19 Der narzisstische Sex
Charakteristisch für den Sex narzisstisch gestörter Menschen ist die Selbstobjekt-Verwendung des Partners bzw. der Partnerin.[7] Der Größenselbst-Narzisst will natürlich auch beim Sex bewundert werden; deshalb ist Leistung so wichtig und Liebe so gut wie ausgeschlossen. Der Größenklein-Narzisst hingegen will gefällig sein, will den Partner bedienen und ist um dessen Lust bemüht. Männer als Frauen- respektive Mutter-Bediener glauben tatsächlich, dass sie der Partnerin den Orgasmus machen können, sie glauben, es läge an ihrem richtigen Bemühen, an ihrer geschickten Technik und ausreichenden Ausdauer oder sogar nur an ihrer Schwanzgröße. Die damit verbundene Kränkungsgefahr hat viele Facetten: «Ich bin nicht willkommen», «Ich bin nicht gut genug», «Ich bin nicht attraktiv genug», «Ich mache es nicht richtig», «Ich halte mit der Erektion nicht durch», «Ich komme zu schnell».
Das Größenselbst fordert, dass man sich als begehrt erlebt, dass man Komplimente bekommt und gelobt wird. Der Partner muss vermitteln, dass man großartig war. Der Edel-Narzisst fragt nicht mehr, ob er gut war, er setzt es voraus und will das auch bestätigt bekommen. Als Mann legt er viel Wert auf Äußerlichkeiten, auf verschiedene sexuelle Techniken, auf Stellungswechsel – die Sexualität läuft nach einem bestimmten Schema ab, das sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend am typischen Ablauf der Pornoproduktionen orientiert: Blasen, vaginal, mehrere Stellungswechsel, anal und am Ende ins Gesicht ejakulieren oder so ähnlich. Das Programm muss ersetzen, was nicht gefühlt werden kann. Empathie für den Partner fehlt, Zärtlichkeit darf nicht das Herz berühren.
Frauen mit Größenselbst haben häufig ein Orgasmusproblem: Orgasmus soll sein, aber Hingabe fällt schwer – so kann kaum eine Lustwelle entstehen. Dann muss das Begehrtwerden oder die Verführungskraft das Ausbleiben körperlicher Lust kompensieren. Lautes Stöhnen und kräftiges, intensives Kopulieren kann helfen, «Lust» zu produzieren, indem der sexuelle Akt als ein besonderes Ereignis zelebriert und der «Orgasmus» als narzisstische Befriedigung und gerade nicht als energetisches Verströmen durch Loslassen erlebt wird. Manchmal ergibt sich die «Befriedigung» auch durch die bloße körperliche Erschöpfung oder die seelische Ermüdung des Interesses am Partner. Nicht gerade selten wird ein Orgasmus vorgetäuscht, wobei – folgt man den sehr unterschiedlichen Berichten lustvollen Erlebens – schwer einzuschätzen ist, was der oder die Einzelne wirklich als «Orgasmus» erlebt.
Gesunde orgastische Potenz ist ein komplexes Geschehen aus körperlichen, seelischen und beziehungsdynamischen Vorgängen und wird wohl am intensivsten erlebt, wenn sich beim Orgasmus körperlich-muskuläre Kontraktionen mit energetischem Strömen nach außen (etwa als liebevolle Zuwendung zum anderen) verbinden. Das «Senden» und «Empfangen» interessierter Zuwendung betrifft beide Geschlechter und ist nicht etwa identisch mit einer aktiven und passiven Rolle beim Sex. Beim narzisstischen Sex sind Körperlichkeit und Beziehung häufig getrennt: Es gibt eine betont körperliche energetische Abfuhr, wie beim Masturbieren, dazu wird der Körper des anderen nur benutzt. Und es gibt eine betont psychische Befriedigung, die aus narzisstischer Bedürftigkeit resultiert, etwa mit dem Gefühl, begehrt zu sein oder in einer guten Rolle geglänzt zu haben, aber auch mit dem Gefühl, den anderen gut bedient oder sich willig zur Verfügung gestellt zu haben. Manche fühlen sich erst dann narzisstisch bestätigt, wenn der Partner bzw. die Partnerin befriedigt und erschöpft ist.
Ein Verhalten des Mannes, das beim Sex nicht an der Frau, sondern nur an der eigenen sexuellen Potenz interessiert ist, provoziert bei der Partnerin verständlicherweise Unmut, Enttäuschung und Verweigerung. Frauen fühlen sich dann missbraucht, entwickeln Ekel vor dem Sperma oder dem gesamten Mann, und nicht selten entstehen Beschwerden und Symptome, die als Trockenheit, Penetrationsschmerzen oder auch als chronische vaginale Pilz- und Blaseninfektionen den Koitus erschweren oder unmöglich machen. Solche somatisierten Schwierigkeiten sind im Grunde angemessen, da der Sex vom Mann nicht aus Liebe und nicht einmal aus Triebbedürfnis begehrt wird, sondern seiner narzisstischen Bestätigung dienen soll.
Erektionsprobleme des Mannes gehen häufig auf Störungen des Größenklein zurück, sind also Folgen des narzisstischen Defizits – nicht berechtigt zu sein, nicht eindringen zu dürfen und in der Frau keine Partnerin erkennen zu können, die für das eigene Lustbedürfnis zur Verfügung steht. Damit bestätigt der Mann im Größenklein einmal mehr seine Wertlosigkeit; sein Versagen ist womöglich aber auch versteckte Aggression gegenüber der Partnerin, indem er die narzisstische Empörung aus dem frühen Muttermangel auf sie überträgt. Das geschieht häufig in Kollusion, wenn die narzisstisch bedürftige Frau den Mann einschüchtert, kränkt oder zu viel von ihm erwartet und damit die Erektions- und Ejakulationsprobleme des Mannes verstärkt. Sie hat sich damit ein erklärbares Ersatzleid geschaffen – «Der Mann kann nicht» – und ihr eigenes frühes Bestätigungsdefizit in die Gegenwart verschoben.
Größenselbst-Frauen sind gewohnt, allein gut zurechtzukommen, sie können deshalb meistens auch gut masturbieren und sich bevorzugt klitoral befriedigen. Das kann für den Partner zum Problem werden, wenn er sich als nicht gebraucht erlebt und verletzt ist, wenn sie nicht durch sein Glied und seine Bemühungen ausreichend befriedigt wird, sondern «nachhelfen» muss. Einen Mann ohne narzisstische Störung würde das indessen keineswegs kränken, vielmehr hätte er ein gesundes Interesse daran, ihr dabei behilflich zu sein, ohne sein eigenes Befriedigungsbedürfnis zu vernachlässigen. Eine Frau ohne besondere narzisstische Problematik kennt den Weg zu ihrer Lust und weiß den Akt so zu gestalten, dass sie gute orgastische Chancen hat, ohne den Partner zu beschämen.
Sex verbinden Narzissten häufig mit Sehnsucht: Wir sprechen dann vom sexualisierten süchtigen Sehnen nach früher Liebe. Sex löst ein besonderes Interesse aneinander aus, man muss sich in gewisser Weise füreinander öffnen und auf den anderen einlassen – ein Akt körperlicher und psychischer Intimität. Da liegt es nahe, dass davon häufig eine besondere Erfüllung narzisstischer Bedürftigkeit erwartet wird. Im Sex werden dann Liebesbeweise gesucht; so erwartet man mehr, als möglich ist. Das setzt sich darin fort, dass sexuelle Funktionsstörungen oder Beziehungsprobleme als besondere narzisstische Kränkung und Krise erlebt werden.
Der narzisstische Sex lebt nicht von einer partnerschaftlichen Beziehung mit empathischer Abstimmung, sondern von Äußerlichkeiten, vom Ambiente des sexuellen Aktes, von Accessoires, vom besonderen Ablauf, der durch verschiedene Techniken und Leistungsorientierung erreicht werden soll. Diese artikuliert sich je nach Art der narzisstischen Problematik als Prahlerei, Dominanz und Forderungen an den Partner bzw. als Unsicherheit, Bedienerei und geschmeidige Anpassung, Unterordnung sowie Erfüllung von Erwartungen. Auf beiden Seiten werden die eigentliche Bedürftigkeit, die Bestätigungssehnsucht und die Beziehungsnähe durch kompensierende Rollen abgewehrt: Hingabe, Loslassen, sich dem anderen Überlassen – alles Merkmale von gutem, nichtnarzisstischem Sex – bedeuten hingegen vorübergehenden Selbstverlust. Doch das wäre für ein narzisstisches Selbst ausgesprochen bedrohlich.