Die Notwendigkeit des Ersatzleides

Die Tragik der narzisstischen Störung liegt darin, dass man sie nicht mehr loswird, aber mit ihr auch nur schlecht leben kann. Die Erfahrung, nicht ausreichend geliebt zu sein, angeblich nicht gut genug zu sein, bleibt ein schmerzhafter Makel, der einem das Leben vergällen kann und eine positive Sinnerfahrung unmöglich macht. So werden die lebenslangen Bemühungen, das Gefühl der Minderwertigkeit zu überwinden, zur notwendigen Sinngebung. Es gibt dann nur noch ein Ziel: zu beweisen, dass man doch ein liebenswerter, ein wertvoller, ein guter Mensch ist, dass der Irrtum der Abwertung und der Mangel an liebevoller Bestätigung erkannt, bedauert und korrigiert werden muss. Da aber kein Erfolg, kein Sieg und keine Liebe nachträglich den früh geprägten Selbstwertzweifel korrigieren können, bleiben alle Anstrengungen im Grunde genommen hoffnungslos, auch wenn sie dem Leben eine hoffnungsvolle Orientierung zu geben scheinen.

Da liegt der Weg in irgendeine Form von Süchtigkeit nahe, die regelmäßig zu leidvoller Abhängigkeit von krankheitswertem Verhalten und zu sozialen Konflikten führt. Aber die braucht der Narzisst womöglich auch. Hätte er keine Gründe, an seiner Lebensrealität zu leiden, würde der grundlegende Liebesmangel seine Existenz auf unerträgliche Weise in Frage stellen, was viel schlimmer ist als alle bestehenden Beschwerden und Konflikte. So ist jedes aktuelle Leid das kleinere Übel gegenüber der frühen Verletzung. Das hat wesentlich damit zu tun, dass man sich gegenüber aktuellen Schwierigkeiten als handlungsfähig erlebt, etwas dagegen tun oder aber fremde Hilfe in Anspruch nehmen kann. Als Kind aber blieb man ohnmächtig, letztlich auf Gedeih und Verderb dem Willen und den Möglichkeiten seiner Eltern bzw. der primären prägenden Bezugspersonen ausgeliefert. Es gab kein wirkliches Verhandeln, keine Kompromisse, keine Einsicht in das elterliche Fehlverhalten, in den entscheidenden Mangel an guter Mütterlichkeit, sondern nur die Chance herauszufinden, was den Eltern gefallen könnte und wodurch sie gnädig gestimmt werden könnten.

Die erreichbare Bestätigung der Eltern durch Anpassung ist niemals Liebe – denn hätten die Eltern diese zur Verfügung gehabt, gäbe es das narzisstische Defizit mit all den Anstrengungen, Liebe doch noch irgendwie zu ergattern, nicht in der Weise, wie es erfahren wurde. Andererseits gibt es keinerlei Garantie, die Annahme und Zuwendung der Eltern – und möge man sich noch so anstrengen – wirklich zu bekommen. Es liegt nicht in der Macht des Kindes, die elterlichen Defizite, ihre Behinderungen und Störungen zu heilen. Nur die Anpassung, die immer auch Selbstentfremdung ist, ermöglicht die Linderung der aktuellen Not, aber um einen hohen Preis.

Im Grunde wird ein falsches Leben erzwungen, und alle damit entstehenden Schwierigkeiten erfüllen eine Doppelfunktion: Sie ermöglichen die Ablenkung durch das Ersatzleid, das sie schaffen, und sie haben eine Signalfunktion, auf den falschen Weg, auf verfehltes Leben aufmerksam zu machen. Das Ersatzleid wird meistens kultiviert und chronifiziert, mit der Folge, dass die Signalfunktion – das Alarmsystem – nicht mehr verstanden wird. Politik, Kulturbetrieb, Finanzwirtschaft und ganz besonders die Medizin organisieren die Verleugnungs- und Abwehrfunktion und garantieren das Ersatzleid. Zum Stellvertreterleid kann alles werden, was geeignet ist, sich als Problem herauszustellen, mit dessen Lösung man dann nachhaltig beschäftigt ist. Entscheidend ist der Ablenkungswert: Das äußere konfliktäre Thema muss die innere Not übertönen, darf einem keine Zeit lassen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, weil Konflikte entschärft, Feindseligkeiten abgewehrt, Gefahren vermindert, Verleugnungen gerächt, Gegner bekämpft, Genugtuung erreicht oder Ziele erstritten werden müssen.

Diese Abwehrfunktion erklärt auch, weshalb sich manche Menschen viel heftiger erregen, als es der Anlass eigentlich erklären kann; dass sie sich immer wieder in Konflikte verwickeln, Streit provozieren und sich ständig gegen jemanden oder etwas im Kampf befinden. Am besten, wenn sie sich dabei auch als Opfer erleben können, um so dem verborgenen Unrecht eine gegenwärtige Adresse zu geben. Selbst realen Opfern kann man häufig nur helfen und so weiteres Unrecht vermeiden, wenn ihr seelischer Anteil einer «Opferpersönlichkeit», die Ersatzleid braucht, erkannt und verstanden wird. Die Beziehung von Täter und Opfer ist fast immer mehr oder weniger ein dynamisches Verhältnis wechselseitiger, sich ergänzender unbewusster Motivation. Das exkulpiert den – selbst heftig provozierten – Täter freilich nicht von seiner Schuld, sobald er Gesetze bricht. Aber auch die potentielle Schuld des Opfers wird man berücksichtigen müssen. Sie wirkt häufig nach zwei Richtungen: gegen sich selbst, was nun einmal zur narzisstischen Selbstentwertung gehört, aber auch gegen den Täter, der als aktueller Täter entlarvt wird, was dem Opfer im Hinblick auf die Eltern, als den eigentlichen frühen Tätern, nicht gelungen ist. Aber jetzt kann das unfassbare frühe Leid auf real fassbares Unrecht verschoben werden. So bieten auch aktuelle Traumata immer eine Gelegenheit, hinter der gerade erfahrenen Verletzung die basale Verletzung zu verbergen und so eine Legende zu bilden, wonach das Trauma die Ursache allen Übels sei.

Dass wir an Beschwerden leiden, in unglücklichen Beziehungen stecken, ungerecht behandelt werden, mit unserem Verdienst nicht zufrieden sind und täglich tausend Gründe finden, etwas zu bemäkeln, dass wir schlechte Nachrichten aufsaugen, an der Politik leiden und Politiker verachten, über die Lebensverhältnisse klagen und Angst vor der Zukunft haben – das alles kann als Ersatzleid im Hinblick auf die narzisstisch begründete tiefe seelische Verletzung fungieren. Je größer und bedrohlicher das reale Leid ist, desto wirksamer ist auch dessen Ablenkungspotential. Für mich ist das die einzige Erklärung, weshalb wir beispielsweise selbst ernsthafte ökologische Bedrohungen unseres Lebens hinnehmen – zwar klagen, schimpfen und uns sogar fürchten, aber nichts wirklich dagegen unternehmen: Wir brauchen das reale Leid zur Ablenkung.

Ich habe viele Menschen kennengelernt, die dadurch in erhebliche Schwierigkeiten geraten, dass sie – wie es ja therapeutisches Anliegen ist – Beschwerden und Krankheitszustände überwinden und eigenes Fehlverhalten erkennen und korrigieren. Auf einmal fehlt ihnen jener Leidensgrund, der bislang gleich einem Schwamm die schmerzvolle frühe Geschichte – die energetische Basis der aktuellen Probleme – aufgesogen hat und der nun die Leidensenergie wieder freigibt, als würde der Schwamm mit der Bewältigung des gegenwärtigen Leides ausgewrungen werden. Jetzt droht der frühe Schmerz ins Bewusstsein zu dringen, es sei denn, es gelingt, sehr rasch wieder neues Ersatzleid zu schaffen. Die Medizin kennt dieses Phänomen im Symptomwandel: Ein Symptom wird erfolgreich beseitigt und bald entsteht ein neues, so dass man denken könnte, jetzt habe man eine neue, eine andere Erkrankung. Die Psychotherapie kennt die Relativität erfolgreicher Veränderung und Entwicklung eines Menschen, wenn plötzlich ein Partner oder andere Familienmitglieder oder Arbeitskollegen in eine Krise geraten. Verändert sich eine Person, die in einem System der Kompensation frühen Leides gefangen ist, dann hat das Rückwirkungen auf das System, das jetzt einen anderen Symptomträger braucht oder aber ein neues Problem entwickeln bzw. einen gemeinsamen Außenfeind finden muss. Menschen, die endlich einmal glückliche Momente in ihrem Leben erfahren, müssen sehr bald mit dem «Schatten» kämpfen. Dabei kann es sich um akute Beschwerden, Erkrankungen, Verletzungen, Unfälle, kränkende Erlebnisse, ängstigende Vorfälle oder auch nur phantasierte Befürchtungen handeln. Irgendwie benötigt das widerfahrene, «illegitime» Glücksgefühl jedenfalls einen energetischen Ausgleich, damit das tief eingeprägte Selbstbild, nicht in Ordnung, nicht liebenswert oder nicht berechtigt zu sein, wiederhergestellt wird.

Wir benutzen in unserem Therapieverständnis dafür das Bild eines «Parallelogramms» der Kräfte. Wenn etwas in der narzisstischen Regulation verschoben wird, muss die darin enthaltene und frei werdende Energie in einer anderen Form wieder Gestalt annehmen, oder wenn zusätzliche Kompensationsenergie gebraucht wird, muss sie woanders verloren gehen. Die Summe der regulierenden Kräfte bleibt immer gleich.

Es gibt nur eine therapeutische Chance, in diesem Abwehr- und Kompensationssystem vorübergehend tatsächliche Linderung durch Energieverlust zu erfahren: Das ist der Gefühlsprozess. Die zugelassene narzisstische Wut infolge kränkender und verletzender Erfahrungen, der geweinte Schmerz über den Mangel an Liebe und die gefühlte Trauer über die verlorenen Lebenschancen verhalten sich dann wie ein Überdruckventil, das den Gefühlsstau ablässt und damit dem narzisstischen Regulationssystem Energie entzieht, was als deutliche Entlastung und Entspannung erlebt werden kann. Leider wirkt dies immer nur verhältnismäßig kurze Zeit – über Stunden, manchmal Tage –, bis äußere Ereignisse oder innere Verarbeitungen die alten narzisstischen Verletzungen wiederbeleben und der «Wundschmerz» neu reguliert werden muss.

Ich habe dafür das Bild von der «Matte im Rucksack» entworfen. Die «Matte» ist das Sinnbild dafür, dass man sich zur Gefühlsarbeit hinlegen und dabei über Bewegungsfreiheit verfügen sollte; denn im Zuge der Gefühlsentäußerung sollte man auch treten, schlagen und strampeln, sich winden und drehen, aufbäumen und einrollen können, je nach der Art des körperlichen Gefühlsausdrucks. Der «Rucksack» hingegen steht als Symbol dafür, dass die Gefühlsarbeit auf der Matte überall und jederzeit möglich sein sollte.

Der Schatten des Narzissmus ist wohl das größte und auch das am meisten verleugnete Problem wirklicher Selbsterkenntnis und Entwicklung. Die meisten Menschen streben unablässig nach etwas Glück und Zufriedenheit und müssen nahezu gesetzmäßig jeden Erfolg in dieser Richtung durch Negativerfahrungen wieder ausgleichen. So gesehen ist jeder Fortschritt anzuzweifeln; auf jeden Fall muss er zusammen mit seinem Schatten bilanziert werden. Es gibt keinen Sieg ohne Niederlage, keinen Erfolg ohne Schaden, kein Glück ohne einen Preis. Es gibt keine Liebe für jemanden oder für etwas, ohne dabei Hass bei anderen zu schüren. Es gibt keinen Frieden, ohne Krieg zu provozieren. Linksradikale sind in ihrer Destruktivität nicht besser als Rechtsradikale, keine demokratische Partei hat ein wirklich besseres Programm als eine andere, jeder gefeierte Fortschritt erzeugt neue Verluste. Im Parallelogramm der Kräfte narzisstischer Regulation ist dies eine unabwendbare Gesetzmäßigkeit; man kann nur «Dampf» ablassen, bevor sich der Druck krisenhaft immer wieder erhöht. Dafür ist jede Kulturleistung geeignet, die die Energie narzisstischer Bedürftigkeit und Unzufriedenheit in einen Gefühlsausdruck verwandeln hilft – Filme, Theater, Musik, Literatur, mediale Informationen und Diskussionen, das Internet mit seinen Kommunikationsplattformen, Sport und Religionspraktiken. Sonst übernehmen dies Erkrankungen, soziale Konflikte, feindselige Kämpfe und Kriege.

Ein Leben außerhalb der narzisstischen Regulationssysteme sähe grundlegend anders aus: ohne Wachstumsdruck, ohne Konkurrenzkampf, ohne Leistungsstress, ohne übertriebene Selbstdarstellung – also auch ohne Werbung – und ohne appellatives Leiden durch Selbstentwertung und kultivierte Abhängigkeit. Wachstum würde dann natürlichen Prozessen folgen und Werden und Vergehen einschließen, Konkurrenz diente der optimalen Zusammenarbeit und nicht dem Beweis der eigenen Stärke, Leistung richtete sich nach notwendig zu erledigenden Aufgaben und nicht nach Profit. Selbstdarstellung und Selbstentwertung wären nicht mehr nötig, da man sich selbst genug ist. Partnerschaft wäre keine kollusive Verstrickung mehr, sondern gleichrangige Beziehung, die durch Verschiedenheit bereichert wird und im Verhandeln der Möglichkeiten lebendig bleibt. Sexualität wäre kein Machtmittel, sondern der natürlichste – machtfreie – Weg, sich selbst gemeinsam mit einem anderen Lust zu ermöglichen.

Narzisstische Störungen können nicht geheilt, aber sie müssen reguliert werden. Falsche Regulationen sind die Quelle von Selbst- bzw. Fremdbeschädigungen. Die wichtigste Aufgabe einer Gesellschaft besteht darin, die Gefahr narzisstischer Beschädigungen zu verringern und gute Möglichkeiten zur Regulation zu schaffen.