Am nächsten Tag rief mich die Krankenschwester an, mit der ich mich angefreundet hatte, gab mir die Einzelheiten wegen der Beerdigung und schlug vor, Besorgnis in der Stimme: »Mr Taylor, vielleicht wäre es besser, wenn Sie nicht hingingen.«

Darauf fiel mir nichts ein, mir war, als hätte ich eine gescheuert gekriegt.

Sie sprach eilig weiter: »Seine Eltern, sie … äh … sie verlangen, dass Sie … ferngehalten werden.«

Ich probierte: »Verstehe.«

Ich verstand es nicht.

Sie war ein angenehmer Mensch, und angenehme Menschen sind so selten wie stinknormale Höflichkeit. Ich sagte: »Danke, dass Sie so hilfsbereit sind.«

Ihre letzten Worte lauteten: »Wir wissen, dass Sie den Jungen geliebt haben. Wir sehen ständig vernachlässigte und vergessene Patienten, aber Sie sind jeden Tag gekommen, und das eindeutig nicht, weil es Ihre Pflicht gewesen wäre. Gott segne Sie, Mr Taylor.«

Scheiße.

Mit offener Feindseligkeit wäre ich besser zurechtgekommen; wenn sie mir irgendwelche warnenden Vorschriften verlesen, mir gedroht hätte, was passiert, wenn ich am Grab auftauche. Freundlichkeit verwirrte mich nur. Und sie hatte unrecht, ich habe Cody nicht allein aus Liebe besucht. Es war auch Schuldbewusstsein, und das hasste ich.

Ich war in meiner Wohnung, Stewarts Pillenfläschchen in der Hand, als es an die Tür klopfte. Ich stellte die Pillen auf den Tisch und machte auf.

Wellewulst. Sie sah mitgenommen aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen.

Sie war in Uniform. Ich hatte sie nicht oft in Polizeikluft gesehen, und sie machte keine gute Figur als Respektsperson, sah aus wie ein kleines Mädchen, das Gendarm spielt. Ihre Augen waren rot gerändert, und sie – konnte das sein? –, sie roch nach Schnaps.

Wellewulst?

Ich sagte: »Kommen Sie rein.«

Sie kam rein, ging, als trüge sie das Gewicht der Welt. Sie setzte sich aufs Sofa, versank drin.

Ich fragte: »… Ihnen was bringen – einen Tee, Kaffee, Glas Wasser?«

Es dauerte etwas, bis sie antworten konnte, und ich dachte, sie wäre eingenickt, dann sagte sie: »Ich brauche einen Drink. Was haben Sie?«

All die Jahre, in denen sie mich wegen Alkohols gepiesackt hatte. Die Vorlesungen und das Gemecker über mein Getrinke, und jetzt wollte sie was zu trinken von mir?

Ich konnte nicht anders, schnappte: »Sie wollen einen Drink von mir?«

Sie sagte traurig: »Wer hätte mehr Verständnis dafür?«

Wellewulst hatte mir über die Jahre manch Garstiges gesagt, aber dies, dies erreichte mich in einer Art, die ich gar nicht analysieren möchte. Ich war nicht sicher, wie ich mit einer Wellewulst umgehen sollte, die verletzlich war.

Sie sagte: »Dieser Tod hat mich aus der Bahn geworfen.«

Jetzt war ich, um es mit ihren Worten zu sagen, aus der Bahn geworfen. Sie hatte Cody nicht mal gekannt.

Ich rief: »Sie haben ihn nicht mal gekannt.«

Sie setzte sich auf, sah mich an, fragte: »Ihn? Wovon reden Sie? Es geht nicht um ihn, es geht um die Schwester des Jungen – Maria.«

Mein sinnentleerter Blick erboste sie, und sie schrie fast: »Der Junge, der gekreuzigt wurde. Sie haben ihn schon vergessen, obwohl Sie versprochen hatten, sich den Fall anzusehen. Nicht nötig. Seine Schwester, Maria, sie haben sie verbrannt, in ihrem Auto. Sie war nur anhand ihres Führerscheins und ihrer Zähne zu identifizieren. Alles andere … Alles andere … ist verbrannt … Der Rest ist wie ein … Scheißkartoffelchip.«

Vor mir tanzte das Zimmer. Ich konnte nicht begreifen, was sie mir gesagt hatte, und musste mich mangels Gleichgewicht an die Wand lehnen.

Sie stand auf, nunmehr besorgt, fragte: »Jack? Jack, alles in Ordnung?« Und streckte die Hand aus.

Ich wischte sie weg, atmete ein paarmal tief ein und begann mich ein bisschen zu beruhigen.

Sie trat einen Schritt zurück, fragte dann: »Sie haben ›ihn‹ gesagt. Wen haben Sie damit gemeint?«

Meine Kehle machte nicht mit – als wäre mir da was stecken geblieben.

Schließlich gelang mir: »Cody, er ist gestorben. Ja, der kleine Schweinehund hat einfach die Biege gemacht, und raten Sie mal? Das wird Ihnen gefallen. Die Familie will nicht, dass ich zur Beerdigung komme. Und nun sind Sie dran.«

Sie sackte wieder aufs Sofa und sagte: »Sie müssen mir was Alkoholisches besorgen gehen, verstanden?«

Und warum denn auch wohl scheißenochmal nicht?

Die Welt war so verrückt geworden, dass sie nur noch in Irland einen Sinn ergab. Ich sagte mit putzmunterer Partystimme: »Mach ich doch glatt. Entspannen Sie sich tüchtig, und ich mach das, was ich am besten kann, ich geh Spriti-Spriti kaufen.«

Der Schnapsladenmann kannte mich, und während ich einen Korb mit Wodka, Verdünnern, Jameson belud, betrachtete er mich argwöhnisch. Ich warf noch Erdnüsse und Chips obendrauf und fragte: »Wie viel?«

Er wusste, dass ich eine ganze Zeit lang trocken gewesen war, und schien etwas sagen zu wollen, bis ich ihn anbleckte, ihn – traust dich ja doch nicht – förmlich herausforderte. Ich hätte ihn über den Ladentisch gezerrt. Er tippte die Ware ein.

Als ich zahlte, sagte ich: »Ist es nicht herrlich, dass ich nicht rauche?«

Er antwortete nicht.

Blödmann.

Mein Handy klingelte. Ich zog es aus der Jacke. Meine Ohren machten nicht richtig mit – was machte schon richtig mit? –, aber ich hörte, wenn auch undeutlich:

»Jack, hier ist Eoin Heaton.«

Er klang betrunken.

»Was wollen Sie scheißenochmal?«

Er war verblüfft, ich hörte, wie er nach Luft schnappte, und er sagte: »Ich habe die Hundeentführer gefunden.«

Heiland.

Hunde?

Ich sagte: »Und jetzt, wollen Sie eine Medaille? Versuchen Sie, dran zu denken, dass Sie mal Polizist waren. Ein bisschen Initiative, lösen Sie den verdammten Fall.«

In seiner Stimme klang etwas mit, was ich hätte erkennen sollen. Er sagte: »Aber, Jack – «

Ich ließ ihn nicht ausreden, sagte: »Und versuchen Sie, sich nicht bestechen zu lassen, okay? Deshalb haben Ihnen die Ordnungskräfte doch den Arschtritt verpasst, oder?«

Ich kam zurück in die Wohnung und knallte die Tüte voll Schabau auf den Tisch.

»Ich wusste nicht, was ich holen soll, da habe ich alles geholt.«

Sie winkte vage ab, also öffnete ich den Wodka, schenkte eine meiner Ansicht nach gesunde Portion ein, gab etwas Verdünner dazu und überreichte ihr das Glas. Sie packte es, lenzte es zur Hälfte, ließ einen tiefen Seufzer frei. Ich schwöre, ich konnte spüren, wie das Zeug in meinem eigenen Magen ankam. Ich ging in die Küche, machte Kaffee, nahm zwei von Stewarts Pillen und spülte sie herunter.

Bizarrer Aspekt der Sucht: Obwohl man weiß, dass die Pillen helfen werden, einen runterbringen, würde man sie in einer Sekunde gegen die reine Wucht, den sofortigen Aufprall des baren Alkohols eintauschen.

Ich ging wieder zu Wellewulst, setzte mich auf den Sessel ihr gegenüber, fragte: »Wann wurde das Mädchen umgebracht?«

Sie starrte ihr Glas an, inzwischen leer, mit dem Gesichtsausdruck, den ich so oft gehabt hatte: Wie ist das denn passiert?

Sie sagte tödlich monoton: »Ich war achtundvierzig Stunden lang auf Streife gewesen. Ich hörte, wie der Typ von der Medizinischen sagte, sie sei abgefackelt worden – das Wort hat er verwendet, wie die Amis im Fernsehen.«

Ich bot ihr nichts mehr zu trinken an, ich hatte das Meine getan. Wenn sie sich volllaufen lassen wollte, konnte sie das ohne fremde Hilfe.

Ich sagte: »Da hat also jemand eindeutig die Familie im Visier. Es gibt keine Verbindung zu Drogen, und eine Blutrache haben wir auch nicht entdeckt.«

Dann fiel mir etwas ein.

»Haben Sie irgendwas über den älteren Bruder herausgefunden?«

Sie hatte ihr Notizbuch hervorgekramt, genau so ein schweres Teil, wie ich es all die Jahre bei der Polizei herumgeschleppt hatte. Es versetzte mir einen kurzen kleinen Sehnsuchtsschmerz. Sie kritzelte schnell.

Sie sagte: »Ja, er heißt Rory. Er ist in London, aber es ist uns noch nicht gelungen, Kontakt mit ihm aufzunehmen.«

Ich hatte mich immer näher zu ihr vorgebeugt, und sie schrak zurück, fragte: »Warum kleben Sie mir im Gesicht? Sind Sie taub, oder was?«

Ich entschied, dass dies nicht der Zeitpunkt war, ihr vom neuesten Kreuz zu berichten, das ich zu tragen hatte.

Jetzt war sie aufgestanden. Sie knöpfte ihre Uniformjacke zu, sagte: »Ich werde mich sofort darum kümmern.«

Ich warnte: »Sollten Sie nicht erst mal schlafen? Ich meine, wenn die eine Wodkafahne wittern, ist das nicht so gut.«

Wild war ihr Gesicht, als sie sagte: »Die sollen sich gehackt legen.«

Sie gefiel mir sehr viel besser.

Ich zeigte auf den Schnaps. »Was soll ich damit?«

Ihre Augen waren wie Kohle. »Ihnen wird schon was einfallen.«

Sie gefiel mir weniger gut.

Jack Taylor auf dem Kreuzweg
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