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»TAMMMMMEEEE FAYYYYE!«
Dieser Schrei riß
Frank Jewett aus seinem tiefen Schlaf. In diesen ersten, verwirrten
Sekunden hatte er nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand –
nur, daß es sich um einen engen Raum handelte. Einen unangenehmen Raum. Außerdem war da etwas in seiner
Hand – was war es?
Er hob die rechte
Hand und hätte sich beinahe mit dem Steakmesser das Auge
ausgestochen.
»Ooooooohhh, oooooohh! TAMMEEEEE
FAYYYYYE!«
Da fiel ihm alles
wieder ein. Er lag hinter dem Sofa seines guten alten
>Freundes< George T. Nelson, und es war George T. Nelson
selbst, wie er leibte und lebte, der lautstark seinen toten Sittich
betrauerte. Mit diesem Begreifen stellte sich auch alles andere
wieder ein: die über sein Büro verstreuten Zeitschriften, der
Erpresserbrief, der mögliche (nein, wahrscheinliche – je länger er
darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam es ihm vor) Ruin
seiner Karriere und seines Lebens.
Und jetzt konnte er,
so unglaublich es auch war, hören, wie George T. Nelson schluchzte.
Wegen eines verdammten flatternden Scheißvogels schluchzte. Nun,
dachte Frank, ich werde dich von deinem Jammer erlösen, George. Wer
weiß – vielleicht kommst du sogar in den Vogelhimmel.
Das Schluchzen
näherte sich dem Sofa. Es wurde immer besser. Er würde aufspringen
– Überraschung, George! -, und der Dreckskerl würde tot sein, bevor
er auch nur ahnte, was ihm bevorstand. Frank war im Begriff, seinen
Sprung zu tun, als sich George T. Nelson, immer noch schluchzend,
als wollte sein Herz brechen, auf sein Sofa fallen ließ. Er war ein
schwerer Mann, und sein Gewicht schob das Sofa mit einem Ruck
wieder an die Wand. Er hörte nicht das überraschte, atemlose
>Uuuuf!<, das dahinter hervordrang; sein eigenes Schluchzen
übertönte es. Er tastete nach dem Telefon, wählte durch einen
Tränenschleier hindurch und bekam (was fast ein Wunder war) beim
ersten Läuten Fred Rubin an den Apparat.
»Fred!« weinte er.
»Fred, etwas Entsetzliches ist passiert! Vielleicht passiert es
immer noch! Oh, Jesus, Fred! Oh, Jesus!«
Unter und hinter ihm
rang Frank Jewett nach Atem. Geschichten von Edgar Allan Poe, die
er als Kind gelesen hatten, Geschichten über Leute, die lebendig
begraben wurden, rasten durch seinen Kopf. Sein Gesicht nahm
langsam die Farbe alter Ziegelsteine an. Das schwere hölzerne Bein,
das gegen seine Brust gedrückt worden war, als George T. Nelson auf
das Sofa sank, fühlte sich an wie ein Bleistange. Die Rückwand des
Sofas preßte sich gegen seine Schulter und eine Seite seines
Gesichtes.
Über ihm sprudelte
George T. Nelson eine verworrene Beschreibung dessen, was er beim
Heimkommen vorgefunden hatte, in Fred Rubins Ohr. Endlich hielt er
einen Moment inne, und dann weinte er: »Warum soll ich darüber
nicht am Telefon reden? WIE KANN MICH DAS KÜMMERN; WO ER TAMMY FAYE
UMGEBRACHT HAT? DAS SCHWEIN HAT TAMMY FAYE UMGEBRACHT! Wer konnte
so etwas tun, Fred? Wer? Du mußt mir
helfen!«
Eine weitere Pause,
während George T. Nelson zuhörte, und Frank erkannte mit wachsender
Panik, daß er bald ohnmächtig werden würde. Plötzlich wurde ihm
klar, was er tun mußte: er mußte die Llama Automatik dazu benutzen,
durch das Sofa zu schießen. Er würde George T. Nelson vielleicht
nicht töten, würde George T. Nelson vielleicht nicht einmal
treffen, aber er würde auf jeden Fall
George T. Nelsons Aufmerksamkeit erregen, und sobald ihm das
gelungen war, standen die Chancen recht gut, daß George T. Nelson
seinen fetten Hintern von dem Sofa erheben würde, bevor Frank hier
unten mit gegen die Fußbodenheizung gequetschter Nase
starb.
Frank öffnete die
Hand, die das Steakmesser hielt, und versuchte, die im Taillenbund
seiner Hose steckende Pistole zu erreichen. Alptraumhaftes
Entsetzen flutete durch ihn hindurch, als ihm bewußt wurde, daß er
sie nicht erreichen konnte – seine Finger öffneten und schlossen
sich gut fünf Zentimeter oberhalb des mit Elfenbein eingelegten
Griffs der Pistole. Er versuchte mit all seiner verbliebenen Kraft,
seine Hand weiter auszustrecken, aber seine eingeklemmte Schulter
bewegte sich nicht; das große Sofa – und George T. Nelsons
beträchtliches Gewicht – drückten sie an die Wand, als wäre sie
dort angenagelt.
Schwarze Rosen –
Vorboten nahenden Erstickens – verblühten vor Frank vorgequollenen
Augen.
Wie aus einer
unvorstellbaren Ferne hörte er, wie sein alter >Freund< Fred
Rubin anschrie, der zweifellos George T. Nelsons Partner im
Kokaingeschäft war. »Wovon redest du
da? Ich rufe an, um dir zu sagen, was hier passiert ist, und du
sagst, ich soll den neuen Mann auf der Main Street aufsuchen? Ich
brauche keinen Schnickschnack, Fred ich brauch...«
Er brach ab, stand
auf und wanderte durch das Zimmer. Mit dem, was buchstäblich sein
letztes bißchen Kraft war, schaffte Frank es, das Sofa ein paar
Zentimeter von der Wand abzurücken. Es war nicht viel, aber er
konnte wenigstens kleine Portionen unglaublich wunderbarer Luft
einatmen.
»Er verkauft
was?« brüllte George T. Nelson. »Warum
hast du das nicht gleich gesagt?«
Wieder Stille. Frank
lag hinter dem Sofa wie ein gestrandeter Wal, atmete kleine
Portionen Luft ein und hoffte, daß sein pochender Kopf nicht
explodieren würde. Gleich würde er aufstehen und seinen alten
>Freund< George T. Nelson ins Jenseits schicken. Gleich.
Sobald er wieder Luft bekam. Und wenn die großen schwarzen Blumen,
die vor seinen Augen tanzten, wieder zu einem Nichts
zusammengeschrumpft waren. Gleich. Oder in wenigen
Augenblicken.
»Okay«, sagte George
T. Nelson. »Ich gehe zu ihm. Ich bezweifle zwar, daß er der
Wundermann ist, für den du ihn hältst, aber in einem Sturm ist
jeder Hafen recht. Aber ich muß dir etwas sagen – mir ist es
ziemlich egal, ob er dealt oder nicht. Ich muß den Kerl finden, der
mir das angetan hat – das ist meine erste Amtshandlung -, und dann
nagele ich ihn an die nächste Wand. Hast du
verstanden?«
Ich habe es verstanden, dachte Frank, aber wer wen
an die Wand nagelt, wird sich noch herausstellen, mein lieber alter
Partygenosse.
»Ja, ich
habe den Namen verstanden!« brüllte
George T. Nelson in den Hörer. »Gaunt, Gaunt, Gaunt!«
Er hieb den Hörer
auf die Gabel, dann mußte er das Telefon durchs Zimmer geschleudert
haben – Frank hörte das Klirren von zerbrechendem Glas. Sekunden
später stieß George T. Nelson einen letzten Fluch aus und stürmte
aus dem Haus. Der Motor seines Iroc-Z heulte auf. Frank hörte, wie
er auf die Auffahrt zurücksetzte, während er selbst langsam das
Sofa von der Wand schob. Reifen quietschten gegen den Bordstein,
und dann war Franks alter >Freund< George T. Nelson
verschwunden.
Zwei Minuten später
kamen zwei Hände in Sicht und umklammerten die Rückenlehne des
hafermehlfarbenen Sofas. Einen Augenblick später erschien zwischen
den Händen das Gesicht von Frank Jewett – bleich und verstört, die
randlose Mr. Weatherbee-Brille schief auf der kleinen
Himmelfahrtsnase. Die Rückwand des Sofas hatte auf seiner rechten
Wange ein rotes Tüpfelmuster hinterlassen, und in seinem schütteren
Haar tanzten ein paar Staubflocken.
Langsam, wie ein
aufgeblähter Leichnam, der vom Flußbett aufsteigt, bis er dicht
unter der Oberfläche schwimmt, kehrte das Grinsen auf Franks
Gesicht zurück. Diesmal war ihm sein alter >Freund< George T.
Nelson entkommen. Aber George T. Nelson hatte nicht die Absicht,
die Stadt zu verlassen. Das war aus seinem Telefongespräch deutlich
hervorgegangen. Frank würde ihn finden, bevor der Tag zu Ende war.
Wie konnte er ihm entgehen – in einer Stadt von der Größe von
Castle Rock?