungen mit dem anderen Geschlecht zu machen. Sie schließen die Schule ab und orientieren sich in Richtung Ausbildung und Beruf. Das alles erfordert Auseinandersetzung, Entscheidungen und die Klärung von Konflikten. Ganz neue soziale Erfahrungen müssen angenommen und verarbeitet werden. Immer geht es darum, die eigene Identität zu finden und Fremdanforderungen zu beantworten, Autonomie und Abhängigkeit immer wieder neu zu bestimmen. Selbstwert, Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit sind stark gefordert. Verständlich also, dass sich narzisstische Defizite jetzt besonders stark manifestieren. Die Dekompensation narzisstischer Störungen macht sich als Verhaltensstörungen, süchtiges Agieren (Computer, Drogen, Alkohol), somatisierte Beschwerden und, zugespitzt, als schwere psychische Erkrankungen bis hin zur Suizidalität bemerkbar. «Pubertät» zeigt sich so als nicht mehr zu kompensierende Krise narzisstischer Defizite. Dazu kommt das Unverständnis der Eltern, die vielleicht eine dunkle Ahnung haben, dass der pubertäre Protest auch Folge ihres Versagens sein könnte. Neigen sie zwecks Abwehr aufkeimender Schuldgefühle zu besonders heftigen Gegenreaktionen in Form von Verboten, Strafen, Gewalt oder Beschimpfungen, dann haben beide Seiten – Eltern und Jugendliche – ein Kampffeld gefunden, das vom narzisstischen Problem wirkungsvoll ablenkt.

Was könnte helfen? Die Eltern sollten verstehen lernen, dass das Verhalten ihrer pubertierenden Kinder Symptom und Folge ihrer Beziehungsstörungen ist. Mit dieser Einsicht und dem Verständnis für die Not ihrer Kinder sollte es ihnen gelingen, nicht mit Gegenaggression auf Protestverhalten zu antworten und mehr Empathie für die Entwicklungsprobleme der Heranwachsenden zu finden. Die Jugendlichen brauchen Raum und Zeit, um zu klagen, zu schimpfen, eigene Wege auszuprobieren und sich mitzuteilen, ohne belehrt, beschämt und kritisiert zu werden. Und wenn das die Eltern nicht schaffen, sollten sich die Jugendlichen an Onkel und Tanten, an Großväter und Großmütter, Lehrer, Trainer, Jugendfürsorger, Seelsorger oder Therapeuten wenden.