14 Narzisstische Regulationsformen in der Folge von Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen

Wenn wir von den wesentlichen Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen in der Frühbetreuung von Kindern ausgehen und uns ihre spezifischen Belastungen für das Kind verdeutlichen, verstehen wir auch die dazu passenden Kompensations- und Ablenkungsformen zur notwendigen narzisstischen Regulation.

 

Durch Mutterbedrohung wird die Existenz des Kindes grundsätzlich in Frage gestellt. Die indirekt übermittelte oder offen feindselige Ablehnung des Kindes bedeutet höchste Lebensbedrohung, gegen die das Kind ein Gegenmittel finden und entwickeln muss, um sein Überleben zu sichern. Anfangs mögen es schwere psychosomatische Erkrankungen sein – etwa Neurodermitis, Asthma bronchiale, häufige Infekte mit schweren Verläufen und Komplikationen, Nahrungsunverträglichkeiten, die sich als ernste Hinweise auf stressbedingte körperliche Reaktionen mit überschießender Abwehr oder geschwächtem Immunschutz verstehen lassen. Die Erkrankung inszeniert die seelische Not und fordert Versorgung. Später machen Verhaltensstörungen, Schulschwierigkeiten, Weglaufen, aggressive Impulsdurchbrüche, frühzeitige Alkohol- und Drogenprobleme und Selbstverletzungen auf die verzweifelten Bemühungen des heranwachsenden Kindes aufmerksam, der innerseelischen Traumatisierung einen Ausdruck zu verschaffen und Hilfe herbeizuholen. Die deutliche Aggression – in Form von Selbstverletzung oder von Gewalt gegen andere – dient der narzisstischen Regulation, mit dem Ziel, sich zu wehren, die eigene Existenz zu verteidigen, sich Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erkämpfen und durch den notwendigen Abwehrpanzer doch noch etwas zu fühlen. Der Schmerz der Selbstverletzung ist gewissermaßen der letzte Versuch, den abgespaltenen Gefühlen, der seelischen Erstarrung durch die erlittene Bedrohung eine Ausdrucksmöglichkeit zu verschaffen. In solchen Fällen können sogar autoritäre Einengung und Disziplinierung – wenn sie nicht die Ablehnung fortsetzen – zu einer hilfreichen Erfahrung werden. Das zeigt sich etwa an der durch Frühbedrohung verursachten Borderline-Störung. Sie bedeutet ein erhebliches Strukturdefizit: Das Kind konnte keine innere Existenzsicherheit, keine Lebensberechtigung und Entwicklungsorientierung erfahren und zu seinem inneren Besitz machen; deshalb kann später jede ernst gemeinte Forderung einer wohlwollenden Person zur hilfreichen Orientierung werden. Nicht selten musste ich in Therapien auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst Prügel, mit denen ein bestimmtes Verhalten ehemals erzwungen worden war, noch als hilfreich erlebt wurden, auf jeden Fall besser als Nichtbeachtung und völliges Desinteresse.

Muttermangel ist die wesentliche Ursache für narzisstische Störungen. Mit «Muttermangel» ist sowohl die reale Entbehrung guter und ausreichender Mütterlichkeit gemeint, wenn Mütter – aus welchen Gründen auch immer – zu wenig Zeit für ihre Kinder haben. Die Bedürfnisse des Kindes können keine Rücksicht darauf nehmen, ob die Mutter arbeiten gehen muss oder ihre Karriere pflegen will. Noch wichtiger aber ist die innere Einstellung der Mutter zum Kind, ob sie ihr Kind wirklich annehmen und lieben kann, so wie es das Kind braucht – bedingungslos. Das ist sehr vielen Müttern aus eigener unerfüllter früher Bedürftigkeit häufig nicht mehr möglich. Die Ursachen und Folgen frühen Muttermangels sind das zentrale Thema dieses Buches.

Muttervergiftung meint, dass das Kind im Wesentlichen nur dann Bestätigung und interessierte Zuwendung erfährt, wenn es so ist, wie die Mutter es sich wünscht, und wenn es ihre Erwartungen und Vorstellungen an seine Existenz gut erfüllt. Das bedeutet fast immer Selbstentfremdung, denn es ist praktisch ausgeschlossen, dass ein Kind – in seiner je einmaligen Existenz und als ein Vertreter der nächsten Generation – genau so ist und sich entwickelt, wie es der Mutter gefällt. Die narzisstische Bestätigung des Kindes wird in diesem Fall also an Bedingungen geknüpft, die die Mutter bewusst oder unbewusst stellt. Das führt häufig dazu, dass das heranwachsende Kind seine Anpassung an die Vorstellungen der Mutter gar nicht mehr als Problem wahrnimmt; denn es erfährt ja umso mehr Bestätigung, je besser es sich den mütterlichen Wünschen anschließt. Die narzisstische Regulation wird also von der Selbstwahrnehmung auf eine Fremdwahrnehmung verlagert. Am Anfang fordert die Mutter noch und straft gegebenenfalls auch durch Nichtbeachtung, bis im Laufe der Zeit ihre Mimik und Gestik, ihr Blick und Tonfall schon ausreichen, um das Kind spüren zu lassen, was ihr gefällt oder nicht.

Die Außenorientierung ist eine hervorragende narzisstische Regulationsform. Solange man macht, was erwünscht und erwartet wird, erfährt man Zustimmung und Lob und ist permanent von der Selbstwahrnehmung – und damit von der Wahrnehmung des eigentlichen narzisstischen Defizits – abgelenkt. Auf dieser Grundlage wird eine Abhängigkeitsstruktur entwickelt – die beste Voraussetzung, um als Mitläufer und Untertan in sozialen Systemen in Ruhe gelassen oder sogar gebraucht und geschätzt zu werden. In Partnerschaften übernimmt man den Part des Konarzissten, indem man abspürt und zu erfüllen trachtet, was der andere will und braucht. Für diese Dienstbarkeit wird man dann auch «geliebt». Gut wahrnehmen zu können, wie andere fühlen und was sie wünschen, um nicht wahrnehmen zu müssen, was man selbst fühlt und sich wünscht, ist auch eine hervorragende Voraussetzung für alle Helferberufe, die sich in den Dienst für andere stellen und eigene egoistische Strebungen dabei aufgeben. So war es Mutti recht!

 

Durch Vaterterror wird das Kind eingeschüchtert und in seinem natürlichen Expansionsdrang gehemmt. Das ist eine schwere Hypothek für die narzisstische Regulation, da ja in diesem Fall bei allen Selbstverwirklichungsversuchen Strafe, Abwertung und Verachtung drohen. Das Kind hat also keine Chance zur offensiven Entwicklung. Es bleibt nur die Möglichkeit, das Donnerwetter abzuwarten, die Strafe auszusitzen und heimliche Wege der Selbstbestätigung zu gehen. Das Kind wird sich nicht mehr mitteilen und sich in seine Welt zurückziehen, die es vor dem Vater geheim hält. Es wird sich aber Gleichgesinnten anschließen, sich in Gruppen stabilisieren und andere väterliche Instanzen suchen. Rückzug aus der eigenen Familie, Heimlichkeiten, häufig auch Lügen aus Gründen des Selbstschutzes auf der einen Seite und Aufblühen in Ersatzwelten auf der anderen Seite sind dann die psychosozialen Folgen für das Kind. Hier entscheidet sich oft sein Schicksal: Entweder es findet Kontakt zu hilfreichen Ersatzvätern und Gruppen, etwa in der Schule, beim Sport, in Interessen- und Hobbygemeinschaften, in religiösen und politischen Jugendverbänden; dann übernehmen Lehrer, Trainer, Verbandsleiter, Geistliche oder Politiker die gute väterliche Funktion. Oder die Heranwachsenden werden in ihrem Bedürfnis nach väterlicher Unterstützung, nach Forderung und Anleitung Opfer von Verführern, die den eingeschüchterten jugendlichen Expansionsdrang für ihre Interessen und Bedürfnisse missbrauchen und entsprechend fehlleiten. Die häufige Radikalität von Jugendlichen entspringt einem solchen Missbrauch, indem ihre verständliche Aggression ausgebeutet wird. Unsere Zeit hält für die gebremsten Jugendlichen eine Fülle von Ablenkungsmöglichkeiten bereit. Computerspiele, das Internet, Videos und Musik können die Einengungen vergessen machen und ein Scheinleben simulieren, so dass die eigentliche Entwicklungsstörung nicht mehr wahrgenommen und erlitten werden muss.

Bei Vaterflucht fehlt die Unterstützung, die Förderung durch den Vater. Der Vater fällt als Vorbild aus, mit dem man sich auseinandersetzen kann. Indem sich der Heranwachsende mit dem Vater identifiziert oder sich von ihm abgrenzt und eigene Positionen findet, werden Väterlichkeit und Männlichkeit bewusst mit eigenen Erfahrungen besetzt. Diese wichtige Entwicklungsstufe wird bei Fehlen des Vaters erschwert oder unmöglich gemacht. Gute Väterlichkeit hilft dem Kind, allmählich von der Mutter loszukommen, unabhängiger zu werden, die eigenen Möglichkeiten zu entfalten, Begrenzungen zu erleben und annehmen zu lernen und somit fähig zu werden, die eigene Welt zu gestalten. Bei Vaterflucht fehlen die notwendige Förderung und Forderung. In dem Fall, dass diese nicht von Ersatzvätern ausgeübt werden bzw. die Mutter nicht auch väterliche Funktionen übernimmt – was in aller Regel schwer genug, aber möglich ist –, dann bleiben die vaterlosen Kinder oftmals muttergebunden und mutterabhängig. Die Folgen davon sind zunehmend unangemessene Bequemlichkeit, mangelnde Anstrengungsbereitschaft und fortgesetzte Versorgungswünsche, die im «Hotel Mama» kultiviert werden. Ähnlich wie beim «Vaterterror» werden zur narzisstischen Regulation der Vaterflucht ebenfalls Ersatzväter gebraucht, doch mit einem entscheidenden Unterschied für die aktive Lebensgestaltung. Verspürt der Heranwachsende bei Vaterterror noch einen angemessenen aggressiven Stachel, sich doch zu entfalten, so bleibt bei Vaterflucht dieser Ehrgeiz meistens aus und der narzisstische Ersatz wird in weiteren Versorgungserwartungen ausgelebt. Damit kann man der Mutter und später den Versorgungssystemen erheblich zur Last fallen. Fällt der vor allem durch gute Väterlichkeit geprägte gesunde Ehrgeiz aus, wird die narzisstische Versorgung durch kultivierte Bequemlichkeit und Leistungsverweigerung gesichert.

Vatermissbrauch meint, dass die Kinder zum Stolz des Vaters erzogen, im Grunde dazu getrimmt werden. Er ermöglicht eine in der Leistungsgesellschaft weitverbreitete narzisstische Kompensation, die in aller Regel mit viel Qual, Angst und unendlichen Anstrengungen verbunden ist. Um beim Vater zu Ansehen zu kommen, muss man besondere Leistungen bringen. Also wird geübt, trainiert, gekämpft, konkurriert, gegebenenfalls auch getrickst unter Einsatz unlauterer Mittel und kleiner Betrügereien. Es geht um Höchstleistungen. Die erreichbaren Erfolge sind dann der kurze Trost für lange, qualvolle Mühen, der schon bald wieder durch neue Anstrengungen gesichert bzw. neu errungen werden muss. Leistungssport ist die beste narzisstische Regulation bei Vatermissbrauch, aber auch alle anderen Wettbewerbsziele eignen sich in diesem Fall zur narzisstischen Bestätigung – zur Kompensation und Ablenkung in Form von permanenten Anstrengungen.

 

Zwischen den Mütterlichkeits- und den Väterlichkeitsstörungen gibt es hinsichtlich der narzisstischen Regulation qualitative Unterschiede. Insbesondere Mutterbedrohung und Muttermangel sind verantwortlich für erhebliche narzisstische Strukturdefizite, bei deren Regulation es ums Überleben, um prinzipielle Berechtigung und Anerkennung geht. Deshalb sind hier alle Regulationsbemühungen existenziell bedeutungsvoll; durch erschwerte bzw. gestörte Kompensation kommt es zu schwerwiegenden Folgen für die eigene Gesundheit und das soziale Zusammenleben.