26 Vision einer demokratischen Revolution

Die real existierenden westlichen Demokratien haben zwei gefährliche Schwächen:

  1. Die politische Macht liegt bei Mehrheiten, an deren Informiertheit und politischer Bildung Zweifel angebracht sind. Menschen lassen sich aus psychischen (narzisstischen) Abwehrgründen leicht beeinflussen und manipulieren und werden dann zu Opfern von Meinungsmache, statt nach einem wohlüberlegten politischen Willen zu handeln. Die politische Überzeugung und Entscheidung kann ganz oberflächlich bleiben, ohne dass die ihr zugrunde liegende psychische Motivation geklärt wäre. So wird gerne ein Kandidat gewählt, der etwas verspricht und vor allem dafür sorgt, dass man nicht mit bitteren, beunruhigenden Wahrheiten belastet wird. Auf absurde und peinliche Weise rückt diese Problematik ins Bild, wenn gegen Ende eines Wahlkampfes die aussichtsreichen Kandidaten zum TV-Duell antreten und absolute Äußerlichkeiten über Sieg oder Niederlage entscheiden. Am Ende wählen also viele «aus dem Bauch heraus», nach ihrem «Eindruck». Wie stark dieser Maßstab narzisstischer Verzerrung unterliegt, bedarf an dieser Stelle keiner Erklärung mehr. Mehrheitsentscheidungen sind nur akzeptabel, wenn es parallel dazu eine Pflicht zur politischen Bildung und zur Klärung der subjektiven Motivation gibt.

  2. Eine immer größer werdende Gruppe von Nichtwählern hat keine Plattform für ihre Wahlverweigerung. Die Partei der Nichtwähler verstärkt die Gefahr, dass kleinere, extreme Gruppierungen relativ groß werden, auf diese Weise ganz «demokratisch» in die Parlamente gelangen und sich mit Steuergeldern weiter aufbauen können.

Dass sich die Nichtwähler vom demokratischen Prozess ausschließen ist auch deswegen bedenklich, weil ihre Motive, die Gründe der Verweigerung und ihre Kritik, so keinen Ausdruck finden und der gesellschaftlichen Diskussion verloren gehen. Ich könnte mir eine gesetzlich gestützte Regel vorstellen, dass eine Wahl mit einer zu geringen Wahlbeteiligung (z.B. unter 80 Prozent) nicht gültig ist. Dann müssten die Gründe geringer Wahlbeteiligung erfasst, diskutiert und verstanden werden, so dass daraus wieder Realpolitik entstehen kann. Das wäre ein völlig anderes Demokratieverständnis und natürlich nicht zu vergleichen mit einer Wahlpflicht, die nur zwingt, aber die Motive des Verhaltens nicht klärt.

Nichtwähler verweigern sich aus Protest, Resignation, Ohnmachtsgefühlen und sicher auch aus Faulheit, Dummheit und krankhaften Motiven. Auf jeden Fall signalisieren sie gesellschaftliche Fehlentwicklungen und individuelle Probleme. Es gibt viele Gründe, über die Politik verärgert und enttäuscht zu sein, sich bedroht und verängstigt zu fühlen. Es wird nie möglich sein, politisch alle Interessen zu vertreten und alle Bedürfnisse zu erfüllen. Darum geht es aber auch nicht. Vielmehr geht es darum, sowohl das Massenverhalten als auch abweichendes Verhalten von Minderheiten im Hinblick auf ihre Motive und Hintergründe zu erforschen und diese bei den politischen Entscheidungen mit zu berücksichtigen.

Dass die Mehrheit einer Bevölkerung nicht selbstverständlich eine vernünftige, gesunde, progressive Einstellung vertritt, sondern von hochpathologischen Motiven getragen sein kann, hat nicht nur die deutsche Geschichte wiederholt gezeigt. Wenn unter Gruppendruck alle ähnlich denken und handeln, verbirgt sich das Pathologische unter dem Deckmantel der «Normalität». Das aus narzisstischer Not heraus bestehende Bedürfnis, dazuzugehören, so zu sein, wie alle sind, und sich möglichst gut dem Zeitgeist anzupassen, kurz, das zu machen, was alle machen – um nicht alleine dazustehen und den Selbstwertmangel zu erleiden –, ist eine nicht zu unterschätzende Kraft für unreflektierte Fehlentwicklungen einer Gesellschaft.

Ich halte es für ausgeschlossen, dass vom führenden politischen Personal, das aus Gründen narzisstischer Kompensation derart schwierige Aufgaben übernommen hat, ein heilsamer Systemwandel ausgeht. Auch wird er nicht von den Wählern vollzogen werden, die ebenfalls aus narzisstischen Abwehrgründen kaum für mühselige Veränderungen votieren dürften. Macht, Status und Versorgungsansprüche, aber auch die ständig aufzubringende Konkurrenz- und Abwehrenergie bieten so viel narzisstische Ersatzgratifikation und Ablenkung, dass ein freiwilliger Verzicht auf die Abwehr kaum denkbar ist, ja nicht einmal ohne Bedenken empfohlen werden könnte, weil dann wieder die narzisstische «Wunde» spürbar und nach erneuter «Behandlung» gerufen würde. Wenn ein narzisstisches Abwehrsystem zusammenbricht, droht immer eine schwere Krise. Anstand und Bildung stehen in einer Notzeit immer auf der Verliererseite. Gehen ordnende Strukturen verloren, drohen chaotische Verhältnisse, in denen die dumpfen und primitiven Kräfte die Oberhand gewinnen können; denn dank ihrer intellektuellen Begrenzung und psychischen Unreife haben sie keine moralischen Skrupel, ihre Überlebensinteressen «brutalstmöglich» zu behaupten.

Die westlichen Demokratien stehen vor dem Kollaps ihres Finanzsystems – gemessen an den nie mehr zu begleichenden Schuldenbergen hat der Kollaps eigentlich schon stattgefunden. Funktioniert aber die wesentliche narzisstische Regulation über Geld nicht mehr, ist mit wachsenden gewalttätigen Auseinandersetzungen zu rechnen, wie sie in den europäischen Großstädten bereits stattfinden. Wird die zugrunde liegende narzisstische Problematik nicht verstanden und werden keine zivilisierten Formen zu ihrer Regulation gefunden, drohen uns zunehmend blutige Krawalle oder neue Kriege.

Meine Vision einer demokratischen Revolution spricht die Partei der Nichtwähler und alle Menschen an, die eine grundlegende Veränderung für richtig und notwendig halten, ohne schon sicher zu wissen, wie diese vor sich gehen und wohin sie führen soll. Das einzige Ziel einer solchen Interessengemeinschaft wäre zunächst ein «Wahlerfolg» in dem Sinne, dass die etablierten, aber zum Systemwechsel unfähigen Parteien keine Regierung mehr bilden können. Die «Partei der Veränderung» könnte auf demokratischem Weg eine Machtposition erringen, mit der sie die Voraussetzungen und Regeln für notwendige Veränderungen herstellen und kontrollieren hilft, ohne selbst schon ein entsprechendes inhaltliches Programm haben zu müssen. Ein Programm zur Gesellschaftsentwicklung muss gemeinsam errungen, breit diskutiert und nach allen Seiten hin überprüft, erprobt und in der Praxis dynamisch verändert werden. Experten, Wissenschaftler, Philosophen, Therapeuten und Theologen, Künstler, Handwerker und Arbeiter, Eltern und Lehrer müssen gemeinsam Ergebnisse erarbeiten, die nicht mehr durch Konkurrenz, sondern im Konsens entstehen. Wissen und Positionen sind nach den ihnen zugrunde liegenden subjektiven Motiven zu befragen: Erst das ermöglicht gegenseitiges Verständnis. Im Zentrum steht dann nicht mehr der geschickte, gar betrügerische Kampf um die besten Argumente, sondern die Suche nach einer gemeinsamen Lösung. Pro und Contra haben immer nur teilweise das Recht auf ihrer Seite; nur zusammen kann man sich der Wahrheit nähern. Die Position der Gegner darf nicht verachtet, bekämpft oder verdrängt, sie muss verstanden und integriert werden. Nur so kann Frieden sein.

Politik darf nicht länger narzissmuspflichtig sein; die Politiker müssen von den für sie unlösbaren Aufgaben entbunden werden. Kein Einzelner kann heute mehr die komplexen, systemischen und globalen Prozesse und Wirkungen von politischen Entscheidungen verstehen und überschauen. Entfällt die Konkurrenz um Macht, muss auch nicht mehr gelogen, betrogen, manipuliert und bestochen werden. Zur Wahrheit gehören immer auch Irrtümer, Fehler, Ratlosigkeit und Ohnmacht; deren Verständnis hat basale Bedeutung und darf deshalb vom politischen Gegner nicht ausgenutzt werden – ansonsten wird es nie zu Einsicht und Verarbeitung kommen.

Alle Entscheidungen bleiben suchende, dynamisch veränderbare, den Erfahrungen des Handelns unterworfene Ergebnisse. Ziel der politischen Arbeit sind nicht länger Machterhalt und Wählerstimmen, sondern die optimal möglichen Entscheidungen, von denen alle profitieren oder mit denen alle mehr oder weniger einverstanden sein können.

Der Expertenrat aus allen Schichten und Kompetenzen arbeitet nach gruppendynamischen Gesetzmäßigkeiten; Außenseiter werden integriert und unbewusste Prozesse erschlossen. Ein unabhängiger und in der Sache neutraler Moderator regelt den gruppendynamischen Prozess, bis eine Konsensentscheidung möglich wird. Der Expertenrat ersetzt das Kabinett, die Mitglieder werden direkt vom Volk gewählt, sie arbeiten unabhängig und ehrenamtlich, nur dem jeweiligen Erkenntnisstand ihres Fachgebietes und ihren Erfahrungen verpflichtet.

Kompromisse, Schlichtung, Mediation und Konfliktlösung stehen im Mittelpunkt des Prozesses der Entscheidungsfindung. Sachverstand und psychische Reife (gesunder Narzissmus), nicht Machtinteressen und Parteizugehörigkeit bilden seine Basis.

Mit der «Piratenpartei» könnte sich etwas von dieser Vision – vielleicht auch nur auf kurze Zeit – realisieren, bis die Protestler wieder – wie ehemals die «Grünen» – auf dem Boden der herrschenden Realpolitik «angekommen» sein werden. Aber vielleicht bleiben sie noch einige Zeit heilsam «chaotisch» auf der Suche und lassen sich nicht so schnell mit dem Vorwurf, nicht «regierungsfähig» zu sein, in ein narzisstisches Kränkungskorsett zwängen. Sie sind erfolgreich, weil sie noch kein Programm und keine Antworten auf jedes einzelne Problem unserer Zeit haben. Sie werden getragen von der Politikverdrossenheit, von der Suche nach einer Politik und Lebensform, die noch keine Formen angenommen hat. Das ist ihre große Chance: Unzufriedenheit zu formulieren, Fragen aufzuwerfen, zum Nachdenken anzuregen, Irritationen auszulösen, kreative Beunruhigung und kritische Nachfragen zu provozieren – und gerade nicht, wie alle anderen, angesichts ungelöster, komplexer und unüberschaubarer Prozesse Phrasen zu dreschen und Entscheidungssicherheit vorzutäuschen.

Mit den «Piraten» könnte das Internet wahrhaftig zu einer neuen demokratischen Plattform werden, die eine breite Diskussion und Reflexion ermöglicht und die Parteienkungelei der «repräsentativen Demokratie» mit ihren narzisstischen Kämpfen entlarvt. So zu tun, als wisse man genau Bescheid, habe alles im Griff und würde das einzig Richtige tun, ist ein typisches Verhalten narzisstischer Störung und im bisherigen Politikbetrieb unverzichtbar. Dagegen böte die breite – massenwirksame – Diskussion eine große Chance, Befindlichkeiten wie Ängste, Zweifel, Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle, aber auch Visionen, utopische Ideen und ungewöhnliche Wege einzubringen und zu diskutieren. Danach fielen der Parteiführung der «Piraten» vor allem Aufgaben der Moderation, der Zusammenfassung, Verdichtung und Strukturierung der Themen, Erfahrungen und Erkenntnisse zu, mit der Pointe, dass nicht mehr Personen Exponenten inhaltlicher Programme wären und damit der narzisstische Personenkult ein Ende fände.

Ich setze darauf, dass das kritische Potential, das sich zurzeit in der «Piratenpartei» kanalisiert und auch Nichtwähler wiederbelebt, eine heilsame Beunruhigung über unseren Politikbetrieb und unsere Lebensform bewirkt und neue kreative Wege beschreitet, die auf narzissmuspflichtiges Getue verzichten.

Solange jedoch die Ursachen früher seelischer Verletzungen von Kindern nicht wesentlich vermindert werden können, habe ich die Befürchtung, dass sich kollektiv-destruktive Fehlentwicklungen in immer neuen Formen wiederholen. Wenn wir die destruktiven Folgen der narzisstischen Problematik vermeiden wollen, müssen wir uns ernsthaft und engagiert folgenden Aufgaben zuwenden:

  • Wir müssen einer Wachstumsideologie entkommen, die sich aus narzisstisch unbefriedigten Bedürfnissen speist. Dazu müssen wir «Wohlstand» und «Wachstum» nicht vorrangig materiell, sondern bezogen auf die Qualität und die Entwicklung unserer sozialen Beziehungen verstehen.

  • Wir müssen eine «Leistungsgesellschaft» verlassen, die der Kompensation seelischer Defizite dient. Dazu müssen wir «Leistungen» nicht vorrangig nach Geld- und Marktwerten beurteilen, sondern im Hinblick auf individuelle Möglichkeiten sowie soziale und ökologische Notwendigkeiten. Wir müssen lernen, natürliche Begrenzungen zu akzeptieren.

  • Wir dürfen Partnerschaft und Freundschaft, Liebe und Sexualität nicht vorrangig mit «Übertragungen» belasten, die aus unerfüllter narzisstischer Sehnsucht resultieren. Vielmehr sollen sie in einer «Beziehungskultur» gelebt und als befreiend und lustvoll erfahren werden können. Das ist nur auf der Grundlage ehrlicher Mitteilungen und eines offenen Gefühlsausdruckes möglich, mit dem das Mögliche gestaltet, Unterschiede verhandelt und Begrenzungen akzeptiert werden. Dazu bedarf es eines ausreichenden Selbstwertes, der sich durch Therapie sekundär erarbeiten lässt, der sich aber vor allem primär, durch bestmögliche Bestätigung und Zuwendung in der Frühbetreuung, entwickeln sollte.

Ich halte diese Punkte für ebenso wahr wie im Grunde unerreichbar für die Masse der Bevölkerung. Für den Einzelnen macht es Sinn, sich mit diesen Zielen ernsthaft auseinanderzusetzen, weil individuelle Entfremdung damit vermindert werden und Würde wachsen kann. Gesellschaftlich wäre schon viel gewonnen, wenn die Bedeutung der frühen Kindheit akzeptiert und die Sozialpolitik die optimale Betreuung von Kindern zur zentralen Aufgabe machen würde. Dazu gehören natürliche Entbindungen, Elternschulen, die Entwicklung guter Mütterlichkeit und Väterlichkeit, ein Orientierungswandel von der Erziehung zur Beziehung sowie kindorientierte Betreuungsformen. Die narzisstischen Störungen entstehen in der frühen Kindheit. Dort liegt der Schlüssel für die gesellschaftliche Entwicklung. Würde das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt rücken und das individuelle Handeln sich danach ausrichten, dann erledigte sich zum Beispiel der Streit «Betreuungsgeld für Eltern vs. Betreuung von Kindern in öffentlichen Einrichtungen» von selbst. Auf dieser Grundlage könnte eine «Beziehungsgesellschaft» wachsen. Sie würde allmählich die Dominanz der narzisstischen Gesellschaft in dem Maße verringern, wie zunehmend mehr Menschen anders leben wollen und dazu auch psychisch in der Lage sind.