21 Die Therapie der narzisstischen Störungen

Prävention ist besser als Therapie. Diese Lebensweisheit richtet sich gegen zwei gesellschaftliche Strömungen: gegen eine kommerzialisierte Medizin, die an Krankheiten verdient, statt sie mit dem spezifischen medizinischen Wissen verhindern zu helfen, und gegen eine politisch gewollte Lebensform mit einem hohen pathogenen Potential infolge von Leistungsstress, Konkurrenzdruck, Reizüberflutung, Mobilitätszwang und sozialer Ungerechtigkeit.

Die Bedeutung von Prävention ist beim Thema narzisstische Störungen deshalb besonders brisant, weil die Folgen frühen Liebesmangels im Grunde nicht mehr wirklich heilbar sind. Diese bittere therapeutische Erfahrung wird durch die Erkenntnisse der Neurobiologie und Hirnforschung insofern gestützt, als die frühe Entwicklung des Gehirns, die Art der neuronalen Vernetzung, sehr stark von den ersten Beziehungserfahrungen des Menschen abhängig ist. Das Gehirn bildet sozusagen «Beziehungsrepräsentanzen» ab, das heißt, die Qualität der ersten Beziehungserfahrungen mit Mutter und Vater entscheidet darüber, was sich dem Menschen neuronal einprägt. Frühe Beziehungen bilden eine Art neuronaler Erfahrungsschablone, die wesentlichen Einfluss auf die spätere Wahrnehmung und Bewertung der Lebensereignisse nimmt. Verschärft wird dies noch dadurch, dass die neuronale «Schablone» als Beziehungsrepräsentanz alle späteren Beziehungen beeinflusst. Die neueste Forschung zur «Epigenetik» geht sogar davon aus, dass der Einfluss der frühen Beziehungserfahrungen sich selbst auf die Aktivierung des Erbgutes, also der Gene, erstreckt und auch die Behinderung ihrer Entfaltung und Wirkung umfasst. Dabei spielen erlebte liebevolle Zuwendung, sichere Bindung und die hilfreichen Erfahrungen von Bestätigung, Trost und Unterstützung eine wesentliche Rolle für den genetisch begründeten Anteil, etwa den von Vertrauen, Geduld und Toleranz.

In der psychotherapeutischen Praxis kennen wir schon lange den sogenannten «Wiederholungszwang»; er meint, dass Menschen immer wieder – unbewusst – Verhältnisse suchen oder herstellen, die ihren bisherigen Erfahrungen entsprechen, wodurch etwa auch die Berufswahl, die Partnerwahl, die Ausgestaltung von Beziehungen, die Lebensform und das Weltbild motiviert werden. Dies kann tragische Ausmaße annehmen, wenn defizitäre und verletzende frühe Erfahrungen prägend geworden sind und es, davon abhängig, in einer späteren Lebensphase zu entsprechend belastenden Lebensumständen kommt. Ohne zu wissen, warum, finden sich auf diese Weise viele Menschen immer aufs Neue in Konfliktsituationen, verbunden mit Enttäuschungen und Kränkungen, wieder, die das bestehende negative «Weltbild» bestätigen. Dieses Verhalten ist sehr schwer zu behandeln, weil bei der Fehleinschätzung und Verzerrung der Realität neben der beschämenden Einsicht sehr schmerzliche Erinnerungen an die frühe Verletzung und den Liebesmangel eine Rolle spielen.

Möchte man auf Grundlage dieser Erkenntnis Verhaltenskorrekturen vornehmen und die eigene Lebensform verändern, sind davon natürlich auch alle Beziehungspartner mitbetroffen. Oftmals geschieht es dann, dass der Partner, Familienangehörige, Freunde und Arbeitskollegen dies nicht verstehen und nur unwillig akzeptieren, wenn sie nicht sogar viel daransetzen, solche Veränderungen zu verhindern. Der Mensch lebt eben nicht für sich allein und ist immer nur ein Puzzleteil im sozialen Gefüge. Als Patient ist er der Symptomträger eines pathogenen Systems – so viel zur hoch geschätzten «individuellen Freiheit». Man kann nicht wirklich gesund werden in einer kranken oder krank machenden Umwelt. Gelingen individuelle Veränderungen trotz allem, wird sich die «pathogene Energie» an anderer Stelle symptomatisch wieder zeigen. So hat ein Mensch auf dem Weg aus seinen frühen Verletzungen heraus nicht nur mit sich selbst zu tun, sondern auch mit seiner sozialen Umwelt und letztlich mit einer gesellschaftlichen Lebensform, die zwar zu seiner Störung konform war, aber nicht zu seiner potentiellen Gesundung passt. Wie frühe Erfahrungen einer Mehrzahl von Menschen auch die gesellschaftliche Struktur ausformen, ist ein zentrales Thema dieses Buches.

Die prägende frühe Beziehungsqualität lässt sich am besten, getrennt nach der mütterlichen und väterlichen Einstellung zum Kind, mit folgenden Fragen aus der Sicht des Kindes erfassen:

  • Bin ich gewollt? (evtl. Mutterbedrohung)

  • Bin ich ausreichend geliebt? (evtl. Muttermangel)

  • Darf ich so werden und sein, wie ich wirklich bin? (evtl. Muttervergiftung)

  • Darf ich mich entwickeln und entfalten? (evtl. Vaterterror)

  • Werde ich ausreichend unterstützt und gefördert? (evtl. Vaterflucht)

  • Wird meine Begrenzung akzeptiert? (evtl. Vatermissbrauch)

Diese Themen sind in einer Therapie zu klären, zu verstehen und emotional zu verarbeiten. Dafür muss die Lebensgeschichte erinnert werden, es müssen die guten wie die schlechten Einflüsse auf die eigene Entwicklung identifiziert, die damit verbundenen Gefühle zum Ausdruck gebracht und schließlich neues Verhalten eingeübt und eine veränderte Lebensweise ins soziale Umfeld integriert werden – eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Wir wissen, dass die narzisstischen Störungen durch Kompensationen und Ablenkungen nachhaltig verleugnet und überdeckt werden. Ein Narzisst, der therapeutische Hilfe braucht, wird viel lieber medizinisch-symptomatische Behandlungen suchen, durch die seine Abwehr nicht in Frage gestellt wird. Solche Behandlungen nützen dem Medizinsystem und bringen der Pharmaindustrie und Medizintechnik riesige Profite. Dem Menschen mit narzisstischer Problematik helfen sie jedoch nur sehr oberflächlich; er neigt dann dazu, immer neue behandlungsbedürftige Symptome auszubilden und seine Erkrankungen zu organisieren und zu chronifizieren. Die narzisstische Problematik macht aber auch einen ehrlichen Zugang zum wirklichen Leiden sehr schwer, weil der Narzisst seine Abwehr – die Größe, den Glanz und die Bedeutung bzw. die Selbstabwertung und kultivierte Hilfsbedürftigkeit – braucht, um eine tiefe seelische Erschütterung zu verhindern.

Einen Menschen mit Größenselbst auf den Weg der Demut zu führen, mit dem Ziel, die eigentliche Minderwertigkeit zu akzeptieren, ist eine sehr anstrengende Arbeit. Der Größenselbst-Narzisst ist immer schon da (wie der Igel im Märchen «Der Hase und der Igel»), er weiß alles schon, meistens sogar besser, und ist in Sachen intellektueller und rationalisierender Abwehr nicht zu schlagen. Lässt man sich darauf ein, kann man als Therapeut nur verlieren. Die einzige Chance ist der langfristige, häufig mühselige Versuch, die Beziehung zu spiegeln und geduldig immer wieder die emotionale Wirkung des zwischenmenschlichen Kontaktes zu erfassen, zu besprechen und ganz allmählich auch sich weiter entfalten zu lassen. Es kommt darauf an, dass die unter dem Größenselbst verborgene Bedürftigkeit sich zeigen darf, ohne dafür beschämt und dann allein gelassen zu werden. Es besteht dabei stets die Gefahr, dass das Größenselbst nach besonderer Anerkennung durch den Therapeuten giert und dieser selbst sich in der «bedingungslosen Zuwendung» großartig fühlt – womit beide lediglich ihre narzisstische Abwehr chronifizieren. Ohne Konfrontation mit dem Liebesmangel kann es auch in einer therapeutischen Beziehung keine Linderung der narzisstischen Not geben. Therapeutische «Liebe» ist immer nur professionelle Liebe, die zu bezahlen ist und die den mütterlichen Liebesmangel niemals ausgleicht. Nur der Schmerz ist das Tor zu einem freieren Leben. Deshalb hat die Gefühlsarbeit – die Möglichkeit, frühe Gefühle zum Ausdruck zu bringen, etwa Wut über verletzende Behandlung, Schmerz über den Liebesmangel und Trauer über verhinderte und damit verlorene Lebensmöglichkeiten – einen zentralen Stellenwert in der Behandlung der narzisstischen Störung.

Ähnliches gilt auch für den Größenklein-Narzissten, der seine verborgene frühe Bedürftigkeit mit ausagierter Schwäche und Hilfsbedürftigkeit abwehrt und auf diesem Weg Zuwendung provoziert und fordert. Das Größenklein durch therapeutische Zuwendung zu bedienen, ist keine Kunst, das geschieht sehr oft, aber es kommt auf die Ermutigung an, durch den frühen Schmerz hindurch die eigene Lebensgestaltung selbst in die Hand zu nehmen. Dieser Weg ist hart; letztlich bedeutet er, auch den letzten Hoffnungsschimmer, doch noch geliebt zu werden, wenn man nur richtig bedürftig bleibt, aufzugeben und die «Nabelschnur» endgültig zu durchschneiden. Das erleben nicht wenige als bedrohliches Verloren- und Verlassenwerden, als einen Zustand nicht mehr verankerter Leere, den auszuhalten und durchzuarbeiten sehr schwer fällt. Psychopharmaka sind da im Grunde eine Erlösung, allerdings um einen hohen Preis: den Verlust autonomer Lebendigkeit bzw. lebendiger Autonomie.

Es bleibt dabei, allemal besser als Therapie ist Prävention. Diese muss allerdings schon sehr früh einsetzen; eigentlich bereits mit dem Geschehen der Zeugung und Empfängnis, dem Umgang mit der Schwangerschaft, der Art und Weise des Gebärens, der Einstellung zum Stillen und der Qualität mütterlicher und väterlicher Beziehungsangebote.

Will man für die Therapie der «normalen» narzisstischen Störung außerhalb von Leistungen der Krankenkassen eine Orientierung haben, so geht es um

  • Raum und Zeit zum Innehalten, Reflektieren und Erinnern;

  • die Möglichkeit, sich mitzuteilen, aus dem Bedürfnis heraus, gut verstanden zu werden, ohne Kritik, Belehrung, Beschämung, Vorwurf, Rat und Lob (unlängst sagte jemand zu mir: Er möchte gern einfach seinen Kopf in einen Schoß legen und nicht mehr verstehen müssen, sondern endlich auch mal verstanden werden);

  • die Gelegenheit und die Ermutigung, nach seinen Gefühlen zu forschen und diese auch ausdrücken zu lernen und dafür auch wieder Raum und Zeit zu finden. Dabei sind Antworten zu finden auf folgende Fragen: Wann kann ich welche Gefühle wo und wem zeigen? Und wann muss ich welche Gefühle wie zurückhalten?

Der Gefühlsausdruck ist das A und O für eine Entlastung aus narzisstischer Not. Über Gefühle bestehen sehr viele falsche und missverständliche Meinungen. Am wichtigsten ist wohl der Unterschied zwischen «gemachten» und echten Gefühlen. Erstere werden durch Animation aktiviert, benötigen also Außenreize, sie wollen etwas bewirken und auch zum Ausdruck bringen. Solche Gefühlszustände kann man für Stunden produzieren oder wochenlang darunter leiden (wie z.B. bei einer Depression). Ein echter Gefühlsausdruck kommt immer von innen, er geht auf eine innere individuelle Problematik oder ein entsprechendes Bedürfnis zurück, benötigt kein Publikum und dauert nie länger als höchstens 20 Minuten. Danach fühlt man sich wesentlich erleichtert, befreit, oft nahezu heiter, auch wenn man soeben noch mit sehr schmerzhaften Gefühlen und bitteren Erinnerungen zu tun hatte.

Ein weiteres Vorurteil gegenüber Gefühlausdrücken liegt in dem weitverbreiteten Vorurteil, etwas Emotionsgeladenes könne nicht gut und richtig sein («Affekt macht blöd»). Richtig ist hingegen,

  • dass die Gefühle der Wahrheit immer näher kommen als der Verstand;

  • dass man nur über emotionale Reaktionen wirklich in Kontakt kommt

  • und dass eine positive affektive Beteiligung alle Lernvorgänge wesentlich unterstützt.

Alle notwendigen Entscheidungen lassen sich besser, richtiger und leichter treffen, wenn man vorher die damit verbundenen Gefühle zum Ausdruck hat bringen können. Unser Verstand ist dann nicht mehr emotional blockiert. Das soll keineswegs bedeuten, dass man je nach Situation nicht auch seine Gefühle zurückhalten können muss, wenn sachliche Reaktionen (etwa beim Autofahren) gefordert sind. Ein zurückgehaltener Ärger oder ein unterdrückter Frust lassen sich jedoch jederzeit – in einer dafür geeigneten Situation – nachträglich erinnern, aktivieren und abreagieren. Das ist eine basale Aufgabe der Psychohygiene.

Zum Narzissmus gehört die Fassade der Coolness und Souveränität, deshalb werden Gefühle in aller Regel verachtet. Ist ein Narzisst hingegen wieder imstande zu weinen, ist das ein Zeichen beginnender Gesundung, soweit das überhaupt möglich ist und von der Umwelt zugelassen wird. Zum Narzissmus gehören aber auch die falschen, die hysterischen Gefühle, die dazu führen, dass ein «Gefühlsmacher» gar nicht verstehen kann, was mit «fühlen» gemeint ist, denn er wähnt sich ja als ein gefühlsbetonter Mensch. Er sucht «fun», «geile» Erlebnisse, gröhlende Begeisterung, lacht zu laut und an falscher Stelle, weint – wenn überhaupt – vorwurfsvoll und selbstmitleidig, ärgert sich überzogen und erlebt «Glück» in Äußerlichkeiten. Beobachter solcher «Gefühlszustände» fühlen sich verschreckt bis angewidert, auch geängstigt – anders als bei einem echten Gefühlsausdruck, der ergreift, berührt und mitschwingen lässt. Deshalb werten gefühlsblockierte Menschen echte Gefühle anderer gerne ab, um nicht das eigene Unterdrückte und Aufgestaute per «Ansteckung» in Bewegung kommen zu lassen. Solange die Abwehr steht und kein Zugang zu echten Gefühlen zugelassen wird, bleibt absolut unverstanden, was eigentlich gemeint ist. Gefühlsverleugnung, Gefühlsabwehr, Gefühlsabwertung und falsche Gefühle untermauern die narzisstische Störung.

Erinnerung, Erkenntnis, Gefühlsausdruck und Kommunikation erfordern ein Netzwerk der «Beziehungskultur», in dem notwendige Verhaltensänderungen und neue Beziehungs- und Lebensformen ausprobiert, geübt, korrigiert, angeregt und unterstützt werden können. Wenn wir an die Dominanz der frühen Prägungen bis hin zu den neuronalen Vernetzungen im Gehirn denken, wird verständlich, dass neue Erfahrungen und Verhaltensweisen ständig trainiert werden müssen, um sie zu erhalten und weiter zu entfalten.

Ein Hauptmissverständnis gegenüber der Therapie – und zugleich ein typisches narzisstisches Symptom – ist die Einstellung, man müsse nur «richtig» Therapie machen und dann sei alles anders und besser (Größenselbst) oder man könne gesund gemacht werden (Größenklein). Die Wahrheit ist, dass man gegen die narzisstische Störung ein Leben lang kämpfen muss. Dabei sind vier Schritte wesentlich: erinnern, sich mitteilen, fühlen, integrieren (neues Verhalten üben). Das ist sowohl für das Größenselbst als auch für das Größenklein eine Zumutung. Wer dennoch die Mühen auf sich nimmt, wird sich wesentlich besser fühlen und entspannter leben, obwohl er ein verletzter Mensch ist und bleibt. An die Stelle jener übergroßen Anstrengungen um narzisstischer Ziele willen, verbunden mit der immer wiederkehrenden Enttäuschung, dass die angemessene Anerkennung (Liebe!) ausbleibt, können zunehmend Freude, Stolz und Zufriedenheit über die eigenen, realen Leistungen treten. Und wenn die Hoffnung auf Erlösung aufgegeben werden kann, weil die Unerfüllbarkeit früher Sehnsüchte erkannt und akzeptiert worden ist, kann endlich der Freiraum dafür entstehen, das eigene Leben aktiv zu gestalten und sich an seinen Möglichkeiten zu erfreuen. Reale Schwierigkeiten müssen dann nicht mehr das gesamte frühe Elend wiederbeleben, sondern lassen sich angemessen beantworten und regulieren.