2 Narzissmus – ein Begriff

Seit Sigmund Freud ist «Narzissmus» ein wichtiger Begriff für die Beschreibung gesunder und gestörter menschlicher Entwicklung. Es gibt inzwischen verschiedene Theorien zum Narzissmus, die hier nicht Gegenstand der Erörterung sein sollen. Als Grundlage meiner Ausführungen beziehe ich mich auf die moderne Theorie des Narzissmus von Heinz Kohut,[2] die im Wesentlichen auch von der Säuglings- und Kleinkindforschung bestätigt worden ist und meine eigenen psychotherapeutischen Erfahrungen überzeugend wiedergibt. Der Zürcher Psychoanalytiker Emilio Modena[3] hat die Kohut’sche Narzissmus-Theorie in wenigen Sätzen gut zusammengefasst:

Das Selbst entwickelt sich kontinuierlich vom frühen Säuglings- bis ins Erwachsenenalter als Produkt einer einfühlenden spiegelnden Umwelt, in deren Zentrum in der frühen Kindheit die Mutter (das «Selbstobjekt») steht. Versagt diese … den Dienst …, können sich die angeborenen Fähigkeiten des Kindes nicht entwickeln, was zu einer narzisstischen Störung führt, zu einem schwachen, mangelhaft integrierten Selbst, welches … von Fragmentierung bedroht ist.

Für die Selbstbestätigung des Kindes durch die Mutter prägte Kohut das Bild vom «Glanz im Auge der Mutter». Die moderne Säuglingsforschung hat diese These insofern bestätigt, als erhebliche Störungen in der Mutter-Kind-Bindung auftreten, wenn die Mutter nicht bereit oder in der Lage ist, ihr Kind bestätigend anzublicken.

Laut dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott[4] gelangt das Kind zu einem «wahren» oder «falschen» Selbst, je nach den Beziehungserfahrungen, die es mit den Eltern machen kann oder muss. Im «wahren Selbst» ist der Mensch imstande, sein Wollen und Nichtwollen differenziert wahrzunehmen und frei zu artikulieren, unabhängig davon, ob er dafür geliebt oder gehasst wird. Im «falschen Selbst» dagegen hat der Mensch Erwartungen und Forderungen übernommen, er richtet sich mit seinem Wollen und Nichtwollen nach den Reaktionen anderer und weiß am Ende gar nicht mehr, wer er wirklich ist und was er will.

Im wahren Selbst lebt der Mensch sein Leben in ständiger Bezogenheit zur Umwelt, von der er sich beeinflussen, aber nicht bestimmen lässt und auf die er Einfluss nimmt, ohne die Illusion besonderer Mächtigkeit zu hegen. Im falschen Selbst wird der Mensch gelebt, zerrissen durch unterschiedliche Erwartungen, gequält von dem Gefühl, nie gut genug zu sein. Er surft auf der Welle der Moden und des Zeitgeistes und ist ständig Opfer von Suggestionen und Verheißungen. Im falschen Selbst hat man die Tendenz, sich aufzublähen, um das Falsche zu überspielen, oder sich schamvoll zu verdrücken, um möglichst nicht an den verdeckten Schwachpunkten der Identität berührt zu werden.

Ich unterscheide in diesem Buch zwischen «gesundem» und «gestörtem» Narzissmus. Wenn ich später vom «Narzissten» spreche, ist immer eine männliche oder weibliche Person mit gestörtem Narzissmus gemeint. Im pathologischen Narzissmus zeigt der Mensch typische Symptome und ein gestörtes Verhalten, das ich auch als «narzisstische Abwehr» bezeichne. Der gestörte Narzissmus zeichnet sich dadurch aus, über Symptome und Verhaltensstörungen die eigentliche seelische Krankheit (das narzisstische Defizit) verbergen und verleugnen zu wollen.