KAPITEL SIEBENUNDDZWANZIG

»Du erinnerst mich,
bestimmst mich,
manipulierst mich.
Wenn du stürbest,
stürbe ich.«

LEMN SISSAY

 

Ich landete auf etwas Hartem. Meine Augen öffneten sich abrupt, während ich weiterhin scharfe, brennende Atemzüge einsog. Winzige Wassertröpfchen befeuchteten mein Gesicht. Halb saß ich, halb lag ich auf dem hölzernen Lattenrost eines … Liegestuhls?

Dunkle, unheilvolle Nacht umgab mich. Ich blinzelte, um mich dem schwachen Licht anzupassen. War ich ohnmächtig geworden? Wie war ich hierhergekommen?

Langsam wurde meine Umgebung sichtbar. Zu meiner Rechten stand ein Edelstahltisch. Darauf ein Glas Wasser. Ein leichter Regen fiel. Ich war klatschnass. Hatte ich mir das Wasserbecken eingebildet und war nur vom Regen nass? Unsicherheit umwob mich. Ich setzte mich auf und schwang die Beine zur Seite. Dabei kam ein weiterer Liegestuhl in Sicht – und darauf lag ein Mann, der mir sofort bekannt vorkam.

Meine Wut sprühte Funken. »Ist das eine Art Spiel für dich? Gibt dir das den Kick, mit meinem Leben zu spielen? Nun, herzlichen Glückwunsch, ich habe dein blödes Wasser gefunden und wäre dabei fast draufgegangen!«, schrie ich hustend und prustend.

Ich konnte ihn in der Dunkelheit lächeln sehen, seine Zähne waren bestürzend weiß. Meine Hände griffen nach den Seiten des Stuhles und mein Magen kribbelte. Uri hatte nicht gelächelt.

»Ich sehe, du hast meinen Bruder getroffen. Er hat dich Wasser suchen geschickt, nicht wahr? Klingt ganz nach ihm. Vorhersehbar.« Seine Oberlippe zuckte an einem Ende.

Ich spähte in die Dunkelheit. Er sah genau wie Uri aus, aber wenn man genauer hinsah, entdeckte man Unterschiede. Uri hatte sich, so wie es aussah, seit Tagen nicht mehr rasiert, der Mann hier vor mir war glatt rasiert. Uri trug eine legere Hose und ein Hemd; dieser Mann sah aus, als käme er direkt aus einer Sitzung. Sein Anzug war schwarz und perfekt geschnitten. Er trug ein frisches weißes Hemd, das im Mondlicht schimmerte und am Hals fest von einer silbernen Krawatte gehalten wurde. Ich blickte nach unten; seine schwarzen Lackschuhe spiegelten die Nacht, und der Sand unter ihnen war vollkommen ruhig, so als fürchtete er sich davor, sich zu bewegen. Zweifellos sah er genau wie Uri aus, aber es war nicht derselbe Mann – und wir waren noch immer in der Wüste.

»Du bist ein Engel der Finsternis«, flüsterte ich und wünschte, ich wäre körperlich in einem besseren Zustand, um mich verteidigen zu können. Doch auch wenn ich es geschafft hatte, mich in eine sitzende Position zu bringen, wusste ich, dass ich schwer in Verlegenheit kommen würde, wenn ich versuchte, aufzustehen. Ganz zu schweigen von kämpfen … oder wegrennen.

»Ich bevorzuge Engel des Bösen und dann ist da natürlich noch mein Name. Ich heiße Nox.« Er streckte mir nicht die Hand hin, wie Uri es getan hatte. Ebenso wie Uri fühlte er sich von mir abgestoßen, aber er konnte es schlechter verbergen. Oder machte sich nicht die Mühe.

Ich warf einen raschen Blick über meine Schulter zu dem Glas Wasser auf dem Tisch.

»Durstig?«, fragte er kurz angebunden.

Ich wollte es verneinen, aber ich war noch immer hoffnungslos ausgedörrt.

»Ja«, gab ich zu.

»Bitte«, er schwenkte die Hand in Richtung Tisch. »Bedien dich.«

Ich beugte mich ein wenig vor und spürte, wie meine Beine heftig zitterten. Ich würde nicht aufstehen können, ohne hinzufallen.

»Kann ich helfen?«, fragte er. Dieselben Worte, die Uri benutzt hatte, aber dieses Mal hinterließen sie ein krabbelndes Gefühl auf meiner Haut.

Ich fröstelte und versuchte es ihn nicht merken zu lassen.

»Nein. Schon okay.«

»Wirst du mir die Liebenswürdigkeit verweigern, die du meinem Bruder erwiesen hast?« Er lächelte hinterhältig.

Ich blickte zu Boden, fühlte mich erschöpft und erschlagen. »Nein. Du kannst mir helfen.«

Bevor ich den Satz zu Ende gebracht hatte, sah ich, wie ein Nebel von ihm zu mir wallte. Darin schimmerte ein leichter, farbiger Staub wie Glitter. Plötzlich entspannten sich meine Muskeln und ich fühlte mich verjüngt. Zwar tat mir noch immer alles weh, als wäre ich einen Marathon gelaufen, aber es war erträglich. Ich ging zum Tisch und stürzte das Wasser hinunter.

Erst als ich auch den allerletzten Tropfen getrunken hatte, kam mir, dass alles Mögliche in dem Glas hätte sein können. Tatsache war, dass ich auch ein Glas Chlor hinuntergekippt hätte, solange es nur flüssig gewesen wäre.

Er beobachtete mich und seufzte. »Es ist immer ein wenig frustrierend, der zweite Prüfer bei einer Grigori-Probe zu sein, aber ich muss sagen, dass sie meistens besser in Form sind als du. Mein Bruder muss wirklich Interesse an dir gezeigt haben.«

Ich dachte an meine Begegnung mit Uri zurück, die nun ein ganzes Leben her zu sein schien, und an die vollkommene Gleichgültigkeit, die er mir gegenüber an den Tag gelegt hatte. »Er schien nicht übermäßig interessiert zu sein.«

»Vielleicht kam dir das nur so vor.« Er ging hinüber zum Tisch und stellte sich auf die andere Seite. Ich musste mich anstrengen, sein Gesicht zu sehen.

»Du bist gekommen, um den zu retten, den du liebst?«, fragte er beiläufig.

»Ja … Nein … Es ist nicht der, den ich liebe, aber ich will ihm helfen.« Ich versuchte, uns beide davon zu überzeugen.

Er machte ts, ts. »Und um wessentwillen kommst du?«

»Um seinetwillen.« Ah, du Dummkopf!

»Bist du dir sicher?« Die Worte stichelten sich ihren Weg durch die Luft, landeten leicht wie Nieselregen und drangen langsam in mich.

Ich dachte über die Frage nach, darüber, wer wirklich in Gefahr war. Es war Lincolns Leben, das ich retten wollte … weil … ich ihn nicht im Stich lassen konnte.

»Um meinetwillen.« Die Erkenntnis versetzte mir einen Stich.

»Sehr gut. Ich bin mir sicher, dass dir mein Bruder gesagt hat, wie stark du wirkst. Hat er dir auch gesagt, wie äußerst schwach du bist?«

Ich lachte kurz auf, aber nur halbherzig. »Da hat er nur das Offensichtliche ausgesprochen, findest du nicht?«

»Ja und nein. Dein momentaner Zustand ist einfach ein körperliches Abbild deiner Stärken und Schwächen. Sie messen sich miteinander in deiner Seele in einer herrlichen Schlacht. Ich frage mich, wer siegen wird … fragst du dich das nicht?«

Ich schluckte und schwieg.

Er kicherte ein wenig. »Es ist eine Situation, mit der wir zu ringen haben, unsere Schar der Verbannten. Ich frage mich manchmal, ob ihr Weg ihnen Erfüllung bringt. Das werde ich wohl nie herausfinden.« Er brachte sein Jackett in Ordnung und zupfte an seinen Ärmeln. Er erinnerte mich an Onyx. »Ich muss zugeben, dass es sehr zufriedenstellend ist, diese materiellen Dinge zu genießen. Gefällt dir mein Anzug?«

Ich war ein bisschen verblüfft. »Ich … ich kann ihn nicht richtig sehen.«

Er seufzte.

»Ja, die Schatten begleiten mich gerne, wenn ich Fleisch werde.« Seine nächsten Worte kamen abrupt. »Wer ist der andere, der Anspruch auf dein Herz und deinen Körper erheben möchte?«

Woher konnte er all das wissen?

»Phoenix.« Meine Stimme überschlug sich.

»Ist er einer von uns?«

Er ist überhaupt nicht wie ihr, wollte ich schreien.

»Er ist ein Verbannter«, sagte ich und legte meine Hände auf den Tisch, um mich aufrecht zu halten.

»Und trotzdem willst du ein Grigori werden? Wirst du ihn preisgeben?«

»Ich will meinen Freund retten. Ich weiß, dass man es mit verbannten Engeln zu tun hat, wenn man ein Grigori wird, und ich akzeptiere das als meine Zukunft. Aber ich habe keinen Grund, Phoenix auszuliefern. Er ist gut und er ist mein Freund.«

»Was, wenn er dir einen Anlass dazu gibt. Wirst du ihn dann ausliefern?«

»Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird.«

»Ich kann sehen, was du nicht siehst.« Er lächelte breit. »Hast du eine Frage an mich, bevor ich dir die Zusage und die Rückkehr nach Hause anbiete?«

Nach Hause? Hatte er nach Hause gesagt?

Mein Kopf wurde leer und ich konnte nicht denken, auch wenn ich wusste, dass ich Fragen hatte. »Uri sagte, er könnte meine Frage nicht beantworten.«

»Er geht einem auf die Nerven, was?«

Ich lächelte ein wenig und stellte ihm dieselbe Frage. »War meine Mutter eine Grigori?«

»Hmm … Evelyn … Sie war eine Grigori mit einem ganz besonderen Auftrag.«

Er machte eine Handbewegung zu den Liegestühlen hin. Ich schüttelte den Kopf.

»Was bedeutet ›besonderer Auftrag‹?«

»Sie hatte nur eine einzige Aufgabe. Sie sollte einen einzigen verbannten Engel zurückschicken, damit er verurteilt werden kann. Mit dieser Mission wurde sie direkt von dem Engel, der sie gemacht hat, betraut. Das kommt sehr selten vor.«

Irgendetwas ging ihm durch den Kopf, während er sprach.

»Sie wusste, woher ihr Engelwesen kam?«

»Ja, ich glaube, sie hat dir sogar ein Schmuckstück von dort hinterlassen.«

Meine Hand wanderte zur Außenseite meiner Hosentasche und fuhr die Umrisse des Amuletts nach.

Er lächelte nur.

»Wen sollte sie zurückschicken?«, fragte ich.

»Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich glaube, der Samen ist gesät … fürs Erste.«

Er ging wieder zu seinem Liegestuhl, lehnte sich zurück, legte die Beine an den Füßen übereinander und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Er sah aus, als würde er sich in seinem Garten entspannen – einem sehr dunklen, trostlosen Garten.

»Wirst du mich nun zurückschicken?« Ich versuchte, so zu tun, als wäre mir das nicht wichtig.

»Natürlich. Nur ein Dolchstoß liegt zwischen dir und der Freiheit.«

»Was?« Furcht pumpte durch mein Herz.

»Nimm den Dolch vom Tisch; er gehört jetzt dir.«

Ich sah auf den Tisch, dort wo das Glas gestanden hatte. Stattdessen lag dort nun ein silberner Dolch.

»Wenn die Gestalt erscheint«, fuhr er fort, »dann gib ihr ein Gesicht und erstich sie mit einem tödlichen Stoß.«

»Ich muss jemanden töten?« Ist er wahnsinnig?

»Das ist nur ein kleines Detail. Eigentlich ist es nur vorgetäuscht – betrachte es als ein Spiel. Natürlich kannst du auch hier bei mir bleiben, wenn du das möchtest.« Er amüsierte sich. Er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und betrachtete den Himmel.

Ich streckte die Hand aus, sie bebte. Einen Finger nach dem anderen schlang ich um den Dolch, dann hielt ich ihn hoch. Der kalte Stahl reagierte mit Wärme auf meine Berührung, als würde er mich erkennen. Ein Schauer rieselte mir über den Rücken und ich zuckte zurück. Der Tisch verschwand und vor mir stand eine Gestalt. Weder Mann noch Frau; eine leere Leinwand, nur eine Silhouette.

Nox hatte gesagt, dass ich ihr ein Gesicht verleihen müsste. Ich fragte mich, ob es jemanden gab, den ich umbringen wollte … Dann stand er vor mir. Meine Hände zitterten vor schierer Angst und Adrenalin.

»Können Sie sprechen?«, fragte ich ihn. Meine Stimme bebte. Ich merkte, dass ich weinte. Er sagte nichts, blieb ruhig, betrachtete mich.

Ich blickte in Nox’ Richtung; er lag noch immer lässig zurückgelehnt in seinem Liegestuhl.

»Gibt es eine andere Möglichkeit?« rief ich ihm zu.

»Keine, die dir gefallen wird«, war alles, was er sagte.

Das war es also. Das musste ich tun, um zurückzukehren. Um ein Grigori zu werden, um meine Kräfte zu erhalten, um Lincoln zu heilen, um zu Phoenix zurückzukehren. Ich umklammerte den Dolch fester, er wog schwer in meiner Hand.

Ich musste den Mann erstechen, der einen Teil meiner Welt zerstört, mir einen Teil meiner Unschuld, meines Vertrauens geraubt hatte, der mich und Gott weiß wie viele andere Mädchen missbraucht hatte. Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu, auf den Lehrer, vor dem ich mich mehr als vor allem anderen gefürchtet hatte. Bis heute. Bis zu diesen Prüfungen, bis ich wusste, dass Lincoln vielleicht sterben würde, bis ich wusste, dass ich vielleicht sterben würde. Ich starrte ihn an und brauchte keinen weiteren Grund mehr. Auch wenn viele andere Kräfte in meinem Leben sich anstrengten, mich zu zerstören, war er der Erste gewesen, der das perfekte Prisma meines Lebens zertrümmert hatte. Ich riss meine Hand zurück, um auszuholen; ich wollte das nur einmal tun müssen. Aber als ich dann die Augen schloss, fand ich mich selbst. Ein Moment schlichter Klarheit nahm mich ganz in Anspruch und meine Entscheidung änderte sich und war gefällt. Ich öffnete die Augen, senkte den Dolch in den Bauch und zog ihn nach oben zum Herzen, so wie ich es bei Griffin gesehen hatte. Erst dann erlaubte ich mir selbst, die ganze Szene in mich aufzunehmen, meinen Blick zu heben und den meines Opfers zu treffen.

Ich starrte mich selbst an.

Ich würde mich ein anderes Mal fragen, ob es Stärke oder Schwäche war, die mich dazu bewogen hatte, dem Opfer ein anderes Gesicht zu geben.

Ich hörte, wie Nox kicherte. »Ein neues Kapitel hat also begonnen.«

Blut ergoss sich auf meine Hände, als ich einmal mehr in mir selbst nach einem Anker suchte und das schwache Schlagen eines Herzens hörte. Dieses Mal war ich mir jedoch nicht sicher, wessen Herz da verzweifelt um sein Leben schlug. Vielleicht war es schon immer der Klang meines eigenen verklingenden Herzens gewesen, den ich gehört hatte.

Ich sah nichts mehr und die Dunkelheit verschluckte mich, ein williges Opfer.