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Alan fuhr in eine der schrägen Parkbuchten
vor Needful Things, schaltete den Motor des Kombis aus und saß dann
einen Augenblick lang einfach da und starrte auf Mr. Gaunts Laden.
Auf dem Schild im Fenster stand jetzt
SIE SAGEN HALLO ICH SAGE LEBEWOHL
LEBEWOHL LEBEWOHL
ICH WEISS NICHT WESHALB SIE HALLO SAGEN
ICH SAGE LEBEWOHL
Blitze flackerten
wie eine riesige Neonbeleuchtung, und das Schaufenster wirkte wie
ein leeres, totes Auge.
Dennoch sagte ihm
ein tiefer Instinkt, daß Needful Things, obwohl still und
geschlossen, möglicherweise doch nicht leer war. Mr. Gaunt konnte
in all dem Durcheinander die Stadt verlassen haben; während das
Gewitter tobte und die Polizisten herumrannten wie kopflose Hühner,
wäre das überhaupt kein Problem gewesen. Aber das Bild, das er sich
auf der langen, eiligen Fahrt vom Krankenhaus in Bridgton zurück in
die Stadt von Mr. Gaunt gemacht hatte, war das von Batman’s Rächer,
dem Joker. Alan spürte, daß er es mit einem Mann zu tun hatte, der
den Einbau eines düsengetriebenen Rückflußventils in der Toilette
eines Freundes für den größten Witz halten würde. Und würde ein
solcher Mann – einer, der nur so zum Spaß eine Heftzwecke auf
deinen Stuhl legen oder ein brennendes Streichholz in deinen Schuh
stecken würde – die Stadt verlassen, bevor du festgestellt hast,
daß deine Socken brennen und deine Hosenaufschläge Feuer fangen?
Natürlich nicht. Wo bliebe denn da der Spaß?
Ich glaube, du bist
noch da, dachte Alan. Ich glaube, du willst dir den Spaß nicht
entgehen lassen. Stimmt’s, du Hurensohn?
Er saß ganz still
da, schaute auf den Laden mit der grünen Markise und versuchte,
sich in das Denken eines Mannes zu versetzen, der eine derart
vielfältige, niederträchtige Reihe von Ereignissen auslösen konnte.
Er konzentrierte sich viel zu stark, um zu registrieren, daß der
Wagen, der links neben dem seinen parkte, ziemlich alt, aber
schnittig, fast aerodynamisch gebaut war. Es war Mr. Gaunts Tucker
Talisman.
Wie hast du es
angestellt? Es gibt sehr vieles, was ich wissen möchte, aber dieses
eine dürfte für heute abend genügen. Wie konntest du es bewerkstelligen? Wie konntest du so
schnell so viel über uns erfahren?
Brian hat gesagt, Mr. Gaunt ist überhaupt kein
Mann.
Bei Tageslicht hätte
Alan über diesen Gedanken gespottet, genau so wie er über den
Gedanken gespottet hatte, daß Pollys Amulett irgendeine
übernatürliche Heilkraft besitzen könnte. Aber heute abend,
eingeschlossen in der irren Hand des Gewitters, in ein Schaufenster
starrend, das sich in ein leeres, totes Auge verwandelt hatte,
hatte dieser Gedanke seine eigene, unbestreitbare, düstere Macht.
Er dachte an den Tag, an dem er in der Absicht, Mr. Gaunt
kennenzulernen und mit ihm zu reden, zu Needful Things gekommen
war, und er erinnerte sich an das eigentümliche Gefühl, das ihn
beschlichen hatte, als er mit seitlich ans Gesicht angelegten
Händen durch das Fenster hineinschaute. Er hatte das Gefühl gehabt,
beobachtet zu werden, obwohl der Laden offensichtlich leer war. Und
nicht nur das – er hatte das Gefühl gehabt, daß der Beobachter
bösartig und voller Haß war. Das Gefühl war so stark gewesen, daß
er eine Sekunde lang sein eigenes Spiegelbild für das unangenehme
(und halb transparente) Gesicht eines anderen gehalten
hatte.
Wie stark dieses
Gefühl gewesen war – wie überaus stark!
Alan erinnerte sich
an noch etwas anderes – etwas, das seine Großmutter immer zu ihm
gesagt hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Die Stimme des Teufels hört sich lieblich
an.
Brian hat gesagt...
Wie war. Mr. Gaunt
an sein Wissen gekommen? Und wie in aller Welt war er ausgerechnet
auf ein kleines Nest wie Castle Rock verfallen?
... Mr. Gaunt ist überhaupt kein Mann.
Alan bückte sich
plötzlich und tastete an der Beifahrerseite des Kombis auf dem
Boden herum. Einen Augenblick lang glaubte er, das, wonach er
suchte, wäre fort – es wäre irgendwann im Laufe des Tages, als die
Beifahrertür offengestanden hatte, herausgefallen. Doch dann
stießen seine Finger auf das gerundete Metall. Es war unter den
Sitz gerollt, das war alles. Er klaubte es hervor, hielt es hoch –
und die Stimme der Depression, die geschwiegen hatte, seit er Sean
Rusks Krankenzimmer verlassen hatte (oder vielleicht hatte Alan
seither nur zuviel um die Ohren gehabt, um sie hören), meldete sich
laut und qualvoll fröhlich wie immer zu Wort.
Hi, Alan! Hallo! Ich war eine Weile fort, tut mir leid,
aber jetzt bin ich wieder da. Was hast du denn da? Eine Nußdose?
Nein – es sieht zwar so aus, aber das ist es nicht, stimmt’s? Es
ist der letzte Scherzartikel, den Todd in dem Neuheitenland in
Auburn gekauft hat, richtig? Eine falsche Tastee-Munch Mixed
Nuts-Dose mit einer grünen Schlange darin – um eine Feder
gewickeltes Krepppapier. Und als er sie dir mit glänzenden Augen
und einem großen, verzückten Lächeln zeigte, da hast du ihm gesagt,
er soll das blöde Ding zurücklegen, nicht wahr? Und als er ganz
enttäuscht dreinschaute, hast du so getan, als bemerktest du es
nicht. Du hast zu ihm gesagt, – warte... Was hast du zu ihm
gesagt?
»Daß der Narr und
sein Geld nicht lange zusammenbleiben«, sagte Alan dumpf. Er drehte
die Dose in den Händen, betrachtete sie, erinnerte sich an Todds
Gesicht. »Das ist es, was ich zu ihm gesagt habe.«
Ach ja, richtig, pflichtete die Stimme bei.
Wie konnte ich das vergessen? Und du redest
von Niedertracht? Na, weißt du! Nur gut, daß du mich daran erinnert
hast. Nur gut, daß du uns BEIDE daran erinnert hast, stimmt’s? Aber
Annie hat den Tag gerettet – sie hat gesagt, du solltest sie ihm
gönnen. Sie hat gesagt – warte... Was hat sie
gesagt?
»Sie hat gesagt, es
machte ihr irgendwie Spaß, daß Todd genau so wäre wie ich, und daß
er nur einmal jung wäre.« Alans Stimme war heiser und bebte. Er
hatte wieder angefangen zu weinen, und warum auch nicht? Warum zum
Teufel auch nicht? Der alte Schmerz war wieder da und schlang sich
um sein wundes Herz wie ein schmutziger Lappen.
Es tut weh, nicht wahr? fragte die Stimme der
Depression – diese schuldige Stimme des Selbsthasses – mit einem
Mitgefühl, von dem Alan argwöhnte, daß es nur vorgetäuscht war.
Es tut weh, ungefähr so, als lebte man in
einem Countryand-Western-Song über eine gute Liebe, die schlecht
geworden ist, oder über gute jungen, die jetzt tot sind. Nichts,
das so weh tut, kann gut für dich sein. Leg es wieder ins
Handschuhfach, mein Alter. Vergiß es. Nächste Woche, wenn dieser
ganze Wahnsinn vorbei ist, kannst du den Kombi mitsamt der falschen
Nußdose verkaufen. Warum nicht? Sie ist ein billiger Scherzartikel,
der nur einem Kind begehrenswert erscheint – oder einem Mann wie
Gaunt. Vergiß es. Vergiß...
Alan schaltete die
Stimme mitten in ihrem Geschwätz aus. Bis zu diesem Augenblick
hatte er nicht gewußt, daß er das konnte, und es war ein gutes
Wissen, das er jetzt besaß, ein Wissen, das sich in der Zukunft als
nützlich erweisen konnte – das heißt, wenn er eine Zukunft
hatte. Er betrachtete die Dose genauer,
drehte sie von einer Seite zur anderen, betrachtete sie zum
erstenmal richtig, sah sie nicht als alberne Erinnerung an seinen
verlorenen Sohn, sondern als Gegenstand, der ebenso ein Instrument
der Irreführung war wie sein hohler Zauberstab, sein seidener
Zylinder mit dem doppelten Boden oder der Trick mit den
aufblühenden Blumen, der immer noch unter seinem Uhrarmband
steckte. Magie – war das nicht alles, um das es hier ging? Es war
eine niederträchtige Magie, zugegeben; Magie, die nicht darauf aus
war, Leute zum Staunen und Lachen zu bringen, sondern darauf, sie
in wütend vorstürmende Bullen zu verwandeln, aber Magie war es
trotzdem. Und was lag aller Magie zugrunde? Irreführung. Es war
eine gut einen Meter lange Schlange in der Nußdose – oder, und
dabei dachte er an Polly, eine Krankheit, die aussieht wie eine
Heilung.
Er öffnete die
Wagentür, und als er in den strömenden Regen hinaustrat, hielt er
noch immer die falsche Nußdose in der linken Hand. Jetzt, da er
sich ein wenig vor der gefährlichen Verlockung der Gefühlsduselei
zurückgezogen hatte, erinnerte er sich an seinen Widerstand gegen
den Kauf dieses Dinges mit so etwas wie Verblüffung. Magie hatte
ihn zeitlebens fasziniert, und natürlich hätte auch ihn, als er ein
Kind war, dieser alte Trick mit einer Schlange in der Dose
begeistert. Weshalb also hatte er Todd gegenüber so unfreundliche
Worte gebraucht, als der Junge ihn kaufen wollte, und dann so
getan, als bemerkte er nicht, wie verletzt der Junge war? War es
Eifersucht gewesen auf Todds Jugend und Begeisterung? Die
Unfähigkeit, sich an das Wunder einfacher Dinge zu erinnern? Was
war es gewesen?
Er wußte es nicht.
Er wußte, daß es genau die Art von Trick war, die Mr. Gaunt
verstehen würde, und deshalb wollte er die Dose jetzt bei sich
haben.
Alan beugte sich
wieder in den Wagen hinein und holte eine Taschenlampe aus der
kleinen Kiste mit allen möglichen Werkzeugen auf dem Rücksitz, dann
ging er an Mr. Gaunts Tucker vorbei (noch immer, ohne ihn zu
bemerken) und trat unter die dunkelgrüne Markise von Needful
Things.