Im Einkaufszentrum am Eyre Square gibt es ein Großraumcafé.
Der Eyre Square befand sich immer noch in den Fängen einer größeren Umgestaltungsaktion und, wie alles andere, zwei Jahre hinter dem Zeitplan. Auf dem Weg ins Stadtinnere war ich kurz dort stehen geblieben, wo Brown’s Doorway hingehörte, genau wie das Standbild von Padraig Ó Conaire – beide umgezogen. Angeblich zwecks Restaurierung, und in der Stadt gab es gut und gerne drei Leute, die das glaubten. Auf dem Eyre Square hatte einst ein Denkmal für Lord Clanricarde gestanden. Wie eine Metapher für unsere gesamte Geschichte hatten seine Pächter es bezahlt, und zwar, wie ich kaum hinzufügen muss, gegen ihren Willen. Mein Vater hatte mir von der wilden Feier 1922 erzählt, als es abgerissen wurde, und, nicht schlecht, nachdem es in ganz kleine Stücke zerhämmert worden war, wurde der Sockel für das Standbild von Ó Conaire weiterverwendet.
Man blickt direkt den Square hinunter, und da steht das Great Southern Hotel – allerdings kann man nur raten, was daran so great sein sollte. Teuer war es, aber was war nicht teuer? Laut aktueller Umfrage lebte es sich in New York billiger. Als ich Kind war, hatten genau da, wo ich jetzt stand, zwei Kanonen Wache gestanden, und der ganze Park war von einem Zaun umgeben gewesen. Alles längst weg.
Wie die Viehmärkte.
Markttag in Galway bedeutete Markttag auf dem Eyre Square. Diese Veranstaltungen fingen um vier Uhr morgens an. Bringen wir’s hinter uns.
Und das brachten sie.
Rinder, Schafe, Schweine und Pferde wurden mit unterschiedlichem Aufwand an Stolz und arger List vorgeführt. Die wahren Gewinner waren die Kneipen, die aus dem Boden schossen, um die Massen zu bewirten. Und natürlich kam auch sofort eine Bank – die Bank von Irland, hinter mir, die jetzt ein massives Gebäude besaß, hatte zweifellos in jenen besseren Tagen angefangen.
Handel wurde immer noch auf dem Eyre Square getrieben, aber da ging es um Dope, Frauen, Pässe und, naturgemäß, Alk.
Ich beseufzte einen Verlust, der zu tief reichte, um artikuliert werden zu können, taperte an Juwelier Faller vorbei und überquerte die Straße zum eigentlichen Einkaufszentrum. Nahm die Rolltreppe in die Unterwelt und ging zu dem Café.
Man sitzt, nimmt einen Imbiss, betrachtet die Touristen. Selten dies Jahr, wegen Flugangst, Terroristen, höherer Preise. Die Von-der-Stange-Verkaufsstellen alle mit SALE-Schildern in den Schaufenstern, untrügliches Zeichen für Verzweiflung und abrutschende Wirtschaft. Unser keltischer Tiger hatte nahezu acht Jahre lang gut gebrüllt, und wir hatten mit ihm ordentlich Fettlebe gemacht. Jetzt ging es bergab, wir fütterten das verdammte Tier nicht mehr, und die Katze ging ein.
Hatte mir einen latte besorgt, ein Stück Plundergebäck, das ich nicht angerührt hatte, und den Irish Independent. Bei der Olympiade hatten wir erbärmlich abgeschnitten, vielleicht am schlimmsten seit Menschengedenken. Unsere Beste und Hellste, Sonia O’Sullivan, war als Letzte angezockelt gekommen. Der Unterschied zwischen den guten alten USA und uns geht so: Einer unserer Athleten war Elfter geworden, und wir waren entzückt, weil ihm eine persönliche Bestzeit gelungen war. Der amerikanische Schwimmer war mit aktuell viermal Gold deprimiert, weil er es nie so weit bringen würde wie Mark Spitz. Bereits zu Beginn der Spiele war das irische Team von einem Doping-Skandal erschüttert worden. Der Schuldige sagte, er hoffe, sobald seine zweijährige Sperre abgelaufen sei, im Anti-Doping-Bereich zu arbeiten. Und wir applaudierten ihm. Scheiße, lag das nur an mir, oder wurde das ganze Land immer irrer? Die Religion, egal, was man von ihr hielt, hatte jahrhundertelang einen Ballast gegen die Verzweiflung geboten. Der Klerus steckte immer tiefer im Morast der Schande, und außer Stoff für die Revolverblätter erwarteten die Menschen nichts mehr von ihm. Das erklärte wohl auch, warum es jedem neumodischen Kult gelungen war, in der Stadt eine Gemeinde zu finden. Sogar die Scientologen hatten ein Büro. Mit einem Besuch von Tom Cruise war jetzt jederzeit zu rechnen.
Noch vor wenigen Jahren war ich regelmäßiger Kirchgänger gewesen, der Pfarrer nannte mich sogar beim Vornamen, aber die Enthüllungen über die Wäscherei des Magdalenenstifts erwischten mich völlig kalt, und ein schwarzer Ledermantel, den ich mir aus London mitgebracht hatte, war während des Hochamts gestohlen worden, und ich würde es nicht beschwören, aber ich habe einen Priester gesehen, der einen ganz ähnlichen trug.
Die Zeitungen schrien wegen einer Kreuzigung auf, aber das überblätterte ich, ging zu Irdischerem über. Ich nippte meinen Kaffee, las über die Proteste gegen die Black Box, einen Treffpunkt auf der Dyke Road – Kesse-Väter-Straße, wie sie so treffend genannt wird –, ein simulierter lesbischer Geschlechtsverkehr hatte Anwohner empört. Weiter, in Richtung Bohermore, musste ein Laden für Sexutensilien wegen den Gegendemonstranten schließen. Der Besitzer sagte hämisch: »Die dachten, wir haben Sex in dem Laden.« Er fügte hinzu, die große Publicity habe den Erfolg seiner neuen Geschäftsräume in der Stadtmitte sichergestellt.
Ich griff nach meinen Zigaretten, dann wurde mir klar, dass ich nicht mehr rauchte. Und selbst wenn ich noch geraucht hätte, wäre Rauchen da nicht erlaubt gewesen. Die Iren hatten – entgegen allen Erwartungen –, ohne zu murren, das neue Gesetz hingenommen. Hatten wir die Klöten eingebüßt?
Aber jede Wette.
Ich warf die Zeitung beiseite. Ein junger Mann mit langem, klitschigem Haar setzte sich mir gegenüber hin. Er hatte eine Dose Red Bull. Physisch sah er Cody überhaupt nicht ähnlich, aber er erinnerte mich an ihn, und das tat so weh wie der schwarze Kaffee, den ich mir hätte bestellen sollen.
Außerdem erinnerte er mich an Joey Ramone. Er schlürfte aus der Dose, und mit schlürfte meine ich schlürfte – schon wenn man gut drauf ist, eines der ärgerlichsten Geräusche schlechthin, aber bei Stinklaune fast unerträglich. Ich wollte ihm über den Tisch eine langen, brüllen: Ein bisschen Benehmen, wenn ich scheißenochmal bitten darf! Überwand den Impuls, trank den latte aus und zog einen doppelten Espresso in Betracht. Der Junge sah mich an. Bildete ich mir das ein, oder lächelte er süffisant?
Ich starrte zurück, fragte: »Kenne ich Sie?« Ließ ein bisschen Saures in die Frage tröpfeln.
Er trank die Dose aus, begann sie zu zerquetschen, bis man die ursprüngliche Form nicht mehr erkennen konnte, strich sich lange Haarsträhnen aus den Augen, antwortete: »Tut mir leid, Sir, ich war mit den Gedanken ganz woanders.«
Der Sir hatte was.
In einem der Läden spielte ein Radio, und ich hörte Morrissey mit seinem aktuellen Hit, »First of the Gang to Die«. Da überläuft es mich, hat so was Prophetisches. Der Junge starrte eine Narbe auf meiner Backe an, Ergebnis einer üblen Abreibung, die mir zwei Brüder verpasst hatten, die keine Landfahrer mochten.
»Ist das von einem Messer?«
Ich fasste die Stelle an. Ich versuchte immer noch, mich an die seltsame Tatsache zu gewöhnen, dass sich meine Stimme verändert hatte, seitdem ich nicht mehr rauchte – eine Million Lullen weggequalmt, mit Fusel drübergespült, weniger heiser als vielmehr im Arsch. Ein bisschen bewunderte ich die Frechheit von dem Knaben und fragte: »Woran merken Sie so was? Sind Sie beim Barras?«
Nicht dass ich das angenommen hätte. Dazu war er zu zerbrechlich.
Er grinste, antwortete: »Nein, nur aus London.«
Er kratzte sich die Arme. Ich diagnostizierte Speed-Juckreiz, und dann fing er an zu reden, erbrach sich förmlich, der Mund unfähig, mit der Gedankenflut Schritt zu halten. »Haben Sie schon mal die Libertines gehört? Pete Doherty, der Sänger, ist, praktisch, bereits total zugegiftet, und die Black Keys, 10 AM Automatic, voll fetter, voll krasser Blues, und Prodigy muss ich mir noch holen. Dunst, der lebt den Traum, aber hallo, und wenn Sie je nach London kommen, müssen Sie Roots Manuva hören, der ist praktisch – «
Er hielt inne, verlor den Faden, dann: »Rap, scharf wie Iltispisse, aber komisch, wissen Sie?«
Hielt den Rand, merkte, dass er mir eine Minivorlesung über Musik gehalten hatte, genau wie Cody, ohne dass ich Musik je erwähnt hatte. Also gönnte ich ihm ein Ruhepäuschen, sagte: »Sie mögen Musik, Kleiner?«
Seine Aufmerksamkeitsspanne war genau wie die von Cody. Eben war er noch ganz nah an einem dran, im nächsten Moment, peng, war er wieder weg, als wären ein Gedanke, ein Thema, bereits zu viel. Er stand auf. »Man sieht sich.«
Pause, dann: »Stutzer.«
Der Film Wayne’s World hat viel damit zu tun. Er war einer von Codys Lieblingsfilmen. Ich wusste keine Antwort darauf, damals nicht, jetzt nicht. Ich nickte einfach, und er latschte davon, so halb gebückt, wie das die jungen Leute zu tun pflegen, um zu sagen: Was geht’s mich, praktisch, scheiß doch der Hund drauf, an?
Eine Kellnerin begann, den Tisch abzuräumen. Sie hielt die verbogene Red-Bull-Dose hoch, angewidert, zeigte auf mein Plundergebäck. »Essen Sie das noch?«
Ich sah sie an und fragte: »Mögen Sie The Prodigy?«
Ich hatte ein Handy. Nicht dass es je klingelte, aber es gab mir das vage Gefühl, vernetzt zu sein, also lud ich es pflichtbewusst jeden Tag auf. Trug es wie ein trauriges Gelübde mit mir herum.
Ging zu McSwiggan’s. Mitten in der Kneipe steht ein Baum, beruhigt mich immer, dass sich das Land einen Sinn fürs Absurde bewahrt hat.
Die Kneipe ist am Wood Quay, in weniger als Spuckweite vom Hidden Valley, wo ich einmal kurz ein Zuhause hatte, den Landfahrern oder Kesselflickern oder tinkers sei Dank. Am Wood Quay wird noch richtig gewohnt. Die Leute leben seit Generationen dort und haben es geschafft, trotz wild wuchernder Stadtentwicklung ihre Häuser zu behalten. Man steht unten auf der Eyre Street und kann das ganze Gebiet überblicken, den Park, der noch immer grün ist, noch immer unberührt, wo die Kinder Hurling spielen und, okay, auch mit Frisbees, aber Hurling geht vor, noch, und gleich dahinter ist der Lough Corrib. Es gibt ein Gemeinschaftsgefühl und ein jährliches Straßenfest. Alle sind unbändig stolz darauf, dass es ihnen gelungen ist, in einer Stadt der rapiden und rücksichtslosen Veränderungen intakt geblieben zu sein.
McSwiggan’s steht genau da, wo diese Wohngegend anfängt. Als Kneipe eher neu, ist es doch ein Echo des alten Galway. Der Baum wächst hinten im Ausschankbereich, und, ja, sie haben die Kneipe um ihn herum gebaut. Das nenne ich korrekt gesetzte Prioritäten. Und, was noch rarer ist, das Personal besteht aus lauter Iren. Derlei mutet immer seltsamer an.
Es war kurz nach zwölf, und der Tresentyp machte Kneipenkram, polierte wie besessen Gläser, beschickte Regale, dabei aber immer froh und munter.
»Wie geht’s denn so?«
Ich gab an, mich recht wohl zu befinden, bestellte eine pint und einen kleinen Jameson.
»Mit Eis dabei?«
Ich sah ihn so an. Scherzte er? Er sagte: »Einmal ohne Eis.«
Die Kneipe roch merkwürdig, und er bemerkte, dass ich das bemerkte, sagte: »Das Nikotin fehlt.«
Heiland, er hatte recht.
Dann setzte er hinzu: »Unsere Turmspringerin hat eine Goldmedaille gekriegt.«
Ich war entzückt. Ich hatte keinen Schimmer, worauf es dabei ankam, aber einmal Gold, da wäre das Land wieder einen Monat lang hackenstramm.
Er ließ meiner pint Zeit, sich zu setzen, bevor er die Blume oben absahnte – wusste, wie’s ging –, und stellte den Jameson auf den Tresen. »Ich habe eine Karte für das Madonna-Konzert.«
Fast wie das alte Irland, erzählten einem ungefragt ihren Scheiß. Ich nahm eine Nase voll von dem Jameson, und schon war ich gesellig.
»Sind wohl ein Fan, wie?«
Nicht die hellste Frage, wenn man bedachte, dass er eine Karte hatte, aber Logik rangiert bei solchen Gedankenaustäuschen glücklicherweise ziemlich weit unten. Er war entsetzt.
»Spinnen Sie jetzt total? Ich hasse die Kuh.«
Es gelang mir, das Getränk stehen zu lassen, es nicht zu trinken. Da denkt man doch: »Wie dement ist das denn, Schnaps bestellen und ihn dann nicht trinken?«
Ich weiß sehr wohl, wie verrückt es war. Hielt mich aber nüchtern, wenn schon nicht bei geistiger Gesundheit.
Ich dachte an Cody, wie er im Koma lag, und auch an Kate Clare, die Frau, die den Priester umgebracht hatte und jetzt meine Hauptverdächtige war, was den Schuss auf Cody anging. Ich wusste, dass ich mehr Energie aufbringen sollte, um sie zu finden oder wen auch immer, der geschossen hatte, aber ich kam nicht über Cody und seinen Zustand hinweg. Er war der Ersatzsohn gewesen, den zu haben ich mir nie erträumt hatte, und dann, als wir uns gerade zusammengerauft hatten, als ich tatsächlich anfing, ihn als Familie zu sehen, war er mir weggeschnappt worden.
Ein rachsüchtiger Gott?
Er hatte mich wirklich ganz schön auf dem Kieker. Immer wenn es mir zu gelingen schien, mich von den Knien zu erheben, wischte Er mit mir den Scheißfußboden. Glaubte ich an Ihn? Aber hallo, und es war echt was Persönliches. Morgens maulte ich: »Behandel mich, so schlecht Du kannst, und dann sehen wir mal, wie ich damit zurechtkomme.« Ein hohler Spott angesichts des Chaos, gespielte Tapferkeit statt Glaubensstärke. Ich schüttelte den Kopf, um Gott und Seine Gehässigkeit daraus zu vertreiben, stand auf, fand, es war Zeit für einen Abgang.
Dabei sagte ich zum Tresentyp, derweil meine unberührten Getränke herumstanden wie ratlose alte Bekannte: »Hoffentlich klappt das Konzert gut.«
Er pausierte, mitten im Gläserwienern, glotzte mich an, sagte: »Ich bete um Regen.«
Darum braucht man in Irland nicht allzu inbrünstig zu beten.