Die Adresse, die Stewart mir gegeben hatte, war in der Father Griffin Road, und ich dachte, ich sehe mir das besser mal an. Mein Gehinke verschlimmerte sich, also würde der Spaziergang mir guttun. Ich ging durch die Shop Street, wo Straßenmusikanten, Pantomimen zeigten, was sie konnten. Ein Pantomime stand auf einer Kiste und sollte den Teufel darstellen, rot angemalt, mit Hörnern, Schwanz und etwas, was eine Mistgabel zu sein schien, nur ein bisschen verbogen – aber vielleicht war das Absicht. Ein kleiner Junge starrte zu ihm hinauf, völlig gebannt, ich blieb kurz stehen, und der Teufel sprach zu mir, mit dem Akzent von Galway.
»Wie wär’s? Dem Satan mal die Hand geben?«
War versucht, ihm zu sagen, dass ich das bereits seit mehr Jahren tat, als er glauben würde. Ich legte ihm ein paar Euro in die Schachtel, und er schenkte mir ein breites Grinsen. Seine Zähne waren schwarz, was, glaube ich, nicht zur Verkleidung gehörte.
Ich sah eine vertraute Gestalt auf mich zukommen – Caz, einen Rumänen, der seit fast sechs Jahren in der Stadt und hier komplett akklimatisiert war. Er hatte in erstaunlichem Umfang irisches Englisch gelernt, haute mich meist um Geld an und brachte dabei die Botschaft rüber, dass er mir, indem er das Geld nahm, einen Gefallen tat. Wie ich sagte, er hatte wirklich gut aufgepasst.
Er begrüßte mich mit: »Jack, mein alter Sohn, Kumpan und Gönner.«
Sehr rumänisch, was?
Er trug eine neue Wildlederjacke, Designer-Jeans und zutiefst schnieke Cowboystiefel. Letztes Mal sollte er noch deportiert werden. Die Dinge hatten sich für ihn offenbar gebessert, drastisch.
»Caz, wie geht es?«
Er starrte mich an, fragte: »Was soll denn das Hörgerät?«
Was sagt man da?
Ich sagte: »Das Alter.«
Er nickte, nichts gegen zu sagen. Kack.
Er sah sich um, als hätte er etwas Wichtiges mitzuteilen, dann: »Ich bin ein bisschen knapp bei Kasse.«
Der Anhauvorgang.
Ich barg ein paar Scheine in seiner hohlen Hand, und er verstaute sie rasch.
Er sagte: »Man hört ja überaus Seltsames von Ihnen.«
Wollte ich es wissen?
Ich riskierte es, fragte: »Zum Beispiel?«
»Dass Sie nicht mehr trinken, dass Sie seit sieben Ewigkeiten kein Getränk mehr angerührt haben.«
In Irland ist das tatsächlich überaus seltsam.
Ich sagte: »Ja, ist ein Weilchen her.«
Säufer hassen es, einen aus der Bande einzubüßen. Das ist bedrohlich, das bedeutet, dass es einen selbst auch treffen könnte.
Entsetzlicher Gedanke.
Er fragte: »Und wie kommen Sie damit zurecht?«
Ja, aber ganz prima, eine Freude pro Minute.
»Geht schon, wenn man sich erst mal dran gewöhnt hat.«
Von wegen.
Er kratzte sich am Kopf, fasste nach: »Was machen Sie mit der, Sie wissen schon, ganzen gewonnenen Zeit?«
Ich hatte keine Ahnung.
Ich sagte: »Ich lese viel.«
Er begann sich zu entfernen, sagte: »Sie armes Schwein.«
Amen.
Ich machte einen kleinen Stadtrundgang. Amerika kam immer näher, und vielleicht würde ich diese Straßen nie wieder bewandeln. Ich ging in Richtung Josephskirche, in der Presentation Road. Mein Vater hatte mir erzählt, wie die Black and Tans und das reguläre britische Militär vor dieser Kirche in Stellung gegangen waren, in der man Pater Griffin als Vergeltungsmaßnahme erschossen hatte. Der Mord an Priestern gehörte nicht zu unserer Geschichte. Was jetzt anders war: dass wir heutzutage keine Besatzungsarmeen mehr für so was brauchten. Wir übernahmen das selbst.
Pater Griffins Trauerzug im Jahre 1920 hatte die Mill Street verlassen und die O’Brien-Brücke überquert, und es gab immer noch alte Leute, die schworen, dass, als der Leichenwagen die Mitte der Brücke erreichte, drei Lachse aus dem Wasser sprangen, einen Moment lang mitten in der Luft verharrten wie aufgehängt und dann anmutig zurückglitten. Man sieht die Lachse nicht mehr springen, das Gift im Wasser hat sie träge gemacht, wie die Bevölkerung auch. Mein Dad, als er mir das erzählte, die Augen nass, sagte, der Kutscher des Leichenwagens habe Zylinder und Schärpe getragen, obwohl das verboten gewesen sei. Damals wie jetzt sehe ich diesen Mann vor mir, einen Helden seiner Überzeugungen. Eine Woche später wurde er erschossen.
Fragt man die jungen Leute, wer Pater Griffin war, sehen sie einen so an: »Ey, Alter, ich kenn keine Priester.«
Ich fand das Haus in der Father Griffin Road ohne Schwierigkeit. Es ist eine enge Straße, und früher war das hier echtes altes Galway. Aber was war das früher nicht?
Jetzt sah man hauptsächlich ZU-VERKAUFEN-Schilder. Ich musste mich richtig in Acht nehmen. Wenn mich jemand von der Familie sah, war ich echt im Arsch. Das Haus war ziemlich in der Mitte, schien ruhig, nichts bewegte sich.
Ich fuhr zusammen, als ein Typ mich ansprach, fragte: »Suchen Sie jemanden?«
Ich drehte mich um und sah einen Mann in den Siebzigern, mit einem Hund an der Leine – hätte ihm fast gesagt, er solle nicht bis Newcastle Gassi gehen. Er wirkte helle, aufgeweckt, und sein Akzent war von hier.
Ich sagte: »Ich hatte überlegt, ob ich mir ein Haus kaufe.«
Er sah das Haus an, sagte: »Dieses ist an eine englische Familie vermietet, aber die anderen, weiter unten, die sind zu verkaufen. Kosten natürlich eine Kleinigkeit.«
»Wie sind die Engländer so?«
Sein Gesicht legte nahe, dass dies wirklich eine dumme Frage war.
»Sie sind höflich … aber nett? Briten eben, wissen nicht, wie nett geht.«
Und mehr hatte er zu dem Thema nicht zu sagen. Ich dankte ihm, begann weiterzugehen.
Er fügte hinzu: »War früher eine richtig schöne Straße. Aber war das nicht überall so?«
Zu Hause sah ich den Mann, der Pater Griffins Leichenwagen kutschiert hatte, lebhaft vor meinem geistigen Auge, besonders, ich schwör’s, als ich die Glock ein paarmal ungeladen abfeuerte und mir dabei vorstellte, ich schösse auf Gail. Stewart hatte recht – das Gefängnis war für sie nicht das Geeignete. Aber dies?
Mein Telefon klingelte. Gina, die Ärztin, erkundigte sich, wie meine Hände heilten. Ich sagte, sie würden immer besser, und dann war Schweigen. Ich vermute, das war genau der Zwischenraum, in den hinein ich sie hätte fragen sollen, ob sie vielleicht möglicherweise Lust hat, mit mir essen oder sonst was zu gehen. Ich wollte fragen, aber ich konnte nicht. Ich sagte, ich würde sie ganz bald anrufen, sobald ich ein paar Einzelheiten geklärt hätte. Genau, eine junge Frau umgebracht, zum Beispiel. Ich merkte an ihrer Stimme, dass sie nicht glaubte, ich würde anrufen. Ich dankte ihr für ihre Fürsorglichkeit und hörte mich an wie ein undankbares Arschloch.
Ich sah auf die Uhr. Bald trafen sich Stewart und Gail, und es wurde Zeit, Mitch und Sean zu besuchen. Ich zog meinen Polizei-Allwettermantel an, lud die Waffe und steckte sie in die rechte Manteltasche, wobei ich ganz stark hoffte, sie nicht gegen Sean verwenden zu müssen. Nicht dass ich den Jungen gemocht hätte, aber er war eindeutig in eine Sache geschliddert, über die er keine Kontrolle hatte.
Es war dunkel, als ich in die Father Griffin Road kam, das ganze Haus hell erleuchtet. Ich erwog, von hinten einzubrechen, und dachte dann, ach Quatsch, ich gehe das Pack frontal an.
Ich klingelte, die rechte Hand in der Tasche, die Glock fest umklammert. Es dauerte drei Minuten, bis die Tür geöffnet wurde.
Sean stand da, das Gesicht aschgrau, die Augen weit aufgerissen. Er keuchte: »Mein Dad, da stimmt was nicht mit ihm.«
Ich dachte, da stimmte eine ganze Menge mit der gesamten Blase nicht, trat aber ein, fragte: »Was meinen Sie damit?«
Sean war beinah hysterisch.
»Gail hatte einen furchtbaren Krach mit ihm. Uns geht das Geld aus, und sie sagte, sie hat eine neue Quelle gefunden. Dad hat gesagt, es wäre vielleicht an der Zeit abzuhauen, und da wurde sie regelrecht ballistisch, hat ihn einen Feigling genannt und ist davongestürmt.«
Ich sah mich um, wo Mitch war. Ich wollte nicht, dass er mich ungedeckt erwischte.
Sean fuhr fort und atmete zwischendurch in tiefen Zügen ein. »Dad hat sich an die Brust gegriffen, ist dann die Treppe hochgetaumelt, und ich hatte Angst hochzugehen.«
»Wie lang ist das her?«
Sean versuchte nachzudenken, das Denkvermögen offensichtlich in Fetzen. »Drei Stunden? Länger?«
Ich lauschte: kein Ton.
Ich sagte: »Warten Sie hier, ich gehe nach oben.«
»Es ist das große Schlafzimmer, rechts.«
Ich ging langsam die Treppe hoch, überlegte, ob ich die Pistole ziehen sollte, entschied, es bleiben zu lassen, volles Risiko zu laufen. Ich ging in das Schlafzimmer.
Es hatte eine Velourstapete, dies grässliche Zeug, das schon seit Ewigkeiten die Heime der Armen auskleidet, und an der Wand waren drei fliegende Enten – die mittlere ohne Kopf. Das Bett war kein Doppel-, sondern ein Einzelbett, und das machte mich traurig, ich wusste nicht, warum, wo war denn scheißenochmal groß der Unterschied? Traurig machte es mich trotzdem. Einzelbetten für Erwachsene sind Symbole des Versagens. Die Laken waren dreckig, und ich glaubte nicht, dass sie je wieder gewaschen würden. Bettwäsche? Ich Sorgen um Wäsche? Ich dachte daran, wofür dieser Mann, dieser Vater verantwortlich war, die verbogenen Kinder, die er großgezogen, geschaffen, und die Taten, die er nicht nur geduldet, sondern überwacht hatte. Ich glaubte, dass er Akte von solch ekelerregender Abscheulichkeit ins Werk gesetzt hatte, dass es fast unmöglich war, sich vorzustellen, woran er dachte, wenn er nachts seinen Kopf aufs Kissen bettete. Dachte er an Nora, seine geliebte Frau? Egal, wie sehr er vom Kummer gebeutelt war, egal, wozu die Trauer ihn gemacht hatte, er musste doch wissen, wie entsetzt sie von dem gewesen wäre, was er in ihrem Namen begangen, und, schlimmer, wozu er ihre vergötterten Kinder angestiftet hatte.
Ich flüsterte: »Du übler Schweinehund, du hast den Zorn der Hölle ausgelöst. Hast du gedacht, du könntest ihn kontrollieren? Tja, Kumpel, ich hoffe, dort, wo du jetzt bestimmt bist, ist es heiß genug. Und weißt du was? Ich hoffe, wenn es ein Leben nach dem Tode gibt, wirst du … Nora nie, nie wiedersehen. Ruhe in Unfrieden.«
Sean rief herauf: »Dad, geht es dir gut?«
Ich kam hinunter, und Sean starrte mich an, Entsetzen im Gesicht.
Ich sagte: »Rufen Sie einen Krankenwagen.«
Er bewegte sich nicht.
»Kommt er wieder auf die Reihe?«
»Nein, er ist tot.«
Massiver Herzinfarkt. Er hatte quer über das Bett ausgebreitet gelegen, den Mund in stillem Schrei geöffnet. Sean begann zu jaulen. Ich ging zum Telefon, rief 911 an, ging dann zurück zu Sean und schlug ihm hart ins Gesicht.
»Reißen Sie sich zusammen. Ich muss weg, ich kann nicht hierbleiben. Sagen Sie denen einfach, er ist ins Bett gegangen, Sie waren da, um zu sehen, wie es ihm geht, haben ihn so vorgefunden.«
Er nickte, fragte: »Was ist mit Gail, was werde ich ihr sagen?«
Ich hatte keine Ahnung. Ich sagte: »Das geht dann schon okay, warten Sie einfach und tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«
Ich machte, dass ich da wegkam. Ich konnte eine Sirene hören. Ich war bereits halbwegs die Straße runter, als mir klar wurde, dass ich immer noch die Glock umklammert hielt. Ich sagte zu mir selbst: »Einer gelutscht, bleiben noch zwei.«
Ich kam auf dem Nachhauseweg an fünf Kneipen und zwei Schnapsläden vorbei. Sie sangen mich an wie selten zuvor.
Ich ging weiter.