KAPITEL ZWÖLF

»…selbst die Engel würden das gern schauen.«

PETRUS 1, 12

 

Am ersten Tag saß ich am Kopfende meines Bettes und schaute aus dem Fenster. Ohne dass man mich von draußen sehen konnte. Lincoln lehnte zwölf Stockwerke weiter unten an der Bushaltestelle. Er wartete auf mich. Es war genau 6:30 Uhr – die Zeit, zu der wir uns jeden Tag trafen. Ich hatte für unsere frühmorgendlichen Joggingrunden zur Bedingung gemacht, dass er Kaffee mitbrachte und wir den ersten Kilometer zu Fuß gingen, damit ich ihn trinken konnte. Ich umklammerte fest meine Knie und beobachtete, wie er über eine Stunde lang dort stand. Wartete. Den Kaffee in der Hand. Schließlich warf er den Becher in die Mülltonne, schaute zu meinem Fenster herauf und ging.

Am zweiten Tag regnete es, aber da war er wieder, um 6:30 Uhr. Mit Kaffee. Er stellte sich nicht im Buswartehäuschen unter. Über eine Stunde lang stand er am selben Platz wie immer und beobachtete mein Fenster. Ich saß im Bett – ich hatte es seit dem Vortag nicht mehr verlassen – und versuchte erfolglos, mein Buch zu lesen. Als er den Kaffee in den Mülleimer fallen ließ und im Nieselregen davonging, wanderte meine Hand an die kalte Fensterscheibe. Dort ließ ich sie noch lange, nachdem er gegangen war.

Am dritten Tag starrte ich auf meinen Wecker. 6:30 Uhr kam und ging. Um 7:00 Uhr schwang ich mich aus dem Bett. Ich duschte sogar und zog mich an. T-Shirt, Leggins und Laufschuhe. Nicht dass ich vorgehabt hätte zu laufen. Ich tigerte in der Küche herum, kochte Kaffee, trank ihn aber nicht. Schließlich griff ich nach meinen Schlüsseln und verließ die Wohnung. Draußen war es frisch und klar. Es würde heiß werden. Ich schaute in beide Richtungen, bevor ich meinem Blick gestattete, zur Bushaltestelle zu wandern. Eine alte Dame saß dort und strickte etwas, das auf erschreckende Weise so aussah, als würde es zu diesem fürchterlichen grünen Dings passen, das sie um die Schultern trug. Aber das war alles. Er war schon weg. In der Nähe der Stelle, wo er immer auf mich wartete, klemmte in der Ecke einer Leiste ein Coffee-to-go-Becher. Ich machte einen Schritt darauf zu, um die Worte lesen zu können, die seitlich daraufgeschrieben waren. Nur drei Worte.

»Ich vermisse dich auch«, flüsterte ich.

 

Fest entschlossen, mich nicht noch einen weiteren Tag lang zu verbarrikadieren und mich zu verstecken, machte ich einen Spaziergang und landete schließlich in einem Café. Kaffee gehörte zu den Dingen, die mich niemals enttäuschen würden. Ganz zu schweigen davon, dass ich nichts zu essen im Haus gehabt hatte, es sei denn, zwei Wochen alte Reste vom Chinesen zählten. Ich war am Verhungern.

Das Café, das Dough to Bread hieß, war vollgestopft mit schicken City-Leuten, die sich hier eine Kleinigkeit zum Frühstück und einen Kaffee genehmigten. Hinten gab es ein Dutzend kleinerer Tische, die etwa zur Hälfte belegt waren. Ich setzte mich an einen, der ganz hinten stand, sodass ich so weit wie möglich von dem Trubel entfernt war und trotzdem alles beobachten konnte. Ich musste mich auf etwas anderes konzentrieren als auf die bröckelnden Fundamente meiner Welt.

Ich bestellte eine Latte macchiato und Kürbissuppe mit einem knusprigen Brötchen. Der Kellner bedachte meine Wahl mit einem missbilligenden Blick, den er mir von hinter seinem Notizblock zuwarf. Es scherte mich einen Dreck, was er dachte. Ich brauchte Trost, und wenn auch nur die geringste Chance bestand, dass eine Suppe-Kaffee-Frühstück-Kombi es tun würde, dann immer her damit.

Ich lehnte mich zurück und beobachtete das Durcheinander. Vermutlich kamen jede Woche dieselben Gäste hierher, dieselben Kellner ignorierten sie und die gleichen Schnaufer und das gleiche Murren gingen hin und her. Es war beinahe beruhigend, von so einem oberflächlichen Chaos umgeben zu sein.

Ich zog mein Kunst-Tagebuch heraus und versuchte, ein paar Skizzen zu machen, aber ich wurde dauernd von der Familie abgelenkt, die in der Nähe von mir saß. Er las seine Morgenzeitung. Sie fütterte das Kleinkind mit Toaststücken mit Marmelade, und die Kleine ging dazu über, das Ganze über ihr Gesicht und die Wand hinter ihr zu verteilen. Die Frau lachte, wenn die Kleine quietschte, und er konnte nicht anders, als alle paar Sekunden über den Rand seiner Zeitung zu spähen und den Anblick zu bewundern.

So sollte das sein. Zwei Menschen lernen sich kennen, verlieben sich ineinander und tun dann ganz normale Dinge. Ich wusste jetzt, dass ich nie wieder etwas Normales haben würde, schon gar nicht mit Lincoln. Er war ein Grigori und er war es gern. Man merkte ihm an, dass es nicht nur eine Beschäftigung für ihn war, sondern eine Berufung. Es war grausam, mit dieser Erkenntnis konfrontiert zu werden; mit der Erkenntnis, dass ich ihn so sehr gemocht und doch von der einen Sache nicht gewusst hatte, die ihn ausmachte. Ich hatte ihm alles über mich anvertraut, und im Gegenzug waren mir noch nicht einmal die Highlights verraten worden.

Ich versuchte, mich wieder abzulenken, und bemerkte einen Typ, der auf der anderen Seite des Raumes saß. Er schaute in meine Richtung und ich erwischte ihn dabei, wie er mich anschaute, bevor sein Blick weiterhuschte. Er kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht einordnen. Sein Haar faszinierte mich – auf den ersten Blick war es schwarz, aber dann sah ich, dass noch andere Farben durchschimmerten, Violett – und Silbertöne. Es erinnerte mich an einen ungeschliffenen Opal. Ich fragte mich, wie einem Friseur eine so komplizierte Mischung aus Strähnchen gelingen konnte. Es war schön und … affig.

Er schaute mich direkt an. Shit. Dieses Mal war ich beim Gaffen ertappt worden. Ich wandte meinen Blick ab und schaute auf den Tisch. Glücklicherweise kam meine Suppe und bot die perfekte Ablenkung. Vielleicht hatte da draußen doch jemand Erbarmen mit mir.

Ausgehungert tunkte ich Brötchenstücke in die Suppe, die ich mir in den Mund schob, und hörte nur auf damit, um noch eine Schicht Salz und Pfeffer über die Suppe zu streuen. Eine Schwäche von mir. Ich war schnell fertig mit dem Essen, wobei ich mich freute, so etwas vollkommen Einfaches zu tun wie zu essen. Ich fragte mich, was für einen angewiderten Blick mir der Kellner zuwerfen würde, wenn ich noch eine Portion bestellte.

Als er herüberkam, um das Geschirr abzuräumen, begnügte ich mich damit, noch einen Kaffee zu bestellen. Ich konnte sonst nirgends hin. Ich riskierte einen weiteren Blick zu dem Typ mit den Opal-Haaren. Er beobachtete mich und unsere Blicke trafen sich erneut. Normalerweise würde ich schnell wegschauen, aber irgendetwas hatte er an sich.

Er stand auf, den Blick immer noch auf mich gerichtet, und kam in meine Richtung. Shit, Shit, Shit. Meine Gedanken überschlugen sich, während ich mir überlegte, was ich sagen konnte, damit er wegging. Solche Momente hatte ich immer gehasst. Ich bin nicht der Typ, der einfach so mit einem Fremden quatscht. Dann war er da, stand direkt vor mir und mir war immer noch nicht eingefallen, was ich zu ihm sagen könnte.

Er war überraschend groß, trug Jeans und ein dunkelgraues T-Shirt. Er räusperte sich und ich wurde rot. Ich gaffte ihn an, nicht weil ich völlig hingerissen von ihm war; ich hatte überhaupt kein Interesse an ihm. Aber dieses Haar … und noch etwas … hatten eine Wirkung auf mich.

»Ich bin Phoenix«, sagte er mit einem wissenden Lächeln. »Ich dachte mir, wir könnten uns einen Tisch teilen.« Er deutete auf die anderen Tische, die nun überwiegend voll besetzt waren. »Es scheint voller zu werden, und da wir beide allein sind …« Er lächelte verhalten und kniff ein wenig die Augen zusammen, als wollte er mich dazu bewegen, Ja zu sagen.

Ich biss nicht an. »Hör mal … Phoenix? Ich habe eine Woche hinter mir, die aus dem Stoff bestand, aus dem Albträume gemacht sind. Im Moment bin ich die schlechteste Gesellschaft der Welt.« Ich schaute wieder auf meine Hände hinunter, die auf dem Tisch ruhten, und wünschte mir ganz fest, er möge verschwinden.

Er zog den Stuhl neben mir unter dem Tisch vor, setzte sich aber nicht darauf. »Ich könnte mich einfach hier hinsetzen und meinen Kaffee zu Ende trinken. Du könntest mich ignorieren. Wenn dir das gelingt.«

Ich blickte auf und er lächelte. Er war nett … und gleichzeitig auch wieder nicht. Eines war sicher – er wollte mich in eine Ecke treiben.

»Wie auch immer – aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, murmelte ich.

Er lächelte siegesgewiss und setzte sich neben mich.

»Phoenix also?«, fragte ich verlegen.

»Ja.« Er lächelte zwar nicht mehr, aber irgendetwas in der Art, wie er mich anschaute, sagte mir, dass er mich amüsant fand.

»Wie der Vogel? Geht in Flammen auf und ersteht aus der Asche?«

»Sieht nach einem Teufelskreis aus, nicht wahr? Zum Glück bin ich an ein bisschen Feuer gewöhnt.« Er zwinkerte. Bitte.

»Jetzt, wo du alles über meinen Namen weißt – findest du nicht, dass es an der Zeit wäre, mir deinen zu verraten?«, sagte er.

»Oh, sorry. Ich bin Violet.«

Ein unangenehmes Schweigen senkte sich über uns. Vielleicht würde er sich langweilen und weggehen, wenn ich einfach nichts mehr sagte. Ich begann, die Zuckertütchen in ihrem Halter zu zählen. Zwölfmal weißer Zucker, achtmal brauner und dreimal Süßstoff.

»Eine Woche voller Albträume klingt ziemlich übel. Wenn sie so sind wie meine Albträume, dann muss es grauenerregend gewesen sein.« Er sprach im Plauderton, so als wären wir alte Freunde. Das irritierte mich.

Ich versuchte, taff zu klingen, scheiterte aber. »Du machst dir keine Vorstellung. Ich hatte ja nicht die geringste Ahnung, wie weit ›grauenerregend‹ gehen kann.« Ich senkte den Blick, weil ich nicht wollte, dass er sah, wie mir Tränen in die Augen stiegen.

»Du wärst überrascht«, sagte er selbstsicher.

Ja, ja, jeder hatte doch mindestens eine Horrorgeschichte in petto.

»Wer ist er?«

Mein Kopf ruckte nach oben. »Wie bitte?«

»Wer – ist – er?«, wiederholte er. »Keiner Frau geht es so schlecht, ohne dass nicht ein Typ mindestens einen Teil davon verursacht hätte.«

Es gefiel mir, dass er mich als Frau bezeichnete und nicht als Mädchen, besonders weil er aussah, als wäre er um die zwanzig. Aber es war nicht schön zu hören, dass es für einen völlig Fremden so offensichtlich war, wie schlecht es mir ging. Zurschaustellungen von Schwäche waren nicht gerade mein Lebensziel.

»Es ist kein …« Ich stieß einen langen Seufzer aus. »Lincoln.«

»Hat er dich verraten?«

»Verraten?«

»Ja. Hat er dein Vertrauen missbraucht? Dich in die Irre geführt? War er grausam zu dir? Hat er dich im Stich gelassen?« Bei jeder Option wedelte er mit der Hand von einer Seite zur anderen. »Natürlich könnte ich auch fragen, ob er fremdgegangen ist, aber wir wissen beide, dass er das nicht getan hat. Vielleicht hat er dich angelogen, die Art von Lüge, die die Art und Weise verändert, wie du die Dinge siehst. Weißt du, als wenn eine Maske fallen würde und nichts übrig bleibt als die schreckliche Wahrheit. Es gibt vieles, was er getan haben könnte … Ich tippe auf Vertrauensbruch. Täusche ich mich?« Seine Augen weiteten sich.

Woher wusste er, dass Lincoln nicht fremdgegangen war? Wie konnte er überhaupt etwas davon wissen? Es war, als hätte er mir ins Herz geblickt und all meine Gefühle herausgezerrt. Woher kam dieser Typ plötzlich? So redete doch keiner.

Der Kellner kam mit meinem zweiten Kaffee, noch eine perfekte Ablenkung.

»Danke«, sagte ich. Und das nicht nur in einer Hinsicht!

Ich riss ein Zuckertütchen auf und rührte den Zucker in den Kaffee, wobei ich beides in die Länge zog. Es fühlte sich an, als hätte Lincoln all die Dinge getan, die Phoenix erwähnt hatte. Von all den Dingen war jedoch Vertrauensbruch das, was am besten zutraf.

»Sagen wir einfach mal, ich habe eine dieser schrecklichen Wahrheiten herausgefunden.«

»Und siehst du selbst dich jetzt anders?«

»Ja«, gestand ich.

»Siehst du ihn jetzt auch anders?«

»Die Frage ist ein bisschen … persönlich.«

»Da stimme ich dir zu, aber sie war nicht persönlicher als die Frage davor. Ich würde mich entschuldigen, aber andererseits ist es nur höflich, wenn ich mich danach erkundige, ob du schon vergeben bist, bevor ich …« Er lächelte vielsagend.

Mir schnürte sich die Kehle zu. Damit hatte ich nicht gerechnet. Verlegen rutschte ich auf meinem Stuhl herum und versuchte, mir etwas Schlüssiges einfallen zu lassen.

Phoenix lächelte und genoss mein Unbehagen. Und dann dämmerte es mir plötzlich und die Worte schlüpften aus meinem Mund, bevor ich sie zurückhalten konnte.

»Du warst gestern Abend im Hades!«

Er klopfte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich fragte mich schon, wann du dich an unseren Tanz erinnern würdest. Normalerweise vergisst man mich nicht so leicht.«

Ich ignorierte den Kommentar. Ich würde mich nicht von seinem großen Ego ablenken lassen. »Irgendwie komisch, oder? Dass wir uns heute wiedersehen.«

»Ja, komisch, oder?«, war alles, was er sagte. Völlig unbeeindruckt.

Ich legte die Finger um meinen Kaffeebecher und führte ihn langsam an den Mund, um Zeit zu gewinnen. Ich stutzte, als ich spürte, wie ein Vibrieren von Energie meinen Körper durchlief. Es war genauso, wie als ich Lincolns Armband gehalten hatte. Es ging vorbei, aber ebenso schnell wurde mir der Mund wässrig, wie es manchmal geschieht, bevor ich mich übergeben muss. Rasch setzte ich den Kaffee ab und ließ meinen Blick auf der Suche nach der Toilette durch den Raum schweifen. Dabei ging dieses Gefühl vorüber und wurde durch den Geschmack von … Äpfeln ersetzt. Er rollte durch meinen Mund wie fließender Strom. Ich schluckte und er verschwand.

»Violet?«, fragte Phoenix und betrachtete mich neugierig.

Es brauchte einen Augenblick, bis ich einen kläglichen Versuch unternahm, es wegzulachen. »Sorry, ich hatte gerade nur so ein Déjà-vu.«

»Was für eine Art Déjà-vu?« Seine Augen wurden schmal.

»Lach nicht, aber es kam mir gerade vor, als hätte ich von einem Apfel abgebissen. Seltsam, was?«, sagte ich und stieß ein zittriges Lachen aus.

Er lächelte ein geheimnisvolles Lächeln, das mich schaudern ließ. »Ich bin bekannt dafür, dass ich diesen Effekt manchmal hervorrufe.«

Ich wusste nicht, ob er den Apfel meinte oder ob er mein Schaudern bemerkt hatte. Wie dem auch sei – plötzlich zog sich mein Magen unbehaglich zusammen.

Ich schüttelte mir das Haar aus dem Gesicht und setzte mich mit gezwungenem Lächeln ein wenig auf. »Würdest du mir deine Hand geben? Nur eine Sekunde.«

Ich hatte versucht, lässig zu klingen, aber es kam ein wenig schrill heraus. Er erstarrte. Irgendetwas stimmte nicht. Er versuchte, es mit einem weiteren Lächeln zu kaschieren, aber es war nicht das gleiche lockere, relaxte Lächeln – es war nervös. Ich hatte ihn nervös gemacht.

»Klar … wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein.«

»Was?« Das Wort »seltsam« war nicht stark genug für diesen Typ. Aber er saß da und wartete geduldig, die Hände in den Schoß gelegt.

»Warum?«, fragte ich.

»Warum möchtest du meine Hand halten?« Er sang die Worte beinahe.

Ich knirschte mit den Zähnen. »Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein.«

Er lächelte, als hätte er einen kleinen Sieg davongetragen. Er legte seine rechte Hand mit der Handfläche nach oben auf den Tisch. Es gab kaum eine Erklärung dafür, weshalb ich den Drang spürte, ihn zu berühren. Es war nichts Sexuelles, auch wenn ich kaum atmen konnte in der dicken Wolke sexueller Spannung, die ihn umgab. Es war etwas Anderes, ein Verdacht, den ich nicht erklären konnte.

Ich bewegte langsam meinen Arm auf seine wartende Hand zu. Ich senkte die Hand so flach wie seine. Ich fühlte es in dem Moment, als wir uns berührten. Dasselbe Vibrieren floss von seiner Hand in meine, der Geschmack von Äpfeln war so süß, dass ich beinahe würgen musste, als er meine Kehle hinunterrieselte.

Ich riss die Hand zurück und Anschuldigungen flogen aus meinem Mund. »Wer bist du? Bist du einer von ihnen? Hat Lincoln dich geschickt?« Der blanke Zorn auf Lincoln brodelte an die Oberfläche. Ließ er mich jetzt schon verfolgen?

Phoenix lächelte, zog ebenfalls seine Hand zurück und rieb sie an seiner Jeans. »Einer von ihnen? Das musst du mir schon genauer erklären, es gibt heutzutage so viele ›ihnen‹. Aber, nein, Lincoln hat mich nicht geschickt, da kannst du sicher sein.« Ich hatte langsam die Nase voll von seinem herablassenden Grinsen. Ich fand das alles gar nicht witzig.

Ich wurde deutlicher. »Bist du ein Grigori?«

»Nein.« Er lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück, schlug die Beine an den Knöcheln übereinander und streckte sie aus.

»Aber ich habe dich gespürt.« Dieses Mal flüsterte ich.

Er seufzte. »Sind es wirklich Grigori, von denen es heißt, dass ihr die Fähigkeit besitzen sollt, sie wahrzunehmen?«

Angst umfing mich wie ein alter Feind, der mich gut kannte. Meine Stimme wurde so leise, dass nur noch meine Lippen das Wort formten. »Engel.«

Er starrte mir mit einer beängstigenden Ruhe direkt in die Augen, sein Lächeln war verschwunden. »Das war ich einmal. Einer, der nur als Freund gekommen ist. Ich bin keine Bedrohung.«

Oh..Klar. Da fühle ich mich doch gleich besser.

Ohne nachzudenken stand ich auf und der Stuhl kippte krachend auf den polierten Zementfußboden. Alle schauten von ihren Tischen auf und glotzten mich an. Rasch hob ich ihn auf und wäre dabei fast darüber gestolpert. Ich warf für den Kellner einen Zwanziger auf den Tisch, was viel zu viel war, und rannte davon. Ich hatte mein Kunst-Tagebuch vergessen. Vergiss das Tagebuch!

Ich ging quer durch den botanischen Garten nach Hause. Eigentlich wollte ich rennen, zwang mich aber zu gehen. Ich wollte bei den Grüppchen Obdachloser, die meinen Pfad säumten, nicht die falsche Art von Aufmerksamkeit erregen. Ich brauchte nicht noch mehr Überraschungen. Auf dem ganzen Weg warf ich immer wieder einen prüfenden Blick über die Schulter. Niemand folgte mir.

Ich schoss durch die Eingangshalle unseres Gebäudes und geradewegs in den Aufzug. Noch nie war ich so erleichtert gewesen, die Nummer zwölf zu drücken. Die Türen öffneten sich auf unserer Etage und ich trat hinaus.

An der Wohnungstür stand Phoenix und schwenkte mein Kunst-Tagebuch zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Spannung, die gerade erst abgefallen war, kam mit niederschmetternder Geschwindigkeit zurück. Wie konnte er vor mir hier sein?

»Was machst du hier?«, sagte ich, noch immer keuchend von meinem Speedwalk nach Hause. Er sah alles andere als abgehetzt aus.

Er winkte mit meinem Kunst-Tagebuch und lächelte, weil ihm klar war, dass er einen Vorwand gefunden hatte, mich wiederzutreffen. Wir wussten beide, dass das totaler Quatsch war, aber das schien er nur umso amüsanter zu finden.

»Wie hast du herausgefunden, wo ich wohne?«, wollte ich wissen. Die Türen des Aufzugs gingen hinter mir zu. Am liebsten wäre ich wieder eingestiegen und davongelaufen. Er ist bei mir zu Hause. Verfolgte er mich?

Sein Mund verzog sich in schuldbewusstem Vergnügen. »Ich gestehe, dass ich dich schon früher in dieses Gebäude habe kommen sehen. Ich wusste nicht, in welcher Etage du wohnst, aber der Portier war so freundlich, es mir zu verraten.«

Großartig. Dem Portier würde ich später den Marsch blasen. Er war ein netter Typ, aber was Gebäudesicherheit anging ein totaler Versager.

»Fairerweise muss man sagen, dass ich sehr überzeugend sein kann«, sagte Phoenix, als hätte er meine Gedanken erraten. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jeden einfach so nach hier oben lassen würde.« Meine Panik schien ihn zu erfreuen.

»Du bist mir gefolgt.« Mein Mund war trocken, und obwohl ich versuchte, meine Stimme fest klingen zu lassen, wusste ich, dass ich ihm nichts vormachen konnte.

»Nicht gefolgt, ich habe nur auf eine Gelegenheit gewartet, mich vorzustellen. Es ist nicht leicht, dich allein zu erwischen.«

Er war so relaxt, während ich total versteinert war, und er wusste, dass er die Situation total unter Kontrolle hatte. Ich tat das Einzige, was ich konnte – ich ließ meinem Zorn freien Lauf.

»Genug! Du sagtest, du wärst keine Bedrohung, aber du bist ein Verbannter!« Nach allem, was Griffin sagte, konnte man Verbannten nicht über den Weg trauen.

»Nicht alles ist schwarz-weiß, Violet. Glaub nicht alles, was man dir sagt. Ich bin … ich passe in keine von deinen kleinen Schubladen. Wie dem auch sei – wenn ich dich hätte verletzen wollen, dann hätte ich das schon längst gemacht.« Der Typ hatte eindeutig nicht viel Übung in der Kunst des Beruhigens.

»Warum folgst du mir dann?«, stotterte ich.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Folgen? Nein. Ich habe dich gestern Abend im Hades wahrgenommen. Ich witterte dich gleich, als du hereinkamst. Ich wollte dich … kennenlernen.«

»Du verfolgst mich also seit meinem Geburtstag!«

Er lehnte sich gegen unseren Türrahmen. »Ja. Und bevor du fragst, ja … ich habe es gesehen. Die besten Küsse sind immer die, die uns überrumpeln.« Versonnen starrte er ins Leere. Ich wollte gar nicht wissen, was er sich in diesem Augenblick vorstellte.

»Du hast zugeschaut?« Ich war angewidert, wurde aber auch rot.

»Normalerweise bevorzuge ich eine etwas aktivere Rolle, aber …«, er grinste verschlagen, »alles zu seiner Zeit.«

Er spielte mit mir, köderte mich. Ich richtete mich auf und starrte herausfordernd zurück. Ich laufe nicht weg.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich – ich war mir nicht sicher, aber er sah aus, als wäre er überrascht. Sein Blick fixierte meinen und ich konnte kaum wegschauen. Je länger ich ihn anstarrte, desto mehr fühlte ich, wie sich meine Zweifel verflüchtigten. Ich war mir so sicher gewesen, dass ich mich von diesem Typ, diesem Verbannten, fernhalten musste, aber wenn ich ihm in die Augen schaute … nahm meine Angst so weit ab, dass ich mich dabei ertappte, wie ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen konnte, dass er gefährlich sein könnte. Ich war mir meiner bisherigen Befürchtungen zwar noch immer bewusst, aber mit jeder Sekunde schwanden sie ein wenig mehr. Das war verwirrend, und während ich spürte, dass er immer mehr Selbstvertrauen gewann, wurde ich immer unsicherer. Vorsichtshalber versuchte ich, wachsam zu bleiben.

»Ich bin kein Grigori«, platzte ich heraus. »Ich habe nur dieses Engelwesen-Dings. Du musst gehen. Sofort.« Ich erwiderte seinen funkelnden Blick. Er blickte auf mein Kunst-Tagebuch in seiner Hand hinunter und hob es dann langsam hoch, um es mir zu geben. Zögernd machte ich einen Schritt in seine Richtung, und dabei schien die Wirklichkeit um mich herum plötzlich ins Wanken zu geraten. Ich konnte Flügelschlagen hören und das Zusammenstoßen von Blättern. Das war friedlich, brutal und gespenstisch zugleich. Übertönt wurde das Ganze von meinem Herzschlag, der hämmerte, als würde ich ihn durch ein Stethoskop hören. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und blickte zu ihm auf.

Seine Augen, die so braun waren, dass sie schwarz wirkten, hefteten sich auf mich und zogen mich in ihren Bann. Ich sah Traurigkeit in ihnen aufflackern. Sie durchdrang meinen Körper und hüllte mich in Schmerz. Seinetwegen tat mir das Herz weh, als wäre es mein eigener Kummer. Meine Hand zuckte an meine Brust, als ich die Tiefe seines Leids erkannte, und ich schluckte schwer. Dann war der Blick verschwunden und wurde durch etwas anderes ersetzt. Verlangen …?

Mit erbarmungsloser Macht wischte es die Traurigkeit fort. Ich fühlte es, als wäre es mein eigenes Verlangen … nach ihm. Ich beugte mich zu ihm und griff nach der Kante meines Tagebuchs. Durch die Verbindung spürte ich das Summen von Energie. Dann legte es sich irgendwie.

Langsam zog er das Tagebuch zu sich und gab mir Zeit, die Hand wegzuziehen, falls ich das wollte. Ein Teil von mir wollte es, wusste, dass ich es tun sollte. Aber ich tat es nicht. Da war eine Verbindung, die ich nicht erklären konnte.

Als nur noch wenige Zentimeter zwischen uns lagen, streckte er seine andere Hand aus und legte sie flach auf mein Schlüsselbein. Ich atmete tief ein. Es fühlte sich an, als hätte er mich genau an der Stelle berührt, wo er die größte Wirkung erzielte. Es schien intimer als alles, was er sonst hätte tun können. Das Summen auf meiner Haut fühlte sich an wie winzige Blitzschläge, nur dass sie nicht wehtaten. Nicht einmal annähernd wehtaten.

Ich wusste, dass seine Hand jetzt einfach nach oben wandern und zudrücken könnte. Ich war mir sicher, dass er die Kraft hätte, mir das Genick zu brechen, aber ebenso sicher war ich mir, dass er das nicht tun würde. Er bewegte sich auf mich zu, um mich zu küssen. Ich hörte auf zu atmen. Gerade als seine Lippen die meinen berühren wollten, hielt er inne, atmete tief ein und flüsterte: »Du riechst nach Apfel. Es ist so …« Seine Lippen waren ganz nah an meinen, mit jedem Wort konnte ich das Vibrieren seiner Stimme fühlen und die Wärme seines Atems – er roch nach Vanille. Ich stand erstarrt da, wartete. Seine Hand wanderte langsam von meinem Schlüsselbein hinauf zur einen Seite meines Gesichts. Ich spürte, wie mein Körper reagierte, was nicht gerade hilfreich war.

Er flüsterte wieder. »Ich nehme nichts von dir, Violet. Du wirst diejenige sein, die mich küsst.« Er trat zurück und lächelte, als wüsste er genau, was für eine Wirkung er auf mich hatte. »Wenn du es am meisten willst.«

Meine Knie waren so zittrig, dass ich nicht wusste, wie ich immer noch aufrecht stehen konnte. Langsam ließ er das Tagebuch los und wich zurück, wobei er den Weg zur Wohnungstür mit einer schwungvollen Handbewegung freigab.

»Es tut mir leid, dass ich uneingeladen zu dir nach Hause gekommen bin. Ich werde dich in …« – er lachte kurz auf – »Ruhe lassen.« Er öffnete die Tür zum Treppenhaus.

»Es gibt einen Aufzug«, sagte ich wie auf Autopilot.

»Zu langsam.« Er lächelte und fügte hinzu: »Du bist nicht wie die anderen, Violet. Du strahlst Macht aus. Wenn du dich vor ihr versteckst, wird sie dich bestrafen.«

»Sie sagten, ich hätte die Wahl«, sagte ich schnell.

»Natürlich. Aber Wahl und Konsequenzen sind nicht für alle gleich. Ich vermute, dass es nicht einfach sein wird, deine Macht zu ignorieren. Ein Engel, der ein solch starkes Wesen übertragen kann, muss darauf vertraut haben, dass du es annimmst. Auf Wiedersehen, Violet … bis bald.« Dann war er verschwunden.

Ich stand reglos da. Er hätte mich fast geküsst. Und ich hätte es zugelassen! Was passierte mit mir? Das waren die ersten Gedanken, die mir in den Kopf trudelten, und sie waren die Steinchen, die die Lawine ins Rollen brachten. Dieser Tag, diese Woche, mein ganzes Leben tobte mir durch den Kopf und zerrte an meinen Gefühlen. Gedanken, die ich versucht hatte zu ignorieren, brachen durch meine geschwächte Abwehr. Würde ich je das Leben, wie ich es kannte, zurückbekommen? Benutzte mich Lincoln? Und vielleicht das Schlimmste von allem – hatte mir meine Mutter das alles angetan?

Ich fiel auf die Knie. Ich konnte nicht atmen. Als sich mir die Sicht vernebelte, hörte ich, wie die Tür aufging. Ich hatte keine Zeit zu schauen, wieso, denn plötzlich war da … nichts.