Pathologischer Narzissmus
Die im Folgenden beschriebenen Störungen der Selbstliebe sind weit verbreitet; es sind im Grunde durchschnittliche, also «normale» Störungen geworden. Sie signalisieren eine gestörte Normalität, mit der Folge, dass nur noch die extremeren Formen als Krankheit wahrgenommen werden. Die «Ansteckung» und Verbreitung der narzisstischen Störung mit ihren zerstörerischen und lebensbedrohlichen Folgen lässt sich, ähnlich der Pest im Mittelalter, kaum noch beherrschen.
Der pathologische Narzissmus entfaltet sich in zwei – einander entgegengesetzten – Richtungen: als übermäßige Selbstliebe (Größenselbst) und als mangelnde Selbstliebe (Größenklein). Beiden Varianten liegt eine wesentliche Störung des Selbstgefühls, der Selbstbezogenheit zugrunde. Das Selbst hat mehrere Facetten:
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eine differenzierte Vorstellung von der eigenen Person,
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ein qualifiziertes Selbstwertgefühl mit entsprechender Selbstwahrnehmung,
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das Wissen um die Art und Weise des individuellen Erlebens und Reagierens.
Das Selbst trägt die Würde des Menschen. Immer gibt es auch Selbstanteile, die einem nicht gefallen, die man gern verleugnet und vor anderen verbirgt. Je unsicherer das Selbstwertgefühl ist, desto mehr werden unliebsame Selbstanteile abgewertet, bessere Fähigkeiten und Eigenschaften ersehnt oder sogar als vorhanden phantasiert. Dabei wird das Selbsterleben gerne mit erworbenen und erlernten Fähigkeiten verwechselt, die wir als Funktionen des Ich verstehen, die aber nicht das Selbst repräsentieren. Mit dem Selbst ist die unverwechselbare, je einmalige Art des Seins zusammengefasst, in der sich die genetische Matrix, beeinflusst durch die frühen prägenden Beziehungserfahrungen und Umweltfaktoren, spezifisch ausgestaltet hat. Das Selbst wird einem mitgegeben und durch äußere Einflüsse geformt – das Individuum kann sein Selbst nur erfahren, in seinen Möglichkeiten und Grenzen erkennen und auf diesem Wege Verantwortung für die unverwechselbare Art des Daseins übernehmen.
Ich bin überzeugt davon, dass es jedem Menschen ein Urbedürfnis ist, die Struktur seines Selbst optimal zu entwickeln und zu entfalten, um das persönliche Leben in möglichst guter Übereinstimmung mit dem Selbst gestalten zu können. Zugespitzt kann man sagen, dass ein gesundes Selbst «charakterlos» ist. In jeder Lebenslage wird sich ein gesundes Selbst nach seinen Möglichkeiten zu verwirklichen trachten und dabei die Umweltfaktoren berücksichtigen – sich adäquat anpassen, sich durchsetzen und behaupten oder verhandeln und kämpfen, um die Bedingungen zu verändern. Das gestörte Selbst entwickelt einen «Charakter», der helfen soll, die Defizite des Selbst und die vollzogenen Entfremdungen zu beschützen und sich charakterlich festgelegt immer so zu verhalten, dass die Störungen des Selbst möglichst nicht schmerzen. Man kann in allen Lebenslagen selbst-synton (echt) leben, dann fühlt man sich authentisch und wohl; oder man muss selbst-dyston (unecht) reagieren, dann erlebt man sich als entfremdet, im Stress und ist unzufrieden mit sich und der Welt.
Im Unterschied zum vererbten und früh geprägten Selbst gestaltet der Mensch sein Ich mit erworbenen und erlernten Fähigkeiten – also mit Eigenschaften, die er sich durch Lehre, Übung, Training und Nachahmung aneignet. Das Selbst ist primär – angelegt und durch die Umwelt ausgeformt; die Ich-Leistungen hingegen sind sekundär – angelernt und in eigener Verantwortung ausgestaltet. Die Selbstanlage bringe ich mit, das Ich gestalte ich aus. Für das Selbst bin ich nicht verantwortlich, nur für den Umgang mit den Manifestationen des Selbst. Die Ich-Fähigkeiten unterliegen dem Willen, der Anstrengungsbereitschaft, den Interessen und natürlich auch hilfreicher Förderung oder hinderlichen Erschwernissen.
Für seine Ich-Leistungen ist jeder selbst verantwortlich: Welche Fähigkeiten will ich erwerben, mit welchen davon will ich es zur Meisterschaft bringen und welche will ich ablegen? Mit dem Ich lassen sich Selbstwertstörungen verschleiern oder besonders betonen. Gerade aufgrund der Defizite des Selbst bringen es manche Menschen zu hervorragenden Ich-Leistungen, etwa um das schmerzhafte Manko auszugleichen und vor anderen den Mangel zu verbergen. Alle herausragenden Leistungen im Sport, in der Wissenschaft, in der Kultur und Politik sind der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen verdächtig; denn nur die bittere Kränkung und der schmerzvolle Stachel der Selbstwertstörung liefern den Ehrgeiz, die Energie, im Grunde den Mut der Verzweiflung, um die Anstrengungen auf sich zu nehmen, großartige Leistungen zu vollbringen und unbedingt Sieger werden zu wollen.
Die im Charakter geronnene Störung oder Einengung des Selbst kann durch besondere Ich-Leistungen gemildert, vertuscht oder aber auch besonders hervorgehoben werden. So wird ein «gütiger» Charakter sicher gute Erfolge in einem Helferberuf erzielen; er sollte darüber hinaus aber auch imstande sein, Grenzen zu setzen und sich egoistisch zu behaupten, um nicht in einen vorzeitigen Erschöpfungszustand zu geraten. Ein «musischer» Charakter bringt gegebenenfalls gute Voraussetzungen für künstlerische Gestaltungen mit und sollte möglichst keinen Beruf im bürokratischen oder administrativen Bereich wählen; aber er sollte Ich-Fähigkeiten erwerben, das rational Notwendige gut erledigen oder delegieren zu können, um nicht allzu abgehoben und versponnen die Realitätsanforderungen zu vergessen. Ein «verletztes» Selbst tobt sich gerne gewalttätig aus, kann vielleicht ein guter Boxer werden, sollte aber Selbstbeherrschung als Ich-Leistung erwerben und einen ethischen Wertmaßstab entwickeln, um nicht ständig Streit zu suchen und eine gewaltbereite und am Ende auch kriegslüsterne Einstellung zu entwickeln. Ein «gekränktes» Selbst kann nach Machtstrukturen streben, mit deren Hilfe Rache geübt und Kränkungen weitergegeben werden. Deshalb sind moralische Gewissensbildung und demokratische Kontrollmechanismen so wichtig, um Macht- und Führungsfunktionen zu regulieren.
In der beschriebenen, vielfältigen Weise dienen Ich-Funktionen der Kompensation des gestörten Selbst oder der spezifischen Ausgestaltung der individuellen Lebensform. Das Ich ist veränderbar, beeinflussbar, entwicklungsfähig, dynamisch – das Selbst ist festgelegt und braucht Freiräume für seine Entfaltung und Kontrollmechanismen für seine Beherrschung, je nach seinem Reife- und Strukturniveau. Über die frühen Einflüsse, die das Selbst mit prägen, werden wir intensiv reflektieren und weiter forschen müssen; denn davon hängt die Lebenslust oder Lebenslast des Einzelnen und die Zukunft der Gesellschaftsentwicklung ab. Aber alle kompensierenden Ich-Funktionen können am Ende die Wirksamkeit des Selbst nicht wirklich verhindern oder verändern.
Der narzisstisch bestätigte Mensch ruht in sich und schwingt im Kommen und Gehen der eigenen Bedürfnisse, die er angemessen zu befriedigen, zu modifizieren oder zu verschieben versteht; hingegen bleibt der narzisstisch gestörte Mensch in ständiger Unruhe, Spannung und Unzufriedenheit, getrieben vom Wunsch nach echter Erfüllung, die schon längst auf immer verloren ist. Die Suche nach dem verlorenen Glück schafft Abenteurer, Pioniere, Entdecker und formt berühmte Persönlichkeiten. Die besonderen Erfolge der sekundären Ich-Leistungen erschweren aber die Bewertung der ungewöhnlichen Anstrengungen, die in ihrer Last und Not meistens nicht mehr erkannt und auch mit den häufig fragwürdigen und destruktiven Folgen ihres Schaffens nicht mehr in Verbindung gebracht werden. So hat noch jeder «Fortschritt» ungeahnte und unbeabsichtigte neue Probleme und Störungen hervorgerufen, die als Schatten des unerkannten narzisstischen Antreibers verstanden werden können.
Gegenwärtig müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie die hoch gepriesene Atomenergie zum zerstörerischen Fluch geworden ist. Wir haben erkennen müssen, wie Antibiotika dazu beitragen, neue gefährlichere Bakterien zu züchten. Die Freude an der Mobilität durch Autos und Flugzeuge wird durch das Abgasproblem getrübt, die moderne Pflanzen- und Tierproduktion vernichtet den natürlichen Kreislauf, vergiftet die Produkte und tötet Arten, der Informationsreichtum der computervernetzten Welt überreizt das Nervensystem, lässt die natürliche Neugier und Entdeckerfreude erlahmen, fördert Abhängigkeit und Süchtigkeit und produziert neue Kriminalität.
Wenn wir narzisstische Störungen als eine verhinderte und mithin eingeschränkte Selbstliebe begreifen, die durch besondere Leistungen aufgebessert oder sogar aufgehoben werden soll, können wir die Gefahr des Handelns aus narzisstischer Verletztheit erfassen. Die vorhandenen seelischen Kränkungen und Verletzungen werden durch Erfolge nur verschleiert und bemäntelt, sie wirken aber in der Tiefe weiter, um sich schließlich in unerwarteten Konsequenzen doch zu zeigen und sich nun destruktiv-energetisch abzureagieren. So hat jeder Erfolg seinen unheilvollen Preis, der oft erst viel später zu erkennen ist. Die destruktive Kraft des «Schattens» korreliert dem Grad nach in etwa mit dem Ehrgeiz des Engagements für die «gute Sache». Der heftige und oft auch verzweifelte Kampf um eine Sache verrät die narzisstische Quelle. Ohne ein narzisstisches Defizit könnten die Lebensfreude, die Lust und der Genuss aus der Erfüllung natürlicher Bedürfnisse für sich befriedigend wirken. Sie brauchen keine besondere kämpferische Anstrengung, keine ständige Steigerung, kein unbegrenztes Wachstum, keine Werbung, keine Programme, keine Trophäen und verweigerten sich einer Vermarktung. Auch die Grenzen der Befriedigungschancen würden bei gesundem Narzissmus akzeptiert und vielleicht bedauert, niemals aber verleugnet und als prinzipiell überwindbar eingeschätzt werden – wenn man sich nur richtig anstrengt.