Ich brauchte Schutz.
Gail würde es bestimmt wieder versuchen, und dann im Ernst. Da war ich doch lieber gewappnet, und wenn ich es mit der ganzen Familie aufnehmen musste, zumindest mit Gail und ihrem Vater, genügte allein die richtige Einstellung gewiss nicht. Wenn man heutzutage in Galway eine Knarre kaufen will, hat man die Qual der Wahl. So viele verschiedene Nationalitäten hier, dass Waffen immer üblicher werden. Man geht in die Kneipen, die Hintergassen, da dauert es nicht lang, bis man an Dope, an Huren kommt, alles, was das Herz begehrt.
Ich ging in eine Kneipe in Salthill, nicht unbedingt meine Wunschpinte. Sie liegt etwas abgelegen und sieht schmutzig aus. Sie ist schmutzig und hat sich einen neuen Ruf als Umschlagplatz erworben, man kriegt dort, heißt es … alles.
Ein Osteuropäer namens Michail, der, je nach Tagesform, Russe, Kroate, Rumäne und anderes war, was ich nicht aussprechen konnte, hielt an einem Tisch beim Fenster Hof. In einem Monat war er wieder woanders, aber im Augenblick lag der Treffpunkt beim Ozean. Ich kannte ihn, zwar nicht gut, aber doch so gut, dass er nichts dagegen hatte, als ich fragte: »Kann ich Ihnen einen ausgeben?«
Er hatte diesen kurzen Haarschnitt, den wir Korea-Peitsche zu nennen pflegten, ein langes, narbendurchfurchtes Gesicht und Augen bar jeden Ausdrucks. Er war dünn wie Hungersnot, und sein Alter bewegte sich in dem Bereich zwischen Ende vierzig und üble fünfzig. Er sagte, ein einfacher Wodka wäre höchst willkommen. Ich holte ihm einen und mir eine Diät-Pepsi, setzte mich zu ihm.
Er sah mein Getränk an, fragte: »Sie nicht trinken Coca Cola?«
Was, Kacke auch, ging ihn das an?
Ich sagte: »Ich mache Diät.«
Er sah prüfend meine Hände an. Die Schnitte und Blutergüsse heilten, waren aber noch sichtbar, und er fragte: »Straßenkämpfer?«
Wenn ich die Knarre kaufte, schoss ich ihn vielleicht tot.
»Unfreiwillig.«
Richtige Antwort. Er fand sie ganz toll, lachte laut, stellte dabei vergammelte Zähne mit glänzenden Stellen – Gold? – zur Schau. Ich beschloss, ihn nicht weiter zu erheitern.
»›Street Fighting Man‹ – ein Song von Rolling Stones. Sie mögen, ja?«
Klar, mein Lieblingssong.
Ich sagte: »Mein Lieblingssong.«
Weiteres Gelächter, Scheiße, und dann klagte er mich an, leichthin: »Sie machen Witz mit mir, habe ich recht?«
Und ich war schlau genug zu beteuern: »Aber nicht über Sie.«
Er nickte. Kein Zweifel, wir waren füreinander geschaffen.
Dann fegte er sich den Wodka auf einen Sitz rein, fragte: »Was kann ich Ihnen besorgen, Herr Straßenkämpfer?«
Sein Handy klingelte, aber er ignorierte es, sagte: »Bitte, in mein Büro zu kommen.«
Ich folgte ihm nach draußen, und weiter neben die Kirche von Salthill.
Er hatte einen verbeulten Lieferwagen, schloss ihn auf, bat: »Bitte, mir zu folgen.«
Wir stiegen ein, er griff in den hinteren Teil, holte ein schweres Tuchbündel hervor und wickelte es auf, sodass eine Glock, eine Beretta und eine Browning Automatik zum Vorschein kamen. Guns »R« Us. Dass sein Büro direkt neben der Kirche lag, ergab im Irland unserer Tage einen ganz eigenen Sinn.
Ich fragte: »Haben Sie keine Angst, dass die Karre gestohlen wird?«
Wieder legte er diese Zähne frei, knurrte, ich schwör’s, und sagte: »Wer wird mir etwas stehlen?«
Als wüsste ich so was.
Um ihn abzulenken, fragte ich nach dem Preis der Glock, und sie war teuer.
Ich sagte: »Die ist aber teuer.«
Er zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Wem sagen Sie das.«
Komplett geladen kostete sie noch mehr, als ich erwartet hatte, aber was soll’s, ich konnte schlecht im Branchenfernsprechbuch nachsehen.
Ich fragte: »Woher wissen Sie, dass ich kein Polizist bin?«
Geräumiges Lachen. »Sie?«
Ich bat ihn nicht, das zu vertiefen.
Er zeigte auf meine Hörhilfe.
»Sie hören nicht so gut?«
»Ich höre, was wichtig ist.«
Das interessierte ihn.
»Wie Sie merken Unterschied?«
Gar nicht, aber ich beschloss, ihn weiter zu pflegen.
»Es geht nicht um das, was gesagt wird, sondern darum, wie der, der es sagt, sich benimmt.«
Leider daneben, oder?
Aber er kaufte den Spruch mit allem Drum und Dran, sagte: »Dies mir gefällt. Darf ich bitten weiterverwenden?«
Heiland.
Ich sagte: »Müssen Sie wissen.«
Brachte mir ein weiteres Megagelächter ein. Vielleicht sollte ich nach Osteuropa ziehen, Stegreifkomiker werden.
Ich sagte: »Danke für Ihre Zeit.«
Er streckte die Hand aus, und ich schlug ein.
Er sagte: »Ich mag Sie, Miiister, Sie mich bringen zum Lachen. Dies Land, es nicht mich bringt zum Lachen sehr oft.«
Auf die Gefahr, mich wie ein Zen-Meister anzuhören, begnügte ich mich mit: »Sie sehen es aus dem falschen Blickwinkel.«
Das bewegte er in seinem Sinn, fragte dann: »Und wie ist er, der richtige … Blickwinkel?«
»Als wäre es wurscht.«
Er kapierte nicht so recht, sondierte: »Aber es ist nicht wurscht?«
Ich stieg aus dem Lieferwagen, sagte zum Abschied: »Sobald ich es herausfinde, sage ich Ihnen Bescheid.«
Ich brauchte auch jemanden zum Reden.
Früher hatte ich immer vor mich hin gedengelt, Ratschläge ignoriert, alles einfach auf mich zukommen lassen. Und natürlich gesoffen. Wer brauchte schon Ratschläge? Ich hatte den Alk, der mir so viele verrückte Vorschläge machte, wie ich verwerten konnte.
Nunmehr nüchtern, oder trocken, egal, war es vielleicht Zeit, mir ein bisschen helfen zu lassen. Wellewulst kam nicht infrage. Wir waren dermaßen in Kampfhandlungen verkrallt, dass sie keinerlei Hilfe gewesen wäre, und wenn sie gewusst hätte, dass ich mir eine Pistole gekauft hatte, hätte sie mich wahrscheinlich verhaftet.
Jeff, mein großer Freund, galt als vermisst. Seitdem ich den Tod seines Kindes verursacht hatte, war er vom Erdboden verschwunden. All meine Anstrengungen, ihn ausfindig zu machen, waren vergeblich gewesen.
Und das war’s. So alt zu werden, wie ich war, und niemanden zu haben, keine Menschenseele, der man sich anvertrauen konnte, das ist eine Affenschande und Quittung dafür, wie viel meine Art zu leben mich gekostet hatte. Ich spielte mit dem Gedanken, Gina anzurufen. Ich hatte eindeutig immer noch Gefühle für sie. Ich wusste nicht mehr, was Liebe war – falls ich das je gewusst hatte –, aber solang ich mir die Killerfamilie nicht vorgeknöpft hatte, beschloss ich zu warten.
Damit blieb nur noch Stewart übrig, der Drogendealer. Anstatt das zu Tode zu analysieren, rief ich ihn einfach an, und er sagte: »Kommen Sie vorbei, ich habe gerade neuen Kräutertee gekauft.«
Ich konnte nur hoffen, dass das mit dem Tee komisch gemeint war.
Auf dem Weg zu ihm machte ich in einem religiösen Laden halt. Bei der Augustinerkirche gibt es einen: jede Menge Reliquien vom hl. Judas, nagelneue Bücher über den verstorbenen Papst. Ich fand nicht, wonach ich suchte, genau wie U2.
Die Frau hinter dem Ladentisch sagte: »Ich kenne Sie.«
Wie der Titelsong meines Lebens.
Und nie erbaulich.
Sie sagte: »Ich habe Ihre Frau Mutter gekannt.«
Ich wartete auf die übliche Predigt, die Plattitüden, den Klagegesang, was für eine fabelhafte Frau sie doch gewesen war, fast eine Heilige und den gesamten anderen Scheiß. Ich nickte, dachte: Bringen wir die Seligsprechung hinter uns.
Sie sagte: »Harte Frau, Ihre Mutter, aber ich nehme nicht an, dass ich Ihnen das sagen muss.«
Ich erwärmte mich augenblicklich für die Dame, fragte: »Haben Sie ein Brigittenkreuz?«
Sie lächelte, ein Lächeln echter Wärme.
»Ja, beim Heiligen, die werden kaum noch verlangt.«
Sagte aber, sie würde im Lager nachsehen.
Ich las eine Plakette mit den Desiderata, während ich wartete, und überlegte, dass man damit und mit der Glock für die Wechselfälle des Lebens gerüstet war.
Die Frau fand ein Kreuz, pustete den Staub ab und sagte: »Da ist kein Preis dran.«
Ich überreichte ihr einen Zwanzigeuroschein, und sie sagte, das sei viel zu viel. Ich sagte ihr, sie solle ihn an die Armen weiterleiten. Sie erlaubte sich ein weiteres Lächeln.
»So nennen wir sie schon lange nicht mehr. Wir nennen sie benachteiligt.«
Darauf hatte ich keine Erwiderung, dankte ihr für ihre Zeit.
Als ich ging, sagte sie: »Möge Gott gut auf Sie aufpassen.«
Oder wer auch immer, das hoffte ich, Hölle auch, ebenfalls. Selbst wollte es mir ja nicht gelingen.
Als Stewart die Tür öffnete, erkannte ich ihn zuerst nicht wieder, dann wurde mir klar, dass er sich den Schädel rasiert hatte.
Ich sagte: »Sie gehen mit der Zen-Kiste ja wirklich bis zum Äußersten.«
Er bedeutete mir einzutreten.
»Mir fallen die Haare aus. Auf diese Weise brauche ich mir das nicht stückchenweise mit anzusehen.«
Nichts gegen zu sagen.
Dadurch wirkte er plötzlich richtig abgebrüht, was ihn, in Verbindung mit seinen neuen steinernen Augen, dem Bankschalterheini, als den ich ihn vor all den Jahren kennengelernt hatte, total entfremdete.
Die ganze Ausstrahlung warnte: Pup mich nicht an.
Die Wohnung war immer noch spartanisch und wirkte unbewohnt.
Er sagte: »Ich hole den Tee.«
Aber ja doch.
Ich setzte mich hin und überlegte, ob ich wohl noch ein paar von diesen Zauberpillen abstauben konnte.
Er kam mit zwei großen Bechern voll bösartig riechendem Zeugs zurück, stellte einen vor mir ab, fragte: »Was haben Sie im Sinn, Jack?«
Ich brachte etwas Abstand zwischen den Becher und mich und versuchte es mit Leichtfertigkeit: »So mal eben in gesellig-mitmenschlicher Weise reinschneien ist nicht?«
Er schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck von seinem Tee. »Das Gesellig-Mitmenschliche ist Ihnen nicht gegeben, Jack, also was haben Sie im Sinn?«
Was soll’s. Ich sagte es ihm. Komplett – die Familie, die als Einheit mordete. Brauchte Zeit, das alles darzulegen.
Er hörte zu, ohne zu unterbrechen, und als ich fertig war, hätte ich um ein Haar von dem Tee gekostet. Dann fiel mir das Geschenk ein, ich zog es aus der Tasche, sagte: »Alles Gute zum Einzug in die neue Wohnung.«
Er war überrascht, machte es auf und sagte: »Sie bringen mir ein Kreuz – meinen Sie nicht, ich habe schon genug zu tragen?«
Klang nicht nach Dankbarkeit.
»Soll Glück bringen, Sicherheit für Ihr Heim.«
Er legte es beiseite, sagte: »Um das hinzukriegen, braucht man mehr als die hl. Wie-heißt-sie-noch.«
Ich war ein bisschen ungehalten.
»Diese Kreuze sind schwer zu kriegen.«
Heiland, klang das lahm, schon während ich es noch sagte.
Er trank seinen Tee aus, sagte: »Genau wie Glück.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, fragte er: »Was planen Sie?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Dies ließ er herumflirren, sagte dann: »Es ist ziemlich simpel. Ich habe Thich Nhat Hanh gelesen, und der hat gesagt: ›Tu nicht einfach was. Sitz da.‹«
Genau, was ich brauchte. Philosophie.
Ich fragte: »Sie sagen, ich soll nichts tun?«
Er stand auf, lockerte seinen Körper mit irgendeiner Art Yoga-Bewegung.
»Ich sage: Bringen Sie die Schwester um.«
Ich hatte auf eine brillante Idee gehofft, einen radikalen teuflischen Plan, der alles regelte und mir, der Wahrheit die Ehre, einen geordneten Rückzug ermöglichte. Sodass ich mich davonmachen konnte, nach Amerika abhauen, wenn schon nicht reinen Gewissens, aber mit einem winzig kleinen bisschen weniger Bammel.
Aber nichts.
Ich hob die Hände in einer nutzlosen Geste, Bedeutung: Mehr fällt Ihnen nicht ein?
Er griff sich in die Tasche, zog ein Pillenröhrchen heraus und warf es mir zu.
»Die werden Sie wollen.«
Ich wollte protestieren, mich entrüsten, die Pillen zurückschmeißen, ein bisschen Würde aufbieten, aber die Pillen waren mir noch wichtiger.
»Danke.«
Er zuckte die Achseln, fragte: »Sie wollen Hilfe?«
Meinte er bei meiner zunehmenden Sucht?
Er sagte: »Sie werden wissen müssen, wo der Feind wohnt, und, machen wir uns nichts vor, das finde ich besser heraus als Sie, ich habe immer noch mein gesamtes Netzwerk.«
Wellewulst würde mir nicht helfen, und auf eigene Faust weiterzustapfen und auf Glück zu hoffen, war auch nicht allzu schlau, also sagte ich: »Ja, das würde ich begrüßen.«
Er lächelte, diesmal sogar mit einer Andeutung von Wärme.
»Es passt Ihnen nicht, sich auf Menschen verlassen zu müssen, stimmt’s, Jack?«
Lügen brachte nicht übermäßig viel, deshalb sagte ich: »Nein. Nein, das passt mir nicht.«
Er ging zu einem kleinen Wandschrank, kramte darin herum, holte eine CD heraus, sah sie stirnrunzelnd an, sagte dann: »Und wenn ich sie finde, und finden werde ich sie, wollen Sie, dass ich dann mitkomme und die Tat mit Ihnen begehe?«
Die Tat?
Bevor ich irgendeinen Kack formulieren konnte, des Sinnes, dass ich das allein tun müsse, sagte er: »Meine Schwester wurde ermordet, und Sie haben mir geholfen. Diese … Menschen … die eine ganze Familie auslöschen … Da habe ich das Gefühl, ich könnte irgendwie zu einem Abschluss kommen, wenn ich denen das Licht ausblase.«
Ich musste fragen: »Stewart, wissen Sie, was Sie da sagen?«
Er war zu einer Entscheidung gekommen, was die CD betraf.
»Ich weiß immer, was ich sage. Deshalb sage ich so wenig.«
Tiefsinnig.
Ich stand auf, wusste nicht, ob ich ihm die Hand drücken, den Pakt besiegeln sollte, aber er gab mir die CD.
»Die ist für Sie. Sie schenken mir ein Kreuz, hier kriegen Sie etwas Ähnliches zurück, obwohl vielleicht ein bisschen leichter zu tragen.«
Sie hatte ein schwarzes Cover, ganz angemessen. Der Titel lautete I’ve Got My Own Hell To Raise, von jemandem namens Bettye LaVette.
Ich zeigte auf den Titel, fragte: »Kryptische Botschaft für mich?«
Er schob mich in Richtung Tür, sagte: »Es ist eine CD. Nicht alles ist von tieferer Bedeutung.«
Ich gab ihm meine Handynummer, und er sagte: »Sie werden von mir hören, also lassen Sie Ihr Hörgerät an.«
Aber ja doch.