20 Narzissmus und Altern

Joachim Fuchsberger betitelt sein Buch: «Altern ist nichts für Feiglinge». Aus meiner Sicht müsste der Satz lauten: Altern ist nichts für Narzissten! Wobei die Übereinstimmung wohl darin liegt, dass Narzissten «Feiglinge» sind, auch wenn sie gerade das nicht zugeben würden. Während das Größenselbst der Abwehr und Kompensation von Selbstunsicherheit dient, ist im Größenklein die «Feigheit» gleichsam Programm.

Der Größenselbst-Narzisst lebt von seinem Aussehen, von seinen Leistungen, von den Erfolgen und erarbeiteten Anerkennungen: Er braucht Schönheit, Jugendlichkeit, Schlankheit, Fitness, Gesundheit und erarbeiteten Erfolg zum Überleben. Deshalb boomen der Diätwahn, die Fitness- und Aktiverholungsprogramme, die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln und eine fast magische Heilungserwartung an die Medizin. Der Missbrauch medizinischer Kunst zu sogenannten Schönheitskorrekturen ist ein Riesengeschäft geworden. Welch ein tragischer Irrtum, die nicht zur Kenntnis genommene narzisstische Problematik operativ entfernen oder korrigieren zu wollen!

Wenn ein Narzisst alt, krank und gebrechlich wird, wenn er an Macht, Ansehen, Einfluss und Bedeutung verliert, dann hat er ein echtes Problem. Mit dem Wegfall der wesentlichen Kompensations- und Ablenkungsmöglichkeiten wird das narzisstische Defizit automatisch wieder «wund», was sich in wachsender Unruhe, Nörgelei, Weinerlichkeit, dysphorischer Verstimmung, in Streitangeboten, Vorwürfen, Rechthaberei und vor allem in der Zunahme körperlicher Beschwerden äußert, wobei die Beschwerden aus Alterungsprozessen und chronischen Erkrankungen der somatisierten Larmoyanz entgegenkommen. Der körperliche Schmerz ist dann im Grunde das Äquivalent für den aktivierten frühen Schmerz, der nicht mehr kompensiert und abgelenkt werden kann, aber auch nicht in seiner eigentlichen Verursachung wahrgenommen werden darf. Deshalb die Heftigkeit und Häufigkeit der psychischen, sozialen und körperlichen Beschwerden und Konflikte. So wird auch verständlich, dass die Verrentung eine häufige Todesursache ist. Mit ihr geht die narzisstische Hauptkompensation durch Berufstätigkeit verloren und die frei werdende Verletzungsenergie kann nicht mehr neu gebunden werden.

Dass veränderte Körperformen oder Falten im Gesicht das wahre Leben signalisieren, vermag der Narzisst nicht zu akzeptieren, weil er sein gesamtes bisheriges Leben auf Verleugnung der tiefen seelischen Verletztheit und auf Kompensation der Selbstwertproblematik aufgebaut hat. Innere Werte schätzt er nicht hoch genug ein, sie sind schwach und brüchig, abgewertet und beschädigt. Und jetzt gehen auch die äußeren Werte verloren – wie kann man da noch weiterleben? Man sollte narzisstische Probleme also möglichst früh erkennen, verstehen und so gut wie möglich verarbeiten, damit der natürliche Altersverfall nicht derart pathogene Wirkungen hervorruft, sondern als ein unvermeidbarer, zur Lebenskurve gehörender und spezifisch zu gestaltender Prozess angenommen werden kann – wie alle anderen Lebensphasen auch. Natürlich ist die Verführung groß, die bisherigen Abwehrbemühungen bis zum bitteren Ende fortzuführen – mit dem Ergebnis, dass man die bisherigen Rollen und Funktionen schlecht loszulassen vermag, Aufgaben und Verantwortung nicht weitergeben kann oder will. «Wer rastet, der rostet!», lautet die gängige Drohung, statt zu akzeptieren, dass der «Rost» lediglich unvermeidbares Zeichen des Vergehens ist und dementsprechend akzeptiert und sogar gewürdigt sein will. Nur – wer nie wirklich gelebt hat, sich nur im falschen Leben um Ansehen bemüht hat, für den ist «Rost» natürlich eine schwere narzisstische Kränkung, und mit seiner Wahrnehmung bricht die übertünchte narzisstische Verletzung unmissverständlich wieder durch.

Für den Größenklein-Narzissten stellt sich die Problematik des Alterns anders dar. Jetzt setzt sichtbar und erkennbar ein, was man ja schon längst erlebt hat: Gebrechlichkeit, Behinderung, Schwäche, Nichtkönnen. Die durch frühen Bestätigungsmangel erworbene, nahezu verordnete Selbstabwertung wird nun vollendet, erfährt ihren Höhepunkt. Das Leiden und Klagen nimmt unheilvolle Züge an, so dass tatsächlich reale Ablehnung in der Familie, im Krankenhaus, Alters- oder Pflegeheim droht. Die Unzufriedenheit und Nörgelei nimmt kein Ende, weil die realen Einschränkungen und Beschwerden des Alters das gesamte bittere Lebensleid gleichsam huckepack nehmen und nun scheinbar damit erklärt werden können. Lediglich die Diskrepanz zwischen der subjektiven Larmoyanz und der realen Situation verrät die verborgene Bedeutung. Werden Angehörige oder Pflegekräfte durch die Dysphorie zur Verzweiflung gebracht, erfährt das Größenklein eine späte, natürlich äußerst fragwürdige Genugtuung; einmal mehr trifft das Abreagieren die Falschen und statt wirklicher Erleichterung stellt sich Jammersucht ein. Ich habe einige Fälle von Demenz in meiner ärztlichen Praxis kennengelernt, bei denen sehr tüchtige, hilfreiche, herzensgute, sich aufopfernde Menschen infolge der dementen Veränderung egoistisch, brutal, gemein, sogar gewalttätig geworden sind, als hätten sie die hirnorganische Veränderung gewissermaßen gebraucht, um die im Größenklein permanent unterdrückte Aggressivität und den narzisstischen Anspruch endlich zum Ausdruck bringen zu können. Vielleicht müssen die hirnorganischen Abbauprozesse, die sich als Alzheimer-Erkrankung oder andere dementielle Prozesse manifestieren, auch im Dienste der somatisierten narzisstischen Abwehr gesehen werden. Der hirnorganische Abbau schützt – bei aller Tragik – vor der bitteren Erkenntnis des falschen Lebens.

So besteht die Aufgabe und Kunst darin, Altern nicht nur als Verlust zu erleben, sondern als einen spezifisch zu gestaltenden Lebensabschnitt zu verstehen. Um das Ende, die Endlichkeit des Lebens akzeptieren zu können, müssen vor allem die individuellen Begrenzungen gesehen und angenommen werden. Die Aufgabe ist, endlich zur Ruhe, zum Frieden mit sich und der Welt zu kommen, zur Zufriedenheit mit seinem gelebten Leben zu finden, mit allem darin eingeschlossenen Unglück.

Konkret heißt das, das Erfahrene zu verstehen, das Gesammelte zu ordnen, Unerledigtes abzuschließen, Kämpfe zu beenden und Beziehungen zu klären. Dazu bedarf es der emotionalen Verarbeitung, der Reflexion und der Mitteilung. Es geht nicht mehr um den Stolz der Erfolge und die Schmach der Niederlagen, sondern darum zu verstehen, wie und weshalb Erfolge möglich oder notwendig und warum Niederlagen unvermeidbar waren. Es geht nicht mehr um die Bewertung, sondern um die verstehende Einsicht, etwa auch dessen, dass mancher Erfolg unnötig, überflüssig, falsch und schädlich für einen selbst oder für andere gewesen ist und dass manche Niederlage wesentliche Erkenntnis, Entwicklung und Reife initiiert hat. So kann Frieden werden. Und man kann – so die optimale Variante der Bewältigung des narzisstischen Problems – in Ruhe abwarten und das Alltägliche tun und genießen, bis man an der Reihe ist, diese Welt zu verlassen.