21. Kapitel
Ganz gleich, was ihr tut, die Liebe wird immer den Weg zu euch finden.
So sprach die alte Heilerin Nora von Loch Lomond in einer kalten Nacht zu ihren drei Enkelinnen.
Caitlyn lehnte die Stirn gegen das kühle Fensterglas in ihrem Schlafzimmer. Draußen reflektierte der Schnee die Lichter des Hauses. Ganz England war unter der weißen Pracht begraben, und es schneite immer noch und schien kein Ende nehmen zu wollen.
Ihre Schwester Mary klopfte an die Tür und trat ein. „Ich bringe dir etwas heiße Milch. Vielleicht hilft dir das beim Einschlafen.“
„Es geht mir gut. Danke.“
„Nein, es geht dir nicht gut. Mein Zimmer liegt unter deinem, und ich höre dich jede Nacht auf und ab gehen.“ Mary reichte Caitlyn einen dampfenden Becher mit Milch. „Trink das.“
Gehorsam tat Caitlyn wie geheißen, obwohl ihr nicht im Geringsten danach war.
Mary zog das Tuch über ihrem Nachthemd zurecht und ging zu einem Sessel vor dem Kamin. „Ob es jemals wieder aufhört zu schneien? Seit zwei Tagen fallen unaufhörlich die Flocken vom Himmel.“
„Das ist besser als der Regen, den wir letzte Woche hatten.“
Mary zog eine Grimasse. „Regen, Schnee. Ich habe das alles so satt!“
Caitlyn seufzte, und ihr Atem malte einen feuchten Kreis auf die Fensterscheibe, während sie zuschaute, wie die weißen Flocken langsam zu Boden sanken. „Erst sah es hübsch aus.“
„Es ist immer noch hübsch, aber wir brauchen nicht noch mehr davon. Vater hat gesagt, dass wir die Wege noch einmal frei schaufeln müssen, wenn es so weitergeht.“ Mary erschauderte. „Ich wünschte, Mutter und er wären bei diesem Wetter nicht unterwegs, aber wer hätte gedacht, dass Tante Lavinia tatsächlich einmal Herzprobleme bekommen würde, nachdem sie all die Jahre ständig davon gesprochen hat.“
„Ich bin froh, dass sie sich schon ein wenig erholt hat. Mutter hängt sehr an ihrer Schwester.“
„Das tun wir alle“, stimmte Mary zu.
Der kalte Wind drang durch die Ritzen des Fensters, und Caitlyn fröstelte. Sie zog die Vorhänge halb zu, ging zum Kamin und rollte sich in einem zweiten Sessel zusammen.
Nachdenklich ließ Mary den Blick ihrer dunkelbraunen Augen auf Caitlyn ruhen. „Bist du mit dem Retikül fertig, das du machen wolltest?“
„Nein.“
„Hast du das Buch gelesen, das William dir gegeben hat? Das von der entführten Erbin?“
„Nein.“
Mary nickte und wirkte kein bisschen überrascht. „Ich nehme an, du hast auch keine Spitzenhäkelei gemacht, keine Stickerei oder...“
„Ich habe heute gar nichts gemacht“, unterbrach Caitlyn sie knapp.
„Wir machen uns alle Sorgen um dich.“
„Warum?“
„Weil du nichts anderes tust, als Trübsal zu blasen. Du isst nicht einmal richtig.“
„Es geht mir gut. Es liegt nur an diesem Wetter.“
Mary zog die Brauen hoch. „Ich glaube, es ist wegen Mac-Lean.“
Caitlyn schloss die Augen und wünschte sich zum hundertsten Mal, sie hätte sich ihrer Schwester nicht anvertraut, aber sie hatte es irgendjemandem erzählen müssen. Natürlich hatte sie ihr nicht alle Einzelheiten verraten - einige waren zu intim und zu schmerzhaft, um sie laut auszusprechen. Dennoch wusste Mary genug, und was sie nicht wusste, hatte sie sich wahrscheinlich zusammengereimt. „Lass das sein, Mary.“
Mary seufzte. „Ich weiß, ich weiß. Ich wollte nur ...“Sie runzelte die Stirn. „Du musst ganz ehrlich zu dir sein, Caitlyn. Es gibt keinen Grund, dich so Schlecht zu fühlen, es sei denn ...“
„Es sei denn was?“, erkundigte sich Caitlyn in herausforderndem Ton.
Mary zögerte und erwiderte dann mit leiser Stimme: „Es sei denn, dir liegt etwas an ihm.“
Caitlyns Herz wurde so schwer, dass ihr die Brust schmerzte.
„Ich dachte nur ... Es tut mir leid“, fuhr Mary traurig fort. „Ich wollte nicht neugierig sein. Außerdem findest du sicher heraus, was du fühlst, wenn die Zeit vergeht. Vielleicht möchtest du dann auch darüber reden.“
„Ich bin sicher, so wird es sein. Vielen Dank, Mary.“ Tränen brannten in Caitlyns Augen, und sie trank hastig etwas von der Milch.
Mary stand auf und umarmte Caitlyn. „Gut. Dann schlaf schön.“
Die Tür schloss sich hinter ihrer Schwester, und als sie das leise Klicken des Riegels hörte, durchströmten die verschiedensten Gefühle Caitlyns Körper, gute und schlechte.
Sie liebte Alexander MacLean tief und leidenschaftlich mit ihrem ganzen Sein. Tränenblind tastete sie sich zu ihrem Bett, warf sich darauf und weinte.
Als schließlich keine Tränen mehr kamen, stand sie wieder auf, wusch sich das Gesicht, zog das Kleid aus und das Nachthemd an und löschte die Lampen. Dann kletterte sie wieder in ihr Bett, lag lange, sehr lange wach und wünschte sich, sie könnte aufhören, zu denken, aufhören, zu fühlen.
Schließlich schlief sie ein, doch kurz darauf wurde sie vom Geräusch eines Astes geweckt, der gegen ihr Fenster klopfte.
Verschlafen rieb sie sich die Augen. Das war kein Ast. Es klang eher wie Kiesel oder andere kleine Steine.
Klack! Klack!... Klack! Klack! Klack!
Sie warf die Decken zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Hatte sich einer ihrer Brüder mal wieder aus dem Haus ausgesperrt? Normalerweise klopften sie an Williams Fenster, das im Erdgeschoss lag, aber vielleicht schlief er so fest, dass er nichts hörte. Sie griff nach ihrem Morgenmantel, der am Bettpfosten hing, und schaute sich nach ihren Pantoffeln um.
Klirr! Glassplitter fielen auf den Boden, als ein kleiner Stein ins Zimmer flog, gefolgt von eisigem Wind.
„Verdammt noch mal ...“ Caitlyn zog den Morgenmantel enger um ihren Leib, schob die Füße in ihre Stiefeletten und ging quer durchs Zimmer. Ihre Sohlen knirschten auf den Glassplittern, dann riss sie einen Fensterflügel auf und schaute hinaus.
Der Wind zerrte an ihren Haaren und peitschte die Äste des Baumes vor ihrem Fenster. Der Schnee am Boden warf Wellen wie das Wasser im Meer. Und direkt dort unten, in einem schwarzen Umhang, der um seine breiten Schultern wehte, und mit hohen Stiefeln an den Füßen, stand der Mann, den sie liebte.
Ihr Herz pochte dumpf, ihre Handflächen wurden feucht. War er hier, um ihr einen Antrag zu machen? Hatte er bemerkt, wie leer sein Leben ohne sie war?
Alexander wandte den Kopf, und nun konnte sie seinen Gesichtsausdruck erkennen. Doch er lächelte nicht wie ein Liebhaber, er ... betrachtete sie finster!
„Hast du Schuhe an?“, verlangte er zu wissen.
„Pst!“ Sie schaute über ihre Schulter nach hinten und hoffte, dass Mary nicht im nächsten Moment ins Zimmer stürmte.
„Ich denke nicht daran, leise zu sein!“, erwiderte er und senkte seine Stimme zu einer Art schreiendem Flüstern. „Hast du Schuhe an? Auf dem Fußboden muss überall Glas liegen und ...“
„Ja, ich habe Schuhe an!“, fauchte sie.
Seine Miene war so finster, sein Stimme so unfreundlich, dass ihre aufgeregte Freude schwand.
Was auch immer er von ihr wollte, es hatte ganz sicher nichts mit Liebe zu tun. Die Enttäuschung hinterließ in ihrem Mund einen bitteren Geschmack. Für einen flüchtigen Moment hatte sie wieder Hoffnung gehabt. Hatte mit jeder Faser gehofft und angesichts dieser reinen Flamme der Zuversicht eine dramatische, leidenschaftliche Geste von ihm erwartet. Stattdessen bellte er sie unfreundlich an und machte klar, dass er sie für dumm genug hielt, um barfuß auf Glasscherben herumzulaufen! Dieser verdammte Kerl!
Aber ... was hatte sie denn gedacht? Das hier war kein gewöhnlicher Mann. Er gehörte nicht zu den Dutzenden, die Sonette über ihre Augen geschrieben, ihr Blumen geschickt oder hübsche in Silberpapier gewickelte Geschenke gebracht hatten.
Nein, dies war ein Mann, der kein Kompliment aussprechen konnte, ohne gleich darauf zu bemängeln, dass man Schuhe anhatte, die ein wenig abgetragen wirkten. Dies war ein Mann, der nicht in der Lage war, einer Frau in die Augen zu blicken und ihr einen Antrag zu machen, und doch konnte er nicht anders, als ihr tief in die Augen zu schauen, während er sie verführte und dazu brachte, ihr Unterkleid auszuziehen.
Dann besaß eine Frau all seine Aufmerksamkeit. In diesen Momenten wandte er den Blick nicht eine Sekunde ab, sondern verehrte die Frau in seinem Bett mit seinen Blicken und seinem Körper. Denn dann war nicht er der Verletzliche - sie war es.
Doch wenn es an der Zeit war, sich mitzuteilen, zu sagen, wie er sich fühlte, was er fühlte und wie viel er fühlte, benahm er sich unbeholfen wie ein Jüngling.
Unbeholfen weil... seine Gefühle stärker waren als jemals zuvor?
Der Gedanke wuchs in ihrem Herzen und verlieh ihm geradezu Flügel. War das vielleicht der Grund? War er nur deshalb unfähig, sich auszudrücken, weil er so viel empfand?
„Geh zu einem anderen Fenster.“ Er deutete auf das Fenster an der anderen Seite ihres Bettes und marschierte selbst dahin.
„Nein.“
Er blieb stehen und schaute sich zu ihr um. „Was meinst du mit Nein?“
„Wenn du mir etwas sagen willst, dann tu es jetzt.“
„Oder?“
„Oder ich gehe zurück ins Bett.“
Sie spürte seine Verwirrung an der Art, wie eine Böe an dem windschiefen Haus rüttelte. Doch etwas von der Härte war aus seinem Gesicht verschwunden, und in seinen Augen leuchtete leise Belustigung auf. „Du bist immer noch ziemlich eigensinnig, stimmt’s?“
„Es ist erst eine Woche vergangen.“
„Acht Tage, vierzehn Stunden und zweiunddreißig Minuten.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Du ... du hast die Stunden gezählt?“ Erneut stieg Hoffnung in ihr auf.