Als ich Cody anfangs im Krankenhaus besuchte, wurde ich eines Nachmittags von einem Mann abgefangen. Er hatte diesen frommen Gesichtsausdruck, den Priester und Weltverbesserer so lieben.
Er sagte: »Geht es uns besser?«
Ich war kein sehr guter Im-Krankenhaus-Besucher, nicht einer von diesen putzmunteren Stoikern, die einem den Tag bereichern, wenn man sie trifft. Ich war schlecht gelaunt, verletzt und schmachtete nach was zu trinken. Ich starrte ihn an. »Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, Kumpel, und es ist mir, offen gestanden, auch wurscht, aber es geht mir echt beschissen.«
Er nickte, mit Aggressionen kam er klar, sah sogar aus, als erwartete er sie. Er sollte nicht enttäuscht werden. Er beugte sich näher heran, sagte: »Zorn ist gut. Lassen Sie diese bösen Schwingungen heraus. Halten Sie sie nicht zurück.«
Wir waren auf dem Flur vor Codys Zimmer, und ich wappnete mich wie üblich vor dem Eintreten, weshalb die Ablenkung nicht unwillkommen war. Ich begann wegzugehen, froh über die Gnadenfrist, und er folgte mir, womit ich gerechnet hatte.
Wir erreichten die sogenannte lange Station, Großraumkrankenzimmer, wenn man so will. Bettenreihe an Bettenreihe, kein Privatleben. Die Art Betten hatte ich mehr als genug belegt.
»Wo haben Sie diesen Kack gelernt? Ich meine, zu Hause, wenn Sie vor der Glotze sitzen, sprechen Sie da ernsthaft auch so? Heiland, ich meine, aber wirklich.«
Noch mehr Lächeln. Er hatte offenbar die ganze Zeit von mir geträumt.
Ich fragte: »Und wer zum Teufel sind Sie, außer jemand, der bei mir monumentales Arschweh verursacht?«
Er machte mit den Augen etwas, was Mitgefühl übermitteln sollte, eine Art – wie heißt das tolle Wort? – jawoll, Empathie. Dadurch bekam er so was Verschlagenes. Würden Sie diesem Typ einen Gebrauchtwagen abkaufen?
Ich nicht.
Jetzt kochte er, sagte: »Sehen Sie mich als einen Freund, der sich keinerlei Urteil anmaßt.«
Als gäbe es das.
Ich sagte: »Wenn Sie mein Freund sein wollen, könnten Sie mir einen Gefallen tun. Wie wäre das, als Zeichen unserer innigen Verbundenheit?«
Das frohsinnige Gesicht leicht bewölkt, fragte er: »Örm, okay, und zwar?«
»Hüpfen Sie über die Straße ins Riverside Inn, holen Sie mir eine Flasche Jameson.«
Er seufzte, beugte sich wieder zurück, als wäre dies haargenau das gewesen, war er zu hören gewohnt war, atmete lang aus. »Ah, hier haben wir die Krux des Ganzen.«
Krux.
Gibt es beim Training dieser Burschen eine Klasse, sagen wir, Tag drei, an dem man ihnen eine Broschüre gibt, in der alle Wörter stehen, die sie verwenden können und sonst niemand, die sie einfach so ins Gespräch werfen können, und dann geht es ein wie ein Primelpott?
Ich war am Ende der langen Station stehen geblieben. Das allerletzte Bett war leer, und das bedeutete nur eines: Der Patient war gestorben. Sie reservieren dieses Bett bei der Tür denen, die es nicht schaffen werden, damit sie sie im Nu wegschaffen können, ohne die anderen Patienten zu stören. Ich starrte dieses leere Bett an, jede Menge Bammel im Gedärm.
Als ich nicht reagierte, schob er nach: »Der Alkohol scheint eine größere Rolle gespielt zu haben bei Ihrem …«
Das nächste Wort wählte er so sorgfältig wie eine alte Jungfer angesichts einer Schachtel mit ihren Lieblingspralinen. Sturz, Fall, Untergang – hätte er alles sagen können, entschied sich dann aber für das weniger gefährliche »… Problem.«
Ich fragte: »Wollen Sie was über mein Leben hören, als ich trocken war, als ich nicht trank, wollen Sie hören, was für ein Erfolg das war?«
Er verlagerte sein Gewicht, argwöhnte, dass dies nicht angenehm werden würde.
»Wenn Sie mich daran teilhaben lassen wollen.«
Ich baute mich ganz nah vor seinem Gesicht auf. Er wäre zurückgewichen, nur stand da schon das Totenbett.
Ich sagte: »Ja, ich war nüchtern, hatte monatelang nichts getrunken, und nun raten Sie mal? Ich habe ein kleines Mädchen zu Tode gebracht. Drei Jahre alt, das schönste Kind, das man je gesehen hat, eine gottverdammte abgöttisch geliebte kleine Zuckerschnute, und dann ich, trinke nicht, passe auf sie auf, und sie fällt aus dem Fenster im ersten Stock. Und ihre Eltern, meine besten Freunde, was meinen Sie, wie die das fanden, dass ich damals nüchtern war?«
Er hatte keine passende Plattitüde parat, aber er versuchte es: »Das Leben ist kein Ponyhof, und manchmal passieren schreckliche Dinge. Wir müssen weiter, dürfen uns nicht verbittern lassen.«
Ich schluckte, starrte ihn an, rief beinah: »Kein Scheißponyhof? Sie sind unglaublich. Wenn ich jemals die Eltern treffen sollte, wird das ganz bestimmt ihren Kummer lindern.«
Ich siedete, musste mich bewegen, also bedrängte ich ihn nicht mehr physisch, ließ von ihm ab und begann, in Richtung Schwesternzimmer zu gehen. Er folgte mir.
Ich sagte: »Hören Sie zu – hören Sie überhaupt zu? –, ich gehe jetzt pissen. Sie kommen mir nach, und ich trete Ihnen in die Eier. Setzen Sie sich dann mit meinem Zorn auseinander? Ist das real genug?«
Aber bei diesen Typen spricht man gegen eine Granitmauer an. Er sah aus, als werde er die Arme ausstrecken, mich vielleicht umarmen, und das wäre ein solcher Fehler gewesen.
Er versuchte es noch einmal: »Ich versuche, Sie zu erreichen. Wollen Sie wirklich immer wieder dieselben tragischen Entscheidungen treffen?«
Ich drehte mich um, um zur Toilette zu gehen, und fragte: »Sagt Ihnen der Name Dudley Moore was?«
Er witterte eine Falle, wagte es: »Örm, ja.«
Ich sah mich um, als wollte ich ihn ins Vertrauen ziehen, sagte: »Dudley Moore interviewte seinen großartigen Freund Peter Cook, fragte ihn, ob er aus seinen Fehlern gelernt habe, und Cook erwiderte: ›Ja, absolut, ich kann sie fast perfekt wiederholen.‹«
Auf dem Klo versuchte ein Mann, der eine IV hinter sich herzog, zu pinkeln. Er sah mich an und sagte: »Wie kann man nur als erwachsener Mann so enden.«
Dagegen war schlecht was zu sagen.
Diese Begegnung mit dem Eiferer spulte sich in meinem Kopf noch mal ab, während ich die Shop Street entlangschlenderte. Als ich meine Wohnung verlassen hatte, war ich in vertretbarer Gemütsverfassung gewesen, aber diese blitzartige Rückblende zog mich runter, tief und schnell.
Der Sommer war eindeutig vorbei. Dies eigentümliche Licht, nur im Westen Irlands zu haben, überflutete die Straße – es ist eine Mischung verschiedener Helligkeiten, aber immer mit der Drohung, dass es regnet, und selbst wenn es einen besänftigt, glitzert es wie nasser Kristall. Der Rand der Dunkelheit kriecht den Horizont entlang, und man kriegt das Gefühl, man holt sich besser schnell was von dem Licht, solang es andauert.
Vor Eason’s Buchhandlung sang eine Gruppe Christen eine Rock-Version von »One Day At A Time«. Sie hatten die gut geschrubbten Gesichter junger Leute mit sauberem Lebenswandel. Ein Mädchen, achtzehn, neunzehn vielleicht, löste sich aus der Gruppe, als es mein Interesse bemerkte, drückte mir einen Packen Flugblätter in die Hand und sagte: »Jesus liebt dich.«
Ich weiß nicht, warum meine Stimmung sich hob: Ich war auf dem Weg in die Kneipe, das Licht barst ein letztes Mal in spektakulärer Klarheit. Aber sie ärgerte mich, und ich schnappte: »Woher willst du das wissen?«
Erstaunte sie, aber das Training schlug durch, und sie stellte das erforderliche tote Lächeln mit einem gut geübten Slogan her:
»Durch Musik bessern wir Christentum und Christenheit.«
Dieselbe matte alte Scheiße mit Glanzlack. Ein paar Tage zuvor hatte ich King of the Hill gesehen, eine Folge, in der Hank einer Bande wiedergeborener Christen ausgeliefert war. Ihre Kombination aus Bekehrungseifer und Tätowierungen machte ihn echt sauer. Jetzt sah ich dem Mädchen ins Gesicht und benutzte den Spruch, mit dem Hank Vergeltung geübt hatte.
»Ihr bessert nicht Christentum und Christenheit, ihr verschlechtert den Rock and Roll.«
Juckte sie überhaupt nicht. Mit den Zeigefingern bildete sie ein Kreuz, wie um einen Vampir abzuwehren, und murmelte irgendeine Beschwörung. Ich ging weiter, das Geräusch ihres Gesinges wie ein Vergehen an meinen Ohren. Direkt neben Eason’s, fast, ist Garavan’s – eine der alten Kneipen, immer noch nicht modernisiert. Bücher und Schnaps, Nachbarn unseres Erbes.
Der Tresenmann sah die Flugblätter in meiner Hand, Jesus in großen roten Lettern drauf.
»Haben die Sie bekehrt?«
Ich stützte mich auf den Tresen. »Dreimal dürfen Sie raten.«
Er begann, meine pint Schwarzes zu bauen, griff hinter sich, um den Kurzen in Form eines Jameson einzuschenken, seine Bewegungen eine fließende Aktion, ohne Bruch in der Abfolge, umso eindrucksvoller, als ich weder einen Schiefen noch einen Kurzen bestellt hatte. Er sagte: »Kaum zu glauben, sie sind gut fürs Geschäft. Die Leute hören sie, sagen sich: ›Heiland, ich brauche was zu trinken.‹«
Ich fragte nicht nach, woher er wusste, was ich hatte bestellen wollen. Ich hatte Angst, er würde es mir sagen.
Die kleinste Begebenheit kann oft zu einer ganzen Reihe von Handlungen führen, und als ich das Glas mit der Hand berührte, sah ich das Kreuzeszeichen des Mädchens und erinnerte mich an die Kreuzigung. Auch Wellewulst kam mir in den Sinn. Auf bizarrste Weise liebte ich sie, was ich, Scheiße, nie zugeben würde, nie. Sie irritierte mich bis zum neunten Kreis der Hölle und darüber hinaus, aber was ist Liebe anderes als all das und trotzdem dranbleiben? Dass sie lesbisch war, machte das unlösbare Rätsel nur noch unlösbarer. Ach, was war ich doch durchhin, wie man hier sagt. Und Cody, war er nicht das Opfer irgendeines kalten Schweinehunds? Oder einer kalten Schweinehündin? Irgendeine erbarmungslose Hure, die ihn einfach außer Gefecht gesetzt hatte. Dieses Mädchen hatte mich verflucht und doch auch wieder die Straße ins Verderben passierbar gemacht, aber das war die Straße, die ich am meisten bereiste.
Ich nahm meine Getränke und zog in den snug um, die Einzelsäuferkoje, ein kleines Kabuff, dazu angetan, nicht gleich Frieden, aber doch etwas Zurückgezogenheit zu bieten. Die pint Guinness war ein Kunstwerk. Perfekt geschenkt, die Blume eine präzise Sahnescheibe. Schien fast eine Schande, sie nicht zu trinken. Ungebeten kam mir Malcolm Lowrys Unter dem Vulkan in den Sinn. Hätte ich nur ein bisschen Weitblick gehabt. Ganz am Schluss dieses angsterregenden Buches werfen sie einen toten Hund ins Grab, auf den toten Konsul drauf. Ich sah keinerlei Verbindungslinien, keinerlei Ironie.
So sitzt man hinter einer pint, einem reinen Geschenk, einer Begabung gar, und der Jameson webt einem bereits seine dunkle Magie an die Augen hin, und man kann glauben, dass der Irak tatsächlich auf der anderen Seite der Welt ist, dass der Winter nicht kommt, dass das Licht von Galway immer seinen Reiz ausüben wird und dass Pfaffen Haustiere sind, keine Raubtiere. Die Illusion wird nicht sehr lange anhalten, aber der kurze Augenblick ist unbezahlbar.
Ich hoffte nicht mehr auf die Religion, also betete ich vor jedem Altar, der kurzen Trost versprach. Wenn man es natürlich mit dem Himmel versucht, ist man an allen Grenzen von Hölle umgeben. Dann tadelte ich mich, murmelte, genug von der tiefsinnigen Scheiße, es ist doch nur was zu trinken, und hatte das Glas erhoben, als ein Mann in das Kabuff spähte.
»Jack Taylor?«
Diesmal hätte ich fast sogar getrunken. Das war mein Russisches Roulette, à l’irlandaise. Jedes Mal, wenn ich was zu trinken orderte, wusste ich nicht, ob ich es nicht doch schlucken würde, aber ich war ziemlich sicher, dass das bald einmal geschah, und tiefinnerst hoffte ich es. Ich sah den Mann an, der meinen Namen so geläufig ausgesprochen hatte.
Ich war versucht, es zu verneinen. Diese Anfragen führten nie zu etwas Gutem. Ich verbarg meine Verärgerung nicht.
»Jaaa?«
Er war groß – über eins achtzig –, Anfang sechzig, mit wettergegerbtem Gesicht, kahlem Kopf und nervösen Augen. Er trug einen sehr feinen Anzug und massive Strapazierschuhe und sagte: »Tut mir leid, dass ich Sie störe, aber ich suche Sie jetzt schon seit mehreren Tagen.« Eine leichte Gereiztheit in seinem Ton, als hätte er Besseres zu tun, als die Stadt nach mir abzusuchen.
Ich berührte die pint. Sie fühlte sich gut an, ein bisschen angesäuert von der Unterbrechung.
»Also haben Sie mich gefunden. Was haben Sie für ein Problem?« Ich bemühte mich nicht, meine Irritation zu bemänteln.
Er streckte die Hand aus. »Ich bin Edward O’Brien.«
Ich ignorierte seine Hand, fragte: »Und das soll was bedeuten? Ich kann Ihnen versichern, Kumpel, für mich bedeutet es keinen feuchten Furz.«
Er lächelte beinah wissend. »Man hatte mir gesagt, Sie hätten eine scharfe Zunge, aber ein gutes Herz.«
Bevor ich auf diesen Unsinn reagieren konnte, sagte er: »Ich brauche Ihre Hilfe.«
Mehr um ihn loszuwerden als aus Interesse fragte ich: »Wobei?«
»Um meinen Hund zu finden.«
Ich lachte fast. Hier war ich, bereitete mich darauf vor, jemanden zu finden, der einen Mann gekreuzigt hatte, und diesem Irren war der Hund abhandengekommen?
»Das kann doch wohl nicht Ihr Scheißernst sein, da hat Sie jemand angestiftet, da spielt mir jemand einen lahmen Streich.«
Er war schockiert. Sein Gesicht zeigte an, dass er tief verletzt war, und er sagte: »Ich liebe diesen kleinen Burschen.«
Ich schüttelte den Kopf, wedelte ihn weg.
Er ging nicht, fuhr fort: »Ich bin Professor an der Universität und repräsentiere die Einwohner von Newcastle. Sind Sie überhaupt au fait mit dem Gebiet?«
Au fait!
Und dass er Professor war, als würde das bei mir das Eis brechen. Der letzte Professor, den ich getroffen hatte, war ein mordender Schweinehund gewesen. Fast rief ich: »He, Prof, ich bin aus Galway, ich weiß, welcher Scheißstadtteil Newcastle ist.«
Er pflügte weiter.
»In fünf Häusern wurde der Hund gestohlen. Wir haben gehört, Sie sind gut im Auffinden von Sachen, und wir werden Sie bezahlen.«
Als ich mich nicht sofort daraufstürzte, setzte er hinzu: »Und gut bezahlen.«
Die Versuchung, einen auf »Mein Partner mit der kalten Schnauze« zu machen, war schier übermächtig.
Ich sagte: »Überlassen Sie es mir, ich werde sehen, was ich tun kann.«
Er straffte sich. »Vielen herzlichen Dank. Es bedeutet uns ungeheuer viel.«
Er war auf dem Wege, als ich sagte: »Die hatten unrecht mit dem, was sie Ihnen über mich gesagt haben.«
Sein Gesicht leuchtete auf. »Dass Sie eine scharfe Zunge haben?«
»Nein, dass ich ein gutes Herz habe.«