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Henry Beaufort, Wirt
und Besitzer des Mellow Tiger, wohnte in einem Haus, das ungefähr
eine Meile von seinem Lokal entfernt war. Myra Evans stellte ihren
Wagen auf dem Parkplatz des Tiger ab – der jetzt, in der
ungewöhnlich warmen Morgensonne, völlig leer war – und ging zu Fuß
zu dem Haus. In Anbetracht dessen, was sie vorhatte, schien das
eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme zu sein. Aber sie hätte sich
keine Sorgen zu machen brauchen. Der Tiger hatte bis ein Uhr nachts
geöffnet, und Henry stand selten früher auf als um die gleiche
Mittagsstunde. Sein Wagen, ein gepflegter 1960er Thunderbird, der
sein ganzer Stolz und seine Freude war, stand auf der
Auffahrt.
Myra trug Jeans und
eines der blauen Arbeitshemden ihres Mannes. Sie trug das Hemd über
der Hose; es reichte ihr fast bis zu den Knien. Es verdeckte den
Gürtel, den sie darunter trug, und die an dem Gürtel hängende
Scheide. Chuck Evans sammelte Objekte aus dem Zweiten Weltkrieg
(und hatte, was sie nicht wußte, bereits selbst in dem neuen Laden
einen entsprechenden Einkauf getätigt), und in der Scheide steckte
ein japanisches Bajonett. Myra hatte es eine halbe Stunde zuvor in
Chucks »Bude« am Keller von der Wand genommen. Bei jedem Schritt
schlug es gegen ihren rechten Oberschenkel.
Sie wollte ihren Job
so schnell wie möglich erledigen, damit sie nach Hause zu ihrem
Elvis-Foto zurückkehren konnte. Sie hatte festgestellt, daß das
In-der-Hand-Halten des Fotos eine Art Geschichte
auslöste.
Es war keine wahre
Geschichte, aber in mancher Hinsicht – im Grunde in jeder Hinsicht – sogar besser als eine wahre Geschichte. Der Erste Akt war
das Konzert, bei dem The King sie auf die Bühne hinaufzog, damit
sie mit ihm tanzte. Der Zweite Akt war der Green Room nach dem
Auftritt, und der Dritte Akt spielte in der Limousine. Einer von
Elvis’ Freunden aus Memphis fuhr den Wagen, und The King machte
sich nicht einmal die Mühe, die schwarze Scheibe zwischen ihnen und
dem Fahrer hochzufahren, bevor er auf der Fahrt zum Flughafen die
unerhörtesten und herrlichsten Sachen mit ihr
anstellte.
Der Vierte Akt lief
unter der Überschrift Im Flugzeug. In
diesem Akt befanden sie sich in der Lisa
Marie, Elvis’ Convair Jet – genauer gesagt, in dem großen
Doppelbett jenseits der Trennwand im hinteren Teil der Kabine. Das
war der Akt, den Myra gestern abend und heute morgen genossen
hatte; unterwegs in einer Höhe von zweiunddreißigtausend Fuß in der
Lisa Marie, unterwegs im Bett mit The
King. Sie hätte nichts dagegen gehabt, für immer bei ihm zu
bleiben, aber sie wußte, daß sie das nicht tun würde. Noch stand
der Fünfte Akt bevor: Graceland. Und
sobald sie dort waren, konnte alles nur noch besser
werden.
Aber zuerst mußte
sie diesen Auftrag erledigen.
Sie hatte an diesem
Morgen im Bett gelegen, nackt bis auf ihren Strumpfhaltergürtel
(The King hatte seinem Wunsch, daß Myra ihn anbehielt, sehr
deutlich Ausdruck gegeben). Sie hatte das Foto fest in beiden
Händen gehalten, gestöhnt und sich langsam auf den Laken gewunden.
Und dann war das Doppelbett plötzlich verschwunden. Der Duft des
English Leather von The King war verschwunden.
An die Stelle all
dieser wunderbaren Dinge war das Gesicht von Mr. Gaunt getreten;
nur sah er nicht mehr so aus wie in seinem Laden. Die Haut auf
seinem Gesicht wirkt blasig, versengt von einer phantastischen
inneren Hitze. Sie zuckte und pulsierte, als befänden sich Dinge
unter ihr, die herauswollten. Und als er lächelte, war aus seinen
großen, schiefen Zähnen eine Doppelreihe von Reißzähnen
geworden.
»Es wird Zeit,
Myra«, hatte Mr. Gaunt gesagt.
»Ich möchte bei
Elvis bleiben«, winselte sie. »Ich werde es tun, aber nicht jetzt
gleich – bitte, nicht jetzt gleich.«
»Doch, jetzt gleich.
Sie haben es versprochen, und Sie werden Ihr Versprechen halten.
Wenn nicht, wird es Ihnen sehr leid tun, Myra.«
Dann hatte sie ein
sprödes Krachen gehört. Sie schaute herunter und sah mit Entsetzen,
daß das Glas über dem Foto von The King einen Sprung
hatte.
»Nein!« schrie sie.
»Nein, tun Sie das
nicht!«
»Nicht ich bin es,
der das tut«, hatte Mr. Gaunt mit einem Auflachen erwidert.
»Sie tun es. Sie tun es, weil Sie ein
albernes, faules Weibsbild sind. Dies ist Amerika, Myra, wo nur die
Huren ihre Geschäfte im Bett erledigen. In Amerika müssen
anständige Leute aufstehen und sich die Dinge verdienen, die sie brauchen, oder sie ein für
allemal verlieren. Ich glaube, das haben Sie vergessen. Natürlich
kann ich jederzeit jemand anderen finden, der Mr. Beaufort diesen
kleinen Streich spielt, aber was Ihre wundervolle affaire du cœur mit The King
angeht...«
Ein weiterer Sprung
fuhr wie ein silberner Blitz quer durch das Glas über dem Foto. Und
das Gesicht darunter wurde, wie sie mit wachsendem Entsetzen
feststellte, alt und runzlig und verfärbte sich rötlich, sobald die
verderbliche Luft eindringen und darauf einwirken
konnte.
»Nein! Ich tue es! Ich tue es gleich jetzt! Sehen Sie, ich
stehe sofort auf! Aber machen Sie, daß
es aufhört! MACHEN SIE, DASS ES AUFHÖRT!«
Myra war auf den
Fußboden gesprungen mit der Hast einer Frau, die gerade entdeckt
hat, daß sie das Bett mit einem Nest voller Skorpione geteilt
hat.
»Wenn Sie Ihr
Versprechen einlösen«, sagte Mr. Gaunt. Jetzt sprach er aus
irgendeiner tiefen Senke in ihrem Kopf heraus. »Sie wissen, was Sie
zu tun haben, nicht wahr?«
»Ja, ich weiß es.«
Myra betrachtete verzweifelt das Foto – das Bild eines alten,
kranken Mannes, das Gesicht aufgeschwemmt von Jahren voller
Ausschweifungen und Schwelgereien. Die Hand, die das Mikrofon
hielt, war die Klaue eines Geiers.
»Wenn Sie Ihren
Auftrag erledigt haben«, sagte Mr. Gaunt, »wird das Foto wieder in
Ordnung sein. Aber passen Sie gut auf, daß niemand Sie sieht, Myra.
Wenn irgendjemand Sie sieht, dann sehen Sie ihn nie wieder.«
»Ich passe auf!«
stammelte sie. »Ich schwöre es – ich passe auf!«
Und jetzt, da sie
Henry Beauforts Haus erreichte, erinnerte sie sich an diese
Ermahnung. Sie schaute sich um, vergewisserte sich, daß niemand die
Straße entlangkam. Sie war völlig menschenleer. Auf einem
abgeernteten Oktober-Feld schrie schläfrig eine Krähe. Andere
Geräusche waren nicht zu hören. Der Tag schien zu pulsieren, als
wäre er lebendig, und das Land lag betäubt unter dem langsamen
Klopfen einer Hitze, die nicht der Jahreszeit
entsprach.
Myra ging die
Auffahrt hinauf, griff unter das blaue Hemd, vergewisserte sich,
daß die Scheide und das darin steckende Bajonett noch da waren.
Schweiß rann tröpfelnd und juckend an ihrer Wirbelsäule entlang und
unter ihren Büstenhalter. Obwohl sie es nicht wußte und es, wenn
man es ihr gesagt hätte, auch nicht geglaubt hätte, war sie in der
ländlichen Stille für kurze Zeit schön. Ihr nichtssagendes,
gedankenloses Gesicht hatte, zumindest in diesem Augenblick, eine
Zielstrebigkeit und Entschlossenheit angenommen, die nie zuvor
dagewesen war. Ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlich ab – zum
erstenmal seit der High School, in der sie zu dem Entschluß gelangt
war, daß ihre Lebensaufgabe darin bestand, sämtliche Yodels und
Ding-Dongs und Hoodsie Rockets der Welt zu essen. In den letzten
vier oder fünf Tagen war sie viel zu sehr beschäftigt gewesen,
immer ausgefalleneren Sex mit The King zu haben, um viel an Essen
zu denken. Ihr Haar, das ihr normalerweise glatt und schlaff ums
Gesicht hing, war zu einem festen kleinen Pferdeschwanz
zusammengebunden und ließ ihre Stirn frei. Der größte Teil der
Pickel, die, seit sie zwölf Jahre alt gewesen war, ständig aus
ihrem Gesicht hervorgebrochen waren wie ungemütliche Vulkane,
heilte ab – vielleicht geschockt von der plötzlichen Überdosis an
Hormonen und der ebenso plötzlichen Reduzierung des Zuckerkonsums
nach Jahren voll täglicher Überdosen. Noch bemerkenswerter waren
ihre Augen – weit geöffnet, blau, fast wild. Das waren nicht die
Augen von Myra Evans, sondern die irgendeines Dschungeltieres, das
jeden Moment bösartig werden konnte.
Sie erreichte Henrys
Wagen. Jetzt kam etwas die Route 117
entlang – ein alter, klappriger Farmlaster auf dem Weg in die
Stadt. Myra lief um den Thunderbird herum und ging hinter dem
Kühlergrill in Deckung, bis der Laster verschwunden war. Dann
richtete sie sich wieder auf. Aus der Brusttasche ihres Hemdes zog
sie ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie öffnete es, glättete
es sorgfältig und schob es dann so unter den Scheibenwischer, daß
der Text darauf deutlich zu sehen war.

Es war Zeit für das
Bajonett.
Sie sah sich schnell
noch einmal um, doch das einzige, was sich in dem ganzen heißen
Tageslicht bewegte, war eine einsame Krähe, vielleicht die, die
eine Weile zuvor geschrien hatte. Sie flatterte auf die Spitze
einer der Auffahrt genau gegenüberstehenden Telegrafenstange und
schien sie zu beobachten.
Myra zog das
Bajonett aus der Scheide, packte es mit beiden Händen, bückte sich
und rammte es bis zum Griff in den vorderen Weißwandreifen an der
Fahrerseite. Ihr Gesicht war in Erwartung eines lauten Knalls zu
einer Grimasse verzerrt, aber es gab nur ein plötzliches, atemloses
huuuusch – ungefähr das Geräusch, das
ein großer Mann von sich gibt, nachdem man ihm einen Schlag in die
Magengrube versetzt hat. Der Thunderbird neigte sich deutlich nach
links. Myra zerrte an dem Bajonett, riß das Loch größer, dankbar
dafür, daß Chuck seine Waffen gern scharf hielt.
Nachdem sie ein
ausgefetztes Gummilächeln in den rapide zusammensackenden Reifen
geschnitten hatte, ging sie zu dem an der Beifahrerseite und tat
dort dasselbe. Es verlangte sie immer noch danach, zu ihrem Foto
zurückzukehren; dennoch war sie froh, daß sie hergekommen war. Das
war aufregend. Der Gedanke an Henrys Gesicht, wenn er sah, was mit
seinem kostbaren Thunderbird passiert war, machte sie sogar geil.
Gott wußte, warum, aber sie dachte daran, wenn sie endlich wieder
an Bord der Lisa Marie war, würde sie
The King vielleicht noch den einen oder anderen neuen Trick zeigen
können.
Sie begab sich zu
den Hinterreifen. Jetzt schnitt das Bajonett nicht mehr ganz so
gut, aber sie glich das durch ihre eigene Begeisterung aus und
sägte tatkräftig in die Reifenwände hinein.
Als die Arbeit
erledigt und alle vier Reifen nicht nur angestochen, sondern
regelrecht zerfetzt waren, trat Myra zurück, um ihr Werk zu
betrachten. Sie atmete hastig und wischte sich mit einer heftigen,
männlichen Geste den Schweiß von der Stirn. Henry Beauforts
Thunderbird saß jetzt gut fünfzehn Zentimeter niedriger über der
Auffahrt als bei ihrer Ankunft. Er ruhte auf den Felgen, und unter
ihnen breitete sich zusammengequetscht das schlaffe Gummi der
teuren Gürtelreifen. Und dann entschloß sich Myra, obwohl dazu
nicht aufgefordert, dem Ganzen noch jenen letzten Schliff zu geben,
der so viel ausmacht. Sie fuhr mit der Spitze des Bajonetts über
die Seitenfront des Wagens und riß in die auf Hochglanz polierte
Oberfläche einen langen, gezackten Kratzer.
Das Bajonett
kreischte über das Metall, und Myra schaute zum Haus hinüber,
plötzlich ganz sicher, daß Henry Beaufort das Geräusch gehört haben
mußte, daß die Jalousie im Schlafzimmer plötzlich hochschnellen und
er zu ihr herausschauen würde.
Das geschah nicht,
aber sie wußte, daß es Zeit war, zu verschwinden. Sie war
entschieden zu lange hier gewesen, und daheim in ihrem Schlafzimmer
wartete The King auf sie. Myra eilte die Auffahrt hinunter, brachte
das Bajonett wieder in seiner Scheide unter und verdeckte sie
wieder mit Chucks Hemd. Ein Wagen fuhr an ihr vorüber, bevor sie
wieder beim Mellow Tiger angekommen war, aber er fuhr in die
entgegengesetzte Richtung – sofern der Fahrer nicht in seinem
Rückspiegel mit ihr liebäugelte, hätte er nur ihren Rücken
gesehen.
Sie glitt in ihren
eigenen Wagen, zerrte das Gummiband aus ihrem Haar, ließ es auf
seine gewohnt schlaffe Art wieder um ihr Gesicht fallen und fuhr in
die Stadt zurück. Das tat sie einhändig. Sie schloß ihr Haus auf
und rannte dann, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Das Foto lag auf dem Bett, wo sie es zurückgelassen hatte. Myra
schleuderte die Schuhe von den Füßen, riß ihre Jeans herunter,
ergriff das Foto und sprang mit ihm ins Bett. Die Sprünge im Glas
waren verschwunden; The King war wieder jung und
schön.
Dasselbe ließ sich
von Myra Evans sagen – zumindest vorübergehend.