Am nächsten Morgen musste ich wie jeden Tag ins Krankenhaus, um Cody zu begutachten, zu sehen, dass die Wunden heilten und dass er sich nicht durchlag. Einschließlich zwei Stunden Warten. Im Fernseh liefen die Nachrichten. Die Belagerung der russischen Schule war in gewaltigem Horror, in einer Katastrophe zu Ende gegangen. Man befürchtete dreihundert Tote, die meisten davon Kinder – Szenen, wie sie in Unterwäsche flohen, während die Terroristen auf sie feuerten. Ich musste wegsehen, hörte Keucher des Schocks von den Leuten im Warteraum. Dann ein Bericht über den Irak: Seit dem »Frieden« waren eintausend amerikanische Soldaten gestorben. Als mich die Krankenschwester rief, war ich erleichtert, von der Glotze wegzukommen.

Der Arzt, munter, fragte: »Wie geht es uns?«

Vier Antworten zur Auswahl:

Entsetzt

Deprimiert

Verkatert

Wie einem Schweinehund

Ich sagte: »Könnte schlimmer sein.«

Wir gingen zu Codys Bett, er wirkte wie … tot, Schläuche überall, nur ein leichtes Heben des Brustkorbs deutete Leben an.

Der Arzt untersuchte ihn gründlich, murmelte Mmm und Ts-ts, alles garantiert dazu angetan, das Herz in einem überkreuz zu machen. Schließlich war er fertig und machte sich ein paar Notizen auf einer Tabelle, dann: »Alles heilt gut.«

Ein Aber hing in der Luft, und ich wartete. Ich wollte keine Formulierungshilfe anbieten. Was er auch dachte, irgendwann würde er es aussprechen, das machen sie immer – hatte keinen Sinn, eigenen Senf dazuzugeben.

Er seufzte. »Sein Körper wurde unmäßiger … äh … ausgesetzt.«

Er suchte nach einer Beschreibung dessen, was Codys Körper ausgesetzt worden war, und damit es weiterging, soufflierte ich: »Bestrafung?«

Ich war häufiger zusammengeschlagen worden, als ich zählen konnte – mit einem Hurlingschläger, einer Eisenstange, Fäusten, mit Stiefeltritten, und immer vorsätzlich, sodass man sagen konnte, dass ich auf dem Gebiet ganz, äh, beschlagen war. Die Schüsse waren wie mein Oscar, die Krönung, alles andere war nur Vorgeplänkel für die Galanummer gewesen. Der einzige Schönheitsfehler war, dass es nicht mich, äh, getroffen hatte.

Wenn man die Niederlagen mitrechnete, die der Alkohol mir verpasst hatte, war die Traueranzeige fast komplett. Ich hatte die richtige Wortwahl getroffen.

»Präzise.«

Ich nahm an, wir wären fertig, und wollte gehen.

Er sagte: »Alkohol ist dem Heilungsprozess nicht förderlich.«

Ich versuchte es mit: »Ich glaube nicht, dass der Kleine in allernächster Zeit eine pint zischen gehen wird, oder?«

Er bleckte mich unmutig an – schon erstaunlich, wie gut ich mich auszudrücken verstehe, alles autodidaktisch, hat mich ja auch herrlich weit gebracht – und schnappte: »Sarkasmus ist nicht wirklich angebracht. Es ist nicht meine Schuld, dass der arme Junge hier gelandet ist, und ich tue mein Allerbestes für ihn.«

Laber, laber.

Ich wollte rufen: »Dann tun Sie gefälligst Ihr Allerallerallerallerbestes.«

Er fragte: »Sprechen Sie mit ihm?«

»Was?«

»Dem Besucher hilft es auf jeden Fall, und wir wissen nichts Bestimmtes darüber, aber vielleicht hilft es auch dem Komapatienten, vielleicht kann er Sie hören.«

Was für eine Ladung Bockmist.

Ich fragte: »Was schlagen Sie vor – Fußballergebnisse, wie Man U dasteht, dass Giggs sich den Arsch abrennt? Sie meinen, dadurch fährt Cody aus dem Koma hoch?«

Gott, ich war so zornig, eine Wut, die mich zu verschlingen drohte.

Der Arzt merkte es, sagte: »Das werden Sie selbst am besten wissen.« Und schritt davon.

Ich weiß, es war unfair, aber, wie man so schön sagt, er stand gerade richtig. Ein Teil von mir wollte ihn zurückrufen, sich entschuldigen, aber, nein, ich ließ es bleiben.

Draußen entrang sich mir ein Seufzer der Erleichterung, und ich brummelte mein altes vertrautes Mantra: »Dies schreit nach einem Drink.«

Ich sah zum sich verfinsternden Himmel auf – der Sommer war eindeutig hinüber – und maulte den Gott an, dem ich nicht mehr traute: »Könnte ich nicht einfach einen Tag lang versacken – ohne Kater?«

Ich kannte die Antwort bereits, aber manchmal stellt man die Frage nur, um sich bei Laune zu halten, bei schlechter Laune.

Jack Taylor auf dem Kreuzweg
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