Drei Abende danach fand ich Sean. Wie gewohnt ging ich auf der Promenade spazieren. Es war ein bisschen später als gewöhnlich, und die Dunkelheit senkte sich herab. Ich hatte Blackrock erreicht, wollte gerade nach Hause zurück, als ich einen letzten Blick auf den Ozean warf. Unten zwischen den Felsen, nah am Rand des Wassers, eine einsame Gestalt. Ich sah ihn kaum. Ich atmete tief ein und machte mich auf den Weg hinunter. Er saß auf einem Streifen Sand und rauchte einen Joint, eine winzige Rauchwolke über dem Kopf.
Bevor ich was sagen konnte, brummte er: »Hab mich schon gefragt, wann Sie antanzen.«
Ich setzte mich rechts von ihm hin, konnte das starke Aroma des Krauts riechen. Ich hatte ihn mir als eine Art Stadt- oder Landstreicher vorgestellt, in schrecklichem Zustand.
Falsch.
Er strotzte vor Gesundheit und Wohlstand, trug einen neuen schweren Mantel und neue ausgebleichte Jeans. Sein Haar war geschnitten, und seine Augen waren blank. Er bot mir die Tüte an.
»Für mich nicht, danke.«
Das amüsierte ihn, und er sah mich an. Er spielte mit den Perlen des Rosenkranzes, den er als Armband trug.
Er sagte: »Nachdem mein Dad weg war, bin ich zurück ins Haus gegangen, und wissen Sie was, ich habe ein Bündel Bargeld gefunden. Also habe ich Gails Zimmer noch ein bisschen durchsucht, einen ganzen Vorrat gefunden. Das hatten sie mir verheimlicht, ist das wohl zu glauben?«
Ich dachte darüber nach, und dann begann es mir allmählich zu dämmern, meine gesamte Deutung von Gails Tod war falsch gewesen.
»Müssen Sie ganz schön angepisst gewesen sein.«
Er lachte, sagte: »Taylor, die hatten mich mein ganzes Leben lang angepisst.«
Er verwendete meinen Nachnamen mit Absicht, zeigte mir, dass die Regeln sich geändert hatten.
Das hatten sie wirklich.
Er schnickte den Rest der Tüte ins Wasser. Es zischte leicht, wie das Amen des traurigsten, wertlosesten Gebets, des Gebets, das man für sich selber spricht.
Er sagte: »Sie haben das Versicherungsgeld von meiner Mum kassiert, mir nie was davon gesagt, und ich blöder Hund hab gedacht, wir wären pleite. Dabei hatten wir nur keine Zeit mehr. Jedenfalls die beiden nicht.«
Ich fragte: »Sie waren also im Haus, und Gail ist zurückgekommen?«
Er reckte sich, als wäre dies ein ganz, ganz, ganz klein wenig langweilig, sagte: »Ja, ich hab ihr gesagt, ihr guter alter Dad ist hinüber und dass sie ihn umgebracht hat. Da ist sie ausgeflippt, und das Unheimlichste von all dem irren Kram bei diesem irren Trip: Dann hat sie sich zurückgezogen.«
Ich war nicht sicher, was er meinte, und echote: »Zurückgezogen?«
Er sah mich an, fragte: »Sind Sie schwerhörig?« Lachte dann, sagte: »Oh, ’tschuldigung, die Hörhilfe. Ja, sie hat sich zurückverwandelt in das, was sie schon mal war, kurz nachdem Mum gestorben ist – ein Krüppel. Ist dahin zurückgegangen, wo sie vorher war, egal wo, und diesmal, hab ich gedacht, kommt sie nicht wieder. Einmal hin – ohne Rückfahrt, verstehen Sie?«
Ich konnte es sehen. Die beiden dominanten Figuren in seinem Leben waren weg, und anstatt darüber zu zerbrechen, hatte er die Persönlichkeiten von beiden angenommen.
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«
Er war einen Moment lang still, als erwöge er, ob er es mir sagen will, murmelte dann: »Ich hab ihr beim Schwimmengehen geholfen.«
Und dann – das schlimmste Geräusch von allen – kicherte er. Ich sagte mir, es ist der Kiff, hoffte, dass es der Kiff war.
Er setzte hinzu: »Das Dolle war, stellen Sie sich das mal vor, sie hat vergessen, dass sie nicht schwimmen kann. Und wissen Sie was, das verrückte Huhn, sie hat mich immer wieder gefragt, ob ich die Flammen sehe. Ich habe sie für sie gelöscht.«
Ich dachte an die Glock, die behaglich und nutzlos in meiner obersten Schreibtischschublade lag.
Er sagte: »Also, Jack, was meinen Sie? Ist doch eher unwichtig, oder? Sie können weggehen, wir vergessen, dass wir dies Gespräch je geführt haben.«
Er bekuckte mich abschätzig, er nahm mich buchstäblich Maß, und, hélas, ich wusste, was er sah: einen abgetakelten Mann mittleren Alters mit einem Hinkebein und einem Hörgerät. Wenn ich sagte, ich fände das Gespräch gar nicht unwichtig, wie schwer würde es für ihn sein, mit mir … fertigzuwerden? Er war stark, jung und hatte nichts zu verlieren. Er hatte seine eigene Schwester ersäuft, einen jungen Mann gekreuzigt, ein wehrloses Mädchen in ihrem Auto verbrannt. Würde er sich meinetwegen Sorgen machen?
Ich sagte: »Falls – und ich sage: falls – ich weggehe, was sind Ihre Pläne?«
Er war überrascht, und zu meinem Entsetzen erkannte ich den Ausdruck in seinen Augen. Es war der gleiche wie bei Gail, und einen unheimlichen Moment lang fragte ich mich, ob das Böse auf solche Weise übertragen werden konnte. Er kam richtig nah an mich ran. Bildete ich mir das ein, oder waren seine Schultern breiter als zuvor? Was war aus diesem harmlosen Kurt-Cobain-artigen Bürschlein geworden, das ich im Coffeeshop kennengelernt hatte?
Ein halbes Lächeln kringelte sich auf seinen Lippen, und er sagte: »Hmmm, gute Frage, Jack-o. Wissen Sie, ich glaube, mir gefällt es hier, aber was mir nicht gefallen würde, ist der Gedanke, dass Sie herumlatschen und plötzlich einen Anfall von – wie nennt ihr Katholiken das? – Gewissen haben.«
Und er schlug mit seiner rechten Faust zu, dass ich glatt auf den Rücken fiel. Er ging um mich herum und stand nun bei meinem Kopf. Ich bemerkte, dass er Doc Martens trug, schön abgewetzte, und ich hoffte beim hl. Scheißdreck, dass es nicht die Sorte mit den Stahlkappen war. Mein Kiefer tat weh wie sonst was, und ich kapierte, dass er mich umbringen würde, es damit aber nicht sehr eilig hatte. Er hatte das größte, potenteste Aphrodisiakum auf dem Planeten entdeckt – Macht. Ich versuchte, mich etwas zu entfernen, und er trat mir gegen den Hinterkopf.
Heftig.
Ich sah Sterne. Nicht die Pailletten-Sorte, sondern die Sorte, die einem sagt, dass man ganz tief in der Scheiße ist, ohne Aussicht auf Besserung.
Er fragte, als wäre ihm das wirklich wichtig: »Hat das wehgetan, Jack?«
Dann zwei weitere flinke Tritte in Hüfte und Brustkorb, und ich spürte, wie etwas nachgab – eine Rippe vielleicht. Das Atmen wurde eng.
Er sagte, immer noch in diesem angenehmen Plauderton: »Ich habe mich oft gefragt, wie es ist, wenn man einen zu Tode tritt. Ich war mein ganzes Leben lang der, der getreten wurde, und wissen Sie was? Wissen Sie was, Jack-o? Es ist irgendwie flummig, wie die Amerikaner vielleicht sagen würden.«
Und das elektrisierte mich. Amerika … mein neues Leben, Wellewulsts Testergebnisse, nicht für sie da sein, alles wegen dieses … Bubis?
Ich stöhnte: »Sean, eins noch.«
Er zögerte, und ich hielt meine Stimme leise, damit er sich vorbeugen musste. Er konnte mich immer noch nicht verstehen und bückte sich richtig tief herunter. Sein Gesicht war vor meinem, ich konnte seinen Knoblauchatem riechen. Ich grub meine Zähne in seine Nase, biss mit aller Wildheit zu, die ich je gekannt habe, und ich schwöre bei Christus, ich biss sauber durch.
Er taumelte zurück, Blut pumpte ihm das Gesicht herunter, sagte: »Waffum Peufel ham Wie ba gemachp? Wie hamem mich gebiffem!«
Es gelang mir, auf ein Knie hochzukommen, sah ein Stück Treibholz, hoffte, dass es durch das Wasser nicht weich geworden war.
War es nicht.
Und ich haute es ihm über den Schädel, sagte: »Nennen Sie mich nicht Jack-o.«
Noch ein paar Schläge aus reiner, unverfälschter Wut, und sein Gesicht und Kopf waren Brei.
Ich maulte: »Wir wollen Sie nicht in unserer Stadt, wir haben so schon genug Müll. Wie sollen wir denn wohl den Schöner-uns’re-Städte-und-Gemeinden-Wettbewerb gewinnen?«
Hatte ich den Verstand verloren? Ich kann es nur hoffen.
Ich sammelte Steine, viele sehr schwere Steine, stopfte sie ihm in die Taschen seines neuen schicken Mantels und zerrte ihn zum Wasser. Dann, zu meinem Grausen, stöhnte er, und ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber es klang wie: »Bitte, Dad, nicht.«
Es dauerte etwas, aber irgendwann hörte er auf zu kämpfen. Ich brachte ihn weit hinaus, so weit ich konnte, ohne selbst unterzugehen. Es war kalt. Mit den vielen Steinen in seinen Taschen war es harte Arbeit, und fast hätte ich aufgegeben, aber ich musste sicher sein, dass er nicht an die Oberfläche kam. Als klar war, dass er unten bleiben würde, atmete ich tief ein und ging mit ihm unter Wasser, seine Augen starrten mich an wie im milden Tadel, und tat noch mehr Steine vom Meeresgrund dazu. Meine Zähne spielten einen Fandango aus Angst und Schock. Ich spürte diese sickernde Taubheit, die einem zuflüstert: »Ruh dich aus, lass dich vom Wasser trösten.«
Die Versuchung war massiv, aber mit einer letzten äußersten Anstrengung schaffte ich einen weiteren Stein auf ihn drauf und durchbrach die Oberfläche, japste nach Luft. Ich sah, wie weit ich gekommen war, und wusste nicht einmal, ob ich es zurück bis zur Küste schaffen würde, murmelte dann: »Mach es einfach, hör auf zu winseln.«
Ich kam aus dem Wasser, und die Neigung, mich hinzulegen, war überwältigend, aber es gelang mir weiterzugehen. Der Schmerz in Kopf, Brust und Hüfte war unglaublich. Ich schluckte einen ganzen Haufen von Stewarts Pillen, blieb in Bewegung.
Ich war schon fast zu Hause, als ich merkte, dass sich etwas von Sean an meiner Jacke festgehakt hatte: die Rosenkranzperlen, die er als Armband getragen hatte, samt winzigem Kreuz.
Ich kam an einem Abfalleimer vorbei, warf den Rosenkranz hinein.
Mit Kreuzen war ich durch.