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Nettie Cobb, ohne
die mindeste Vorahnung dessen, was zu Hause auf sie wartete, war
allerbester Stimmung, als sie die Main Street hinunter und auf
Needful Things zuging. Ein starkes Gefühl sagte ihr, daß der Laden,
obwohl es Sonntagmorgen war, offen sein würde, und sie wurde nicht
enttäuscht.
»Mrs. Cobb!« sagte
Leland Gaunt, als sie hereinkam. »Ich freue mich, Sie zu
sehen!«
»Auch ich freue
mich, Sie zu sehen, Mr. Gaunt«, sagte sie – und so war
es.
Mr. Gaunt kam
herbei, mit ausgestreckter Hand, aber Nettie wich vor der Berührung
zurück. Es war ein unverzeihliches Benehmen, so unhöflich, aber
Nettie konnte einfach nicht anders. Und Mr. Gaunt schien es zu
verstehen, Gott segne ihn. Er lächelte, änderte seinen Kurs und
machte statt dessen die Tür hinter ihr zu. Dann drehte er mit der
Schnelligkeit eines Berufsspielers, der ein As im Ärmel
verschwinden läßt, das Schild von GEÖFFNET zu GESCHLOSSEN
um.
»Bitte, nehmen Sie
Platz, Mrs. Cobb! Bitte! Nehmen Sie Platz!«
»Nun ja, also gut –
aber ich bin eigentlich nur gekommen, um Ihnen zu sagen, daß
Polly... Polly ist...« Sie fühlte sich irgendwie merkwürdig. Eine
Art Schwimmen im Kopf. Sie ließ sich nicht sonderlich anmutig auf
einem der Polsterstühle nieder. Dann stand Mr. Gaunt vor ihr; er
hatte die Augen auf sie geheftet, und die Welt schien um ihn zu
kreisen und dann wieder stillzustehen.
»Polly fühlt sich
nicht wohl, stimmt’s?« fragte Mr. Gaunt.
»So ist es«,
pflichtete Nettie ihm dankbar bei. »Es sind ihre Hände, müssen Sie
wissen. Sie hat...«
»Arthritis, ja,
entsetzlich, ein Jammer, aber das Leben ist manchmal äußerst
unerfreulich. Ich weiß, Nettie.« Mr. Gaunts Augen wurden wieder
größer. »Aber es besteht keine Veranlassung, sie anzurufen – oder
sie zu besuchen. Ihren Händen geht es jetzt besser.«
»Wirklich?« fragte
Nettie fast unbeteiligt.
»Ja. Sie tun
natürlich noch weh, und das ist gut, aber die Schmerzen sind nicht
heftig genug, um sie fernzuhalten, und das ist noch besser – finden
Sie nicht auch, Nettie?«
»Ja«, sagte Nettie
schwach; sie hatte keine Ahnung, was es war, dem sie
zustimmte.
»Und Ihnen«, sagte
Mr. Gaunt mit seiner sanftesten, heitersten Stimme, »steht ein
großer Tag bevor, Nettie.«
»Tatsächlich?« Das
war ihr neu; sie hatte vorgehabt, den Nachmittag in ihrem
Lieblingssessel im Wohnzimmer zu verbringen, zu stricken und mit
Raider zu ihren Füßen fernzusehen.
»Ja. Ein
sehr großer Tag. Und deshalb möchte
ich, daß Sie hier sitzen bleiben und sich einen Moment ausruhen,
während ich etwas hole. Werden Sie das tun?«
»Ja...«
»Gut. Und machen Sie
die Augen zu, ja? Ruhen Sie sich richtig aus, Nettie!«
Gehorsam machte Nettie die Augen zu.
Irgendwann später sagte Mr. Gaunt, sie sollte sie wieder aufmachen.
Sie tat es und verspürte einen Stich vor Enttäuschung. Wenn Leute
einem sagen, man solle die Augen zumachen, dann hatten sie manchmal
vor, einem etwas Hübsches zu geben. Ein Geschenk. Sie hatte
gehofft, wenn sie die Augen wieder aufmachte, würde Mr. Gaunt
vielleicht ein weiteres Stück Buntglas in der Hand halten, aber
alles, was er hatte, war ein Block Papier. Die Blätter waren klein
und rosa. Auf jedem standen die Worte:
VERWARNUNG WEGEN VERKEHRSWIDRIGEN VERHALTENS
»Oh«, sagte sie.
»Ich dachte, es wäre vielleicht Buntglas.«
»Ich glaube, Sie
brauchen kein Buntglas mehr, Nettie.«
»Nein?« Der Stich
von Enttäuschung war wieder da. Diesmal war er
stärker.
»Nein. Traurig, aber
wahr. Aber ich nehme an, Sie wissen noch, daß Sie etwas für mich
tun wollten.« Mr. Gaunt setzte sich neben sie. »Das wissen Sie doch
noch, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie.
»Sie möchten, daß ich Buster einen Streich spiele. Sie möchten, daß
ich irgendwelche Papiere in sein Haus bringe.«
»So ist es, Nettie –
sehr gut. Haben Sie noch den Schlüssel, den ich Ihnen gegeben
habe?«
Langsam wie eine
Figur in einem Unterwasser-Ballett holte Nettie den Schlüssel aus
der rechten Manteltasche. Sie hielt ihn hoch, damit Mr. Gaunt ihn
sehen konnte.
»Sehr gut!« sagte er
freundlich. »Und nun stecken Sie ihn wieder ein, Nettie. Dahin, wo
Sie ihn nicht verlieren können.«
Sie tat
es.
»So, und hier sind
die Papiere.« Er legte ihr den rosa Block in die eine Hand. In die
andere legte er einen Klebebandspender. Jetzt begannen irgendwo in
ihr Alarmglocken zu schrillen, aber sie waren weit weg, kaum zu
hören.
»Ich hoffe, es
dauert nicht lange. Ich muß bald nach Hause. Ich muß Raider
füttern. Das ist mein kleiner Hund.«
»Ich weiß alles über
Raider«, sagte Mr. Gaunt und bedachte Nettie mit einem breiten
Lächeln. »Aber ich habe so ein Gefühl, als hätte er heute nicht
viel Appetit. Und ich glaube auch nicht, daß Sie Sorge haben
müssen, daß er auf den Küchenfußboden pinkelt.«
»Aber...«
Er berührte ihre
Lippen mit einem seiner langen Finger und plötzlich wurde ihr
entsetzlich übel.
»Nicht«, winselte
sie und wich auf dem Stuhl zurück, so weit sie konnte. »Nicht, das
ist scheußlich.«
»So sagt man«,
pflichtete Mr. Gaunt ihr bei. »Und wenn Sie nicht wollen, daß ich
scheußlich zu Ihnen bin, Nettie, dann dürfen Sie nie wieder dieses
scheußliche Wort gebrauchen.«
»Welches
Wort?«
»Aber. Ich kann dieses Wort nicht ausstehen. Man
könnte sogar sagen, daß ich dieses Wort hasse. In der besten aller Welten besteht keinerlei
Veranlassung, ein derart jämmerliches kleines Wort zu gebrauchen.
Ich möchte, daß Sie etwas anderes für mich sagen, Nettie – ich
möchte, daß Sie ein paar Worte aussprechen, die ich liebe. Worte,
für die ich regelrecht schwärme.«
»Was für
Worte?«
»Mr. Gaunt weiß es
am besten. Sagen Sie das.«
»Mr. Gaunt weiß es
am besten«, wiederholte sie, und sobald die Worte aus ihrem Mund
heraus waren, begriff sie, wie absolut und vollständig wahr sie
waren.
»Mr. Gaunt weiß es
immer am besten.«
»Mr. Gaunt weiß es
immer am besten.«
»Richtig! Genau wie
Vater«, sagte Mr. Gaunt, und dann lachte er. Es war ein Geräusch,
als bewegten sich Felsplatten tief in der Erde, und dabei
veränderte sich die Farbe seiner Augen blitzschnell von Blau über
Grün und Braun zu Schwarz. »Und jetzt hören Sie mir genau zu,
Nettie. Sie haben diesen kleinen Auftrag für mich zu erledigen, und
dann können Sie nach Hause gehen. Haben Sie
verstanden?«
Nettie hatte
verstanden.
Und sie hörte sehr
genau zu.