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Polly Chalmers
verbrachte den Samstagnachmittag auf eine für sie höchst unübliche
Art: mit Nichtstun. Sie saß, die Hände im Schoß, in ihrem
Boston-Schaukelstuhl am Fenster und beobachtete den schwachen
Verkehr auf der Straße. Alan hatte sie angerufen, bevor er auf
Streife losgefahren war, hatte ihr erzählt, daß er Leland Gaunt
nicht angetroffen hatte, hatte sie gefragt, wie es ihr ginge und ob
sie irgend etwas brauchte. Sie hatte gesagt, ihr ginge es gut, und
sie brauchte nichts, vielen Dank. Beide Behauptungen waren Lügen;
es ging ihr gar nicht gut, und es gab mehrere Dinge, die sie
brauchte. Ganz oben auf der Liste stand eine Heilmethode für
Arthritis.
Nein, Polly – was du wirklich brauchst, ist ein bißchen
Mut. Gerade genug, um vor den Mann hinzutreten, den du liebst, und
zu sagen: »Alan, ich habe in manchen Punkten die Wahrheit verbogen
über die Jahre, in denen ich von Castle Rock fort war, und über
das, was mit meinem Sohn passiert ist, habe ich dich regelrecht
belogen. Jetzt möchte ich dich um Verzeihung bitten und dir die
Wahrheit sagen.«
Es hörte sich
einfach an, wenn man es so unumwunden aussprach. Es wurde nur
schwer, wenn man dem Mann, den man liebte, in die Augen sah, oder
wenn man versuchte, den Schlüssel zu finden, der einem das Herz
aufschloß, ohne es in blutende, schmerzende Stücke zu
zerreißen.
Schmerzen und Lügen;
Lügen und Schmerzen. Die beiden Themen, um die sich in letzter Zeit
ihr ganzes Leben zu drehen schien.
Wie geht es dir heute, Polly?
Gut, Alan. Mir geht
es gut.
In Wirklichkeit
hatte sie entsetzliche Angst. Nicht, daß ihre Hände in dieser
Sekunde sonderlich heftig geschmerzt hätten; sie wünschte sich
fast, daß es der Fall wäre, denn die Schmerzen, so schlimm sie auch
waren, wenn sie schließlich kamen, waren immer noch besser als das
Warten.
Kurz nach zwölf
hatte sie ein warmes Kribbeln – fast ein Vibrieren – in ihren
Händen gespürt. Es bildete Wärmeringe um ihre Knöchel und um den
Daumenansatz herum; sie spürte, wie es im Bett jedes Fingernagels
in kleinen, stählernen Bogen lauerte wie ein humorloses Lächeln.
Sie hatte das bereits zweimal gespürt und wußte, was es bedeutete.
Sie würde haben, was ihre Tante Betty, die unter der gleichen Form
von Arthritis gelitten hatte, einen wirklich schlimmen Anfall
nannte. »Wenn meine Hände anfangen zu kribbeln, als stünden sie
unter Strom, dann weiß ich immer, daß die Zeit gekommen ist, die
Luken dichtzumachen«, hatte Betty gesagt, und jetzt versuchte
Polly, ihre eigenen Luken dichtzumachen, mit bemerkenswertem Mangel
an Erfolg.
Draußen gingen zwei
Jungen mitten auf der Straße und warfen einen Fußball zwischen sich
hin und her. Der rechte – der jüngste der Lawes-Jungen – setzte zu
einem Weitwurf an. Der Ball entglitt seinen Fingern und landete auf
Pollys Rasen. Er sah, daß sie aus dem Fenster schaute, als er ihn
wiederholen wollte, und winkte ihr zu. Polly hob ihrerseits die
Hand, um das Winken zu erwidern – und spürte den Schmerz dumpf
aufflackern wie einen dicken Haufen Kohlenglut bei einem
unvermuteten Windstoß. Dann war er wieder verschwunden, und nur
noch das unheimliche Kribbeln war da. Es fühlte sich so an, wie
sich manchmal die Luft vor einem heftigen Gewitter
anfühlt.
Die Schmerzen würden
zu gegebener Zeit kommen; sie konnte nichts dagegen tun. Doch die
Lügen, die sie Alan über Kelton aufgetischt hatte – das war etwas
völlig anderes. Und, dachte sie, es ist ja nicht so, daß die
Wahrheit so entsetzlich, so beschämend, so bestürzend wäre – und es
ist auch nicht so, daß er nicht bereits argwöhnte oder wußte, daß
sie ihn belogen hatte. Denn das tat er. Es war seinem Gesicht
anzusehen. Also warum ist es so schwer, Polly? Warum?
Zum Teil wegen der
Arthritis, nahm sie an, und zum Teil wegen der Schmerztabletten,
auf die sie in zunehmendem Maße angewiesen war – beides
zusammengenommen hatte eine Art, das vernünftige Denken zu
verwischen, selbst die klarsten und säuberlichsten rechten Winkel
seltsam schief erscheinen zu lassen. Und dann war da noch die
Tatsache von Alans eigenem Schmerz – und die Ehrlichkeit, mit der
er ihn offenbart hatte. Er hatte ihn ohne das geringste Zögern vor
ihr ausgebreitet, damit sie ihn inspizieren konnte.
Seine Gefühle im
Kielwasser des unerklärlichen Unfalls, der Annie und Todd das Leben
gekostet hatte, waren verworren und häßlich, umgeben von einem
unerfreulichen (und beängstigenden) Wirbel von Emotionen, und
dennoch hatte er sie vor ihr ausgebreitet. Er hatte es getan, weil
er herausfinden wollte, ob sie Dinge über Annies Geisteszustand
wußte, die ihm unbekannt waren – aber er hatte es auch getan, weil
Fair Play und das Nichtverheimlichen solcher Dinge einfach ein Teil
seines Wesens waren. Sie fürchtete sich vor dem, was er denken
mochte, wenn er feststellte, daß Fair Play nicht immer ein Teil
ihres Wesens war; daß ein früher Frost nicht nur ihre Hände,
sondern auch ihr Herz in Mitleidenschaft gezogen
hatte.
Sie bewegte sich
unbehaglich auf ihrem Stuhl.
Ich muß es ihm erzählen – früher oder später
muß ich es tun. Und nichts von alledem
erklärt, weshalb es so schwer ist; nichts von alledem erklärt auch
nur, warum ich ihn überhaupt angelogen habe. Schließlich ist es ja
nicht so, daß ich meinen Sohn umgebracht hätte...
Sie seufzte – ein
Laut, der fast ein Schluchzen war – und bewegte sich auf ihrem
Stuhl. Sie hielt nach den Jungen mit dem Fußball Ausschau, aber sie
waren fort. Dann lehnte sie sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und
schloß die Augen.