KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

»Ein guter Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens Gutes hervor; und ein böser Mensch bringt aus seinem bösen Schatz Böses hervor.«

MATTHÄUS 12, 35

 

Ich spürte, dass er mir schon seit ein paar Häuserblocks folgte. Ich hielt an, lehnte mich gegen eine Steinmauer und wartete.

Er kam auf mich zu, sein Gang war wiegender als je zuvor. Ich fragte mich, ob er je wirklich er selbst war, wenn er mit mir zusammen war.

»Was willst du, Phoenix?«

»Ich gehe für eine Weile weg. Ich wollte Auf Wiedersehen sagen.« Er lächelte, aber das Lächeln war leer. Es enthielt nichts.

»Schön, auf Wiedersehen.«

»Wir sind miteinander verbunden, Violet. Das kannst du nicht verleugnen. Du hast mir etwas gegeben, das du nie jemand anderem geben kannst, noch nicht einmal ihm, und ich habe dir einen Teil von mir gegeben, als ich dich geheilt habe. Zwischen uns gibt es ein Band.«

Ich wollte nicht in ein Gespräch darüber verstrickt werden, was zwischen uns passiert oder nicht passiert war.

»Ich bin eine Grigori, Phoenix. Dafür hast du gesorgt. Jetzt, wo ich eine bin, werde ich mich nicht vor meiner Verantwortung drücken. Wenn du Ärger machst, schicke ich dich zurück ins Engelreich.«

»Du meinst, dann tötest du mich.« Seine Lippen zuckten und seine Augen wurden ein bisschen schmaler.

Ich hielt seinem Blick stand und antwortete: »Wenn es sein muss.«

»Das hast du in vielerlei Hinsicht schon getan.«

Eine winzige Sekunde lang glaubte ich, den wahren Teil von ihm zu sehen, von dem ich geglaubt hatte, dass er nicht existierte. Aber kaum dass ich ihn erspäht hatte, war er auch schon weg.

»Jedenfalls«, fuhr er in einem leichteren Tonfall fort, »hat es auch Vorteile, wenn man ein Phoenix ist. Wie es aussieht, kann keiner von uns vor seinem Schicksal davonlaufen.«

Er streckte die Hand aus und ergriff ein paar Strähnen von meinem Haar, die er sich um die Finger wickelte. Ich zog den Kopf zurück, aber er ließ nicht los. Seine kalten Augen blitzten mich an und ich fühlte, wie mir ein Schauer den Rücken hinunterlief. Ich zog wieder, und dieses Mal ließ er mein Haar über seine Hand gleiten. Das erinnerte mich an etwas.

»Die Goldfäden, die um dich herumwirbeln. Sie haben sich in jener Nacht damals auch um mich gewickelt.«

»Ein Erbe meiner Mutter. Ihr Haar war das erste Gold.«

»Wie dein Haar ein Opal ist.«

Er lächelte, aber wieder lag nichts in seinem Lächeln – nur Leere. Nachdem er mich einen Moment lang gemustert hatte, fragte er: »Woher wusstest du, dass sie in dieser Nacht kommen würden? Hast du sie wirklich auf diese Entfernung wahrgenommen?«

»Warum?«, fragte ich ausweichend.

»Ich habe versucht, dahinterzukommen, wie du das angestellt hast. Das waren nicht die normalen Grigori-Sinne – du hast sie mit einem Gesicht gefunden, nicht wahr?«

Ich schaute weg und schwieg, unsicher, was ich jetzt zu ihm sagen sollte und ob ich überhaupt die Antwort darauf wusste. Obwohl ich ihn nicht anschaute, fühlte ich, wie sein starrer Blick auf meiner Haut brannte.

»Hmm … ich wusste es.«

Ich blickte auf. »Was meinst du damit?«

»Nur so eine Theorie. Ich will dich nicht damit belasten«, sagte er provozierend.

»Es sollte mich nicht überraschen, dass du Geheimnisse hast«, schoss ich zurück.

»Ja, wir sollten inzwischen beide unsere Lektion gelernt haben. Und genau wie du dein Schicksal angenommen hast, ist es vielleicht an der Zeit, dass ich meines annehme.« Er deutete auf das Gebäude hinter mir. »Hast du wirklich gedacht, dass dich das beschützen würde?«

Ich wandte mich um und stand vor einer großen Kirche aus Stein. Mir war noch nicht einmal aufgefallen, dass ich vor ihr stehen geblieben war.

Als ich mich wieder umdrehte, war er bereits am Weggehen. Es war ein herrlich klarer Tag, weit und breit keine Wolke in Sicht, und doch schien die Sonne seinen Körper nicht zu erreichen. Ein Schatten lag über ihm und ich konnte nicht anders: Er tat mir leid.

 

Zwei Wochen später stand ich in einem Meer von Menschen in knappen Shorts und Trainingsshirts. Knappe Shorts sollte man verbieten. Selbst an fantastisch aussehenden Typen sahen sie irgendwie fehl am Platz aus.

Ich saß auf einer Bank in der Nähe der Startlinie, um meine Schuhe zu schnüren. Ich spürte ihn, bevor ich ihn sah. Aber es waren nicht die Sinneswahrnehmungen. Es war etwas Menschlicheres.

»Hey«, sagte er. Er setzte sich neben mich.

»Hey.«

»Ich habe mich gefragt, ob du es hierher schaffen würdest.«

Ich lächelte. »Hab ich doch gesagt, oder?«

»Du hast eine ganze Menge gesagt. Wir haben beide eine Menge gesagt.«

»Du wusstest es, nicht wahr? Dass Phoenix ein Engel der Finsternis war.« Noch weitere Puzzleteilchen hatten sich zusammengefügt, seit ich mich aus Phoenix’ Fängen befreit hatte. Es war, als hätte sich ein Nebel aufgelöst – Dinge, die ich damals nicht erkannt hatte, waren nun auf schmerzhafte Art deutlich.

»Ich vermutete es.«

Ich wusste nicht, ob ich je wieder alles in Ordnung bringen konnte, aber irgendwo musste ich anfangen. »Es tut mir leid, Linc, wegen all der schrecklichen Dinge, die ich gesagt … und getan habe.«

Er rückte näher an mich heran, aber nicht so nah, dass wir uns berührten. »Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Das warst nicht wirklich du. Und selbst wenn, hätte ich es verstanden.«

Ich konnte meine Verwirrung nicht verbergen. »Warum bist du dann in dieser Nacht verschwunden?«

Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und schaute zu der Masse der Läufer hinüber, die sich sammelten. »Ich habe dir versprochen, dich zu beschützen. Ich habe dir versprochen, nie wieder zuzulassen, dass dir jemand wehtut. Ich wusste, dass mit Phoenix irgendetwas nicht stimmte, aber ich wurde einfach in alles hineingezogen und er …« Er schüttelte den Kopf. »Das Schlimmste war: Als du verletzt dalagst und ich tatsächlich etwas hätte tun können, um dir zu helfen, war ich nicht da, aber er schon. Ich habe dich immer wieder im Stich gelassen und ich kann nicht von dir verlangen, dass du mir das je verzeihst.« Er sank nach vorne und legte den Kopf in seine Hände.

Ich drehte mich zu ihm, legte ihm sanft die Hand auf das Kinn und wandte sein Gesicht meinem zu. Durch die kleine Berührung flackerten unsere Kräfte auf, erkannten sich gegenseitig. Sein Kinn war rau und unrasiert. Wahnsinnig sexy. »Du hast mich nie im Stich gelassen. Du bist der einzige Mensch in meinem Leben, der immer da war. Ich bin nicht deine Mutter, Linc, du kannst dir nicht für alles die Schuld geben.« Ich holte tief Luft und drückte mir die Daumen. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich dich in meinem Leben haben will … wenn du mich auch in deinem willst?«

Er schaute mich an, seine Augen verrieten alle Dinge, die er nicht in Worte fassen konnte. »Violet, wir …«

Aber bevor er sich in die Diskussion stürzen konnte, in der er mir sagen würde, dass wir nie zusammen sein konnten, hielt ich ihn auf.

»Linc, wie wäre es, wenn wir immer nur einen Tag nach dem anderen angehen würden?«

Er hielt meinem Blick stand und ich konnte erkennen, wie schwer es für ihn gewesen sein musste – sich zurückzuhalten, mich niemals zu ermutigen –, sobald er wusste, was ich empfand. Als er dasselbe empfand. Aber es gab keine andere Möglichkeit für uns. Wir waren Grigori-Partner.

Doch noch während ich mir sagte, dass es eben so war, wie es war, konnte ich nicht anders, als mich an einen Funken Hoffnung in mir zu klammern, der mir zuflüsterte: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

»Einen Tag nach dem anderen«, stimmte er zu.

Im Lautsprecher krächzte eine Stimme, die alles andere übertönte.

»ALLE TEILNEHMER DES RENNENS BITTE ZUM STARTSCHUSS AUFSTELLEN.«

Lincoln stand auf und streckte mir die Hand hin. Ich nahm sie. Kraft brandete zwischen uns auf, wodurch wir bestätigt wurden, dass wir gemeinsam stärker waren. Besser. Ich konnte sehen, dass er – genau wie ich – ein Lächeln unterdrückte.

»Bist du bereit?«

Er zog mich auf die Füße.

»Ja.«

Und das war ich tatsächlich.

 

Einen Marathon zu laufen, wenn man mehr Kraft und Ausdauer hat als normal, kann eine gewaltige Versuchung darstellen. Aber abgesehen davon, dass wir ein paar Mal über die Stränge schlugen, benahmen wir uns. Es gab Wichtigeres auf der Welt, als ein Rennen zu gewinnen, und es stand zu viel auf dem Spiel, um eine Enttarnung zu riskieren.

Steph und Dad warteten an der Ziellinie. Ich musste unwillkürlich lachen, als ich ihre Gesichter sah, nachdem sie bemerkt hatten, dass Lincoln mit mir lief. Dad war einfach nur froh, dass es nicht Phoenix war. Er war in wesentlich heiterer Stimmung gewesen, seit ich ihm mitgeteilt hatte, dass Phoenix nicht mehr bei uns herumhängen würde.

Nach einigen Schulterklopfern fing Dad – wie vorauszusehen war – damit an, dass er wieder zurück ins Büro musste. Bevor er aufbrach, umarmte er mich. »Ich bin stolz auf dich, Liebes. Du erinnerst mich an deine Mum. Sie wäre ebenfalls stolz auf dich.«

Ich umarmte ihn auch und blinzelte das Brennen aus meinen Augen weg. Ich hoffte, dass er recht hatte.

Steph und ich gingen zur Feier des Tages noch etwas trinken. Ich war beeindruckt, dass sie sich nur zweimal darüber beklagte, am ersten Sonntag nach den Prüfungen schon vor sieben Uhr aufgestanden zu sein. Als ich Lincoln gefragt hatte, ob er uns nicht begleiten wollte, hatte er gesagt, dass er noch etwas erledigen müsste. Außerdem erinnerte er mich daran, dass es in seiner Lagerhalle eine Wand gab, auf der mein Name stand. Steph verdrehte die Augen und warf, immer wenn sie mein strahlendes Lächeln sah, mit Jesus-Maria-Ausrufen um sich.

Als ich nach Hause kam, stand eine vollkommen aufgeblühte weiße Lilie vor meiner Tür, an deren Stängel ein Notizzettel baumelte.

Training, morgen 6:00 Uhr. x